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Titel: Michael Meyen: „Es geht um Definitionsmacht“

Datum: 13. Dezember 2024 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Interviews, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Medienkonzentration, Vermachtung der Medien, Strategien der Meinungsmache
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„Rechercheverbünde wie OCCRP und ICIJ gehören zum Propaganda-Apparat und die Faktenchecker zum Zensurregime“ – das sagt Michael Meyen im Interview mit den NachDenkSeiten. Die NDS haben die aktuellen Entwicklungen zu dem OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project) zum Anlass genommen, über die Hintergründe und die Bedeutung großer Rechercheorganisationen und Faktenchecker zu sprechen. Deutungshoheit und Definitionsmacht – darum geht es, sagt Meyen. „Bis in die 1990er“, so der Kommunikationswissenschaftler, habe es gereicht, „Gegenstimmen aus den großen Zeitungen herauszuhalten und aus dem Rundfunk. Was dort nicht vorkam, hat für den Wähler nicht existiert.“ Durch das Internet habe sich die Situation verändert, und nun stehen Faktenchecker und Rechercheverbünde auf der Bühne. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Herr Meyen, es gibt Faktenchecker und Rechercheverbünde. Und damit verbunden ist auch das eine oder andere Problem, oder?

Michael Meyen: Das haben Sie schön ausgedrückt. Das Problem beginnt schon bei dem Versprechen, das mit den Namen zu uns kommt. Hier die „Wahrheit“, noch einmal extra geprüft, und dort eine Allianz der besten Kräfte, die der Journalismus aufbieten kann, um der Macht Paroli zu bieten und alles ans Tageslicht zu holen, was uns sonst vorenthalten werden würde. Beide Namen sind Nebelkerzen. „Wahrheit gibt es nur zu zweien“, steht über einem Buch mit Briefen von Hannah Arendt. Das heißt: Wir müssen die Interpretationen der Wirklichkeit nebeneinanderstellen und streiten. Und wir müssen verstehen, dass Journalismus auch dann gekapert werden kann, wenn er das Etikett „investigativ“ trägt. Ich würde sogar behaupten, dass dieses Etikett genau deshalb erfunden worden ist. Es adelt den Berufsstand und verschleiert, dass immer ein Leck benötigt wird, um wirklich Brisantes in die Öffentlichkeit zu bringen. Damit kommen die Geheimdienste ins Spiel und andere interessierte Kreise, in Regierungen, Behörden, Konzernen.

Gerade wurde bekannt, dass ein großes internationales Recherchenetzwerk, das auch mit der Süddeutschen Zeitung und dem Spiegel kooperiert hat, Geld von der US-Regierung erhalten haben soll. Es geht um das OCCRP. Was ist das OCCRP genau? Und: Was waren Ihre Gedanken, als Sie von der Nachricht gehört haben?

Mein erster Gedanke ist immer: Warum kommt so etwas gerade jetzt? Die Fragezeichen waren ja sofort da, bei den Panama Papers genauso wie bei den Pandora Papers. Auch die Überbringer spielten damals schon eine Rolle – neben dem Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), um das sich die aktuelle Debatte dreht, seinerzeit vor allem das International Consortium of Investigative Journalism (ICIJ), beide mit Sitz in den USA. Auch hier achte man wieder auf die Namen. Das ICIJ gibt es seit 1997 und das OCCRP seit Mitte der Nullerjahre. Beide entstehen also in einer Zeit, in der klar war, dass es mit dem Internet einen verschärften Kampf um Deutungshoheit geben würde. Seitdem ist ein ganzes Netzwerk solcher Rechercheorganisationen gewachsen, mit einem Kern in den USA und Standbeinen in der gesamten westlichen Welt.

Wenn man weiß, dass das Geld für ICIJ und OCCRP zu weiten Teilen von den großen Stiftungen kommt oder aus irgendwelchen Regierungstöpfen, dann ist klar, wohin die Reise geht. Mit Noam Chomsky gesprochen: Wir haben hier einen neuen Filter, den jede Enthüllung passieren muss, bevor sie dort erscheinen kann, wo Zustimmung für die Herrschenden produziert wird. Zum einen drücken die Verbünde den recherchierenden Einzelkämpfer an die Wand, den es ja in vielen Redaktionen gab und gibt. Und zum anderen bleibt dem potenziellen Whistleblower so oft gar nichts anderes mehr übrig, als sein Glück bei den Großen zu versuchen. Durch die OCCRP-Debatte dürfte jetzt jeder wissen, an wen er sich da eigentlich wendet.

Was hat sich da genau zugetragen? Wie kam es überhaupt zu den Vorwürfen gegen das OCCRP?

Auslöser war ein Bericht auf dem französischen Portal Mediapart, das zusammen mit dem NDR und weiteren Partnern an dem Thema gearbeitet hatte. Mediapart zitiert aus Interviews mit OCCRP-Direktor Drew Sullivan und Spitzenleuten von der USAID, also Washingtons Arm in der großen, weiten Welt, hier getarnt mit dem Namen Entwicklungshilfe. In den Protokollen ist unter anderem von einem „Mitspracherecht“ beim Arbeitsplan die Rede, von einem „Veto-Recht“ bei der Bestellung von „Schlüsselpersonal“ und von verdeckten Geldflüssen bei der OCCRP-Gründung. Die Insider sind da völlig offen und loben zum Beispiel, dass die US-Regierung über das OCCRP bestimmen kann, was die Welt unter Korruption versteht. Es geht um Definitionsmacht, genau wie früher bei Radio Free Europe oder Radio Liberty. Mediapart hat ausgerechnet, dass seit der OCCRP-Gründung mindestens 47 Millionen Dollar von der US-Regierung gekommen sind. Die EU ist mit 1,1 Millionen Dollar dabei, Großbritannien mit sieben und Schweden mit vier Millionen Dollar. Bei einem Regierungsanteil von 70 Prozent am Gesamtbudget der Jahre 2014 bis 2023 kann von Unabhängigkeit keine Rede sein.

Sie erwähnten bereits den NDR. Was hat es mit dem NDR in der Causa OCCRP auf sich?

Der Sender spielt hier eine ambivalente Rolle. Einerseits hat er die Recherche überhaupt erst angestoßen, dann Partner wie Mediapart mit ins Boot geholt und die Zusammenarbeit mit OCCRP beendet, als sich die Befunde abzeichneten. Andererseits ist die Reportage nicht gesendet worden. Mediapart spricht von Zensur in letzter Minute und von Druck durch das OCCRP, also letztlich von der US-Regierung.

Wie betrachten Sie das Verhalten des NDR?

Den Zensurvorwurf hat der Sender ja zurückgewiesen und stattdessen versucht, Staatsgelder für den Journalismus aus dem Bereich des Anrüchigen in die Normalität zu rücken. Das beobachte ich bei vielen Leitmedien, frei nach dem Motto: Was ist schon dabei, wenn die öffentliche Hand in Krisenzeiten den Verteidigern „unserer Demokratie“ ein wenig unter die Arme greift? Vielleicht geht es bei diesem Skandal genau darum: Man gewöhnt das Publikum an eine neue Journalismus-Erzählung, die nicht mehr auf Unabhängigkeit setzt und auch nicht mehr auf Neutralität oder Objektivität, sondern dem Berufsstand erlaubt, ganz offen Partei zu ergreifen für das, was als „gut“ und „richtig“ erkannt wurde. Zu offenen Subventionen ist es von da nur noch ein kleiner Schritt. Zum NDR muss ich wahrscheinlich nicht viel sagen. Wir haben ja hier vor vier Jahren schon besprochen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk fest in der Hand der Politik ist.

Wenn wir nur auf das OCCRP fokussieren, greift die Analyse zu kurz. Die Recherchen zu dem Netzwerk helfen dabei, konkrete Probleme sichtbar zu machen. Aber wir sollten uns auf Grundlegendes konzentrieren, nämlich die Prinzipien, die Mechanismen, die Antriebe, die überhaupt erst dazu führen, dass solche Recherchenetzwerke entstehen bzw. dass sie so agieren, wie sie agieren. Sehen Sie das auch so?

Ja. Es geht um Deutungshoheit. Jede Regierung hat ein Interesse, das zu kontrollieren, was über sie öffentlich gesagt wird. Das gilt völlig unabhängig von der Staatsform. Auch in repräsentativen Demokratien brauche ich zwischen den Wahlen ein Mindestmaß an Legitimation. Also versuche ich, alle Themen zu unterdrücken, die mir Schwierigkeiten machen könnten, oder wenigstens meine Sicht der Dinge zu pushen. Bis in die 1990er war das relativ leicht. Es hat gereicht, Gegenstimmen aus den großen Zeitungen herauszuhalten und aus dem Rundfunk. Was dort nicht vorkam, hat für den Wähler nicht existiert. Die Herausforderung durch das Internet hat eine doppelte Reaktion ausgelöst. Zum einen hat man den staatlichen Propaganda-Apparat erheblich aufgerüstet, und zum anderen wurde ein Zensurregime etabliert, das nicht so heißen darf. Man kann das bei Hannes Hofbauer studieren in seinem Buch „Zensur“ oder in meinem YouTube-Kanal. Rechercheverbünde wie OCCRP oder ICIJ sind hier nur ein Mosaikstein.

Mit welchem „Phänomen“ haben wir es denn da zu tun? Was steckt Ihrer Meinung nach hinter bestimmten „journalistischen“ Netzwerken?

Ich würde mich gar nicht so sehr auf diese Netzwerke konzentrieren, weil da ja spätestens mit den Panama Papers offensichtlich war, was läuft. Wenn man in Deutschland NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung mit an Bord hat, ist die flächendeckende Verbreitung garantiert. Ich hatte damals noch ein Digitalabo der SZ, wo die neueste Ausgabe sonst immer ab 19 Uhr verfügbar war. An diesem Abend musste ich bis 20 Uhr warten, bis zum ersten Gong der Tagesschau. Es wurden Helden geboren, die seitdem von einem Podium zum nächsten gereicht werden und nie fehlen dürfen, wenn es um Glanz und Gloria des Journalismus geht. Julian Assange saß damals schon vier Jahre in der Botschaft von Ecuador in London, weil er das gemacht hat, wofür das Adjektiv „investigativ“ eigentlich steht: Dinge veröffentlichen, die Regierungen mit aller Macht unterdrücken wollen. Geschichten wie die Panama Papers sind da ein wunderbares Ablenkungsmanöver und relativieren zugleich die Kritik an den Leitmedien, die ja schon 2016 massiv war. Ich erlebe das oft bei meinen Vorträgen. Sie mögen ja mit allem recht haben, lieber Herr Meyen, aber was ist mit den Panama Papers?

Ist die Problematik vergleichbar mit den Faktenchecks? Hier geht es ja oft auch nur in eine Richtung – nämlich in Richtung der Herrschaftserzählung.

Rechercheverbünde wie OCCRP und ICIJ gehören zum Propaganda-Apparat und die Faktenchecker zum Zensurregime. Wir haben hier zwei Seiten der gleichen Medaille, die sich nur analytisch trennen lassen. Propaganda will die öffentliche Debatte lenken. Dafür prangere ich zum Beispiel über OCCRP bestimmte Staaten, Politiker oder Konzerne an, lasse andere dabei raus und entscheide außerdem, wann ich „die Bombe“ platzen lasse. Das funktioniert nur, wenn ich es gleichzeitig schaffe, alternative Deutungen zu unterdrücken. Hier kommen die Faktenchecker ins Spiel, im Westen 2015 institutionalisiert im International Fact-Checking Network (IFCN) am Poynter Institute in den USA. Das Geld kam seinerzeit vor allem von Ebay-Gründer Pierre Omidyar.

Der Link zu Geopolitik und Ukraine ist hier genauso offensichtlich wie das Zusammenspiel von Staaten und Digitalkonzernen, die ja auch sonst für das Bermuda-Dreieck stehen, in dem unliebsame Online-Inhalte jederzeit verschwinden können. IFCN-Mitglied Correctiv wurde 2014 mit Geld der Verlegerfamilie Brost gegründet und hat seitdem immer wieder Mittel aus ganz unterschiedlichen Steuer- und Stiftungstöpfen bekommen. Dafür wird Sperrfeuer produziert gegen alles, was die Herrschaftserzählung infrage stellt und gleichzeitig das Potenzial hat, viele Menschen zu erreichen. Rechercheverbünde und Faktenchecker sind aber, das wiederhole ich, nur Puzzlestücke im großen Spiel um Deutungshoheit.

Früher war es üblich, in vielerlei Hinsicht beim Umgang mit Nachrichten und Informationen zu fragen: Wem dienen diese? Wem dient eine veranschlagte Lesart? Wem nutzt eine verbreitete „Wahrheit“? Heute wird bei Fragen dieser Art schnell der Vorwurf „Verschwörungstheorie“ erhoben. Warum ist das so?

Noch so ein Puzzlestück – einer der Kampfbegriffe, die delegitimieren sollen. Wir können das fast beliebig ergänzen. Hass und Hetze, Fake News, Desinformation. Die AfD auf TikTok, der Russe mit seinen Trollfabriken. Die Erzählung, dass die größte Gefahr für „unsere Demokratie“ aus dem Internet kommt, wird immer wieder von ganz oben gefüttert. Es gibt dazu eine ganze Reihe von Merkel- und Scholz-Zitaten. Vor dem November-Lockdown 2020 kam aus dem Mund der Kanzlerin zum Beispiel auch dieser Satz: „Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus.“

Wohin uns diese Reise führen könnte, kann man gerade in Rumänien sehen, wo nach der ersten Runde der Präsidentenwahl sofort von TikTok und russischen Cyberangriffen die Rede war und das Ergebnis dann ja auch mit diesem Argument annulliert wurde. Ein zweiter Weg ist im Digital Services Act der EU vorgezeichnet. Das Besteck für offene Zensur liegt genauso bereit wie entsprechende Kampfansagen. Die Allianz reicht da von US-Demokraten wie Hillary Clinton und John Kerry, die den ersten Verfassungszusatz im Wahlkampf als Hindernis attackiert haben, über Robert Habeck bis zu Yuval Noah Harari, der in seinem Bestseller „Nexus“ alle für naiv erklärt, die glauben, dass möglichst viele Stimmen irgendwann zur Wahrheit führen. Harari sagt klipp und klar: Information ist dafür da, „um Ordnung zu schaffen und die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen“.

Wie sollten kritische Mediennutzer mit Nachrichten von Rechercheverbünden und Faktencheckern umgehen? Wie lässt sich mit den verbreiteten „Informationen“, die vielleicht ideologisch, machtelitär usw. kontaminiert sein können, auf eine Weise umgehen, dass man nicht einer manipulativen Stoßrichtung auf den Leim geht?

Wer bis hierher gelesen hat, ist da ja schon ziemlich weit. Das heißt: Er hat sich nicht von irgendwelchen „Gegneranalysen“ oder sonstigen Diffamierungsversuchen beeindrucken lassen und nutzt weiter Seiten, die von ihrem Publikum finanziert werden und so in der Lage sind, Fragen zu stellen und auf Zusammenhänge oder Interessen hinzuweisen, die in den Leitmedien ausgeblendet werden. Ich weiß natürlich, dass auch die Medien der Gegenöffentlichkeit immer wieder kritisiert werden. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass hier David gegen Goliath kämpft. Auch da ist das Millionen-Budget des OCCRP, genau wie das 100-Köpfe-Team von Correctiv, wieder nur ein Tropfen aus einem riesigen See.

Anmerkung Redaktion/Lesetipp: Michael Meyen hat zusammen mit Antje Meyen die Freie Akademie für Medien & Journalismus gegründet.

Michael Meyen: Cancel Culture: Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören. (WISSEN KOMPAKT) Taschenbuch, Verlag Hintergrund, Osnabrück 2024, 80 Seiten, 10,90 Euro.


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