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Titel: Syrien – Die geopolitischen Folgen des Regime Change
Datum: 12. Dezember 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
In der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 2024 geschah das, womit die allermeisten Beobachter tatsächlich nicht gerechnet hatten: Die syrische Hauptstadt Damaskus fiel an die Islamisten unter Führung der „Haiat Tahrir asch-Scham“ (HTS). Der syrische Präsident Assad floh buchstäblich Hals über Kopf nach Russland. Was war geschehen und was wird dies für geopolitische Konsequenzen haben? Von Alexander Neu
Wenige Tage zuvor, am 27. November 2024, starteten die Islamisten aus der Region Idlib, in der sie seit rund vier Jahren konzentriert in einer Art Pattsituation mit den Regierungstruppen lebten, eine Offensive. Binnen kürzester Zeit fielen die Großstädte Aleppo, Hama, Homs und schließlich Damaskus. Die Dynamik der Offensive war derart intensiv, dass sie am Sonntagfrüh Damaskus ohne nennenswerten Widerstand einnehmen konnten. Das syrische Militär fiel innerhalb weniger Tage geradezu wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Nahezu überall, wo die Islamisten erschienen, zog sich die syrische Armee zurück, teils sogar unter Zurücklassung der Großwaffensysteme wie Hubschrauber, Kampfflugzeuge, Luftabwehrsysteme, Raketenwerfer und Panzer, die nur noch von den vorrückenden Islamisten eingesammelt werden mussten.
Die islamistischen Terrorgruppen haben Syrien wie in einem Spaziergang einnehmen können. Wie all das geschehen konnte, wird sicherlich noch in den nächsten Wochen und Monaten unter verschiedenen Aspekten (politische und militärische Situation) analysiert werden müssen. Diese erfolgreiche Offensive ist umso überraschender, als das die Herrscherfamilie Assad es vermochte, über viele Jahre hinweg den Bürgerkrieg auszusitzen und mit russischer Unterstützung diesen Krieg im Wesentlichen für sich zu gewinnen. Der größte Teil des Staatsgebietes geriet wieder unter die Hoheitsgewalt der syrischen Regierung. Vereinzelt gab es Inseln des islamistischen Widerstandes wie in der Region Idlib oder in durch die US- und türkische Armee besetzten Gebieten – mithin illegale US-Standorte und illegale türkische Präsenzen. Insgesamt aber galt der Bürgerkrieg weitgehend entschieden. Syrien verschwand aus den internationalen Schlagzeilen.
Den damaligen Wendepunkt stellte die Intervention Russlands auf Einladung der syrischen Regierung dar. Ohne diese Intervention wäre der Krieg schon Ende 2015 von den Islamisten mit erheblich ausländischer Unterstützung gewonnen worden. Im Westen wird diese Machtübernahme nun begrüßt. Ob die Situation sich tatsächlich stabilisieren wird oder ob ein Bürgerkrieg um die Macht, die Gebiete und die Ressourcen des Landes nun zwischen den diversen islamistischen Gruppierungen und Rebellen, deren bisweilen einziger gemeinsamer Konsens der Sturz der Assad-Clans gewesen war, an Fahrt aufnimmt und sodann den syrischen Staat zum Kollaps führt, bleibt abzuwarten. Selbst wenn die Staatlichkeit erhalten bliebe und auch eine gewisse Stabilität erreicht werden sollte, bleibt die Frage im Raum, welche Art von Ordnung es geben wird? Eine von Islamisten geschaffene Scharia-Ordnung dürfte, wie bereits schon erklärt, dem multikonfessionellen Zusammenleben nicht unbedingt zuträglich sein. Massaker an und Vertreibungen von Christen, Schiiten, Alawiten, Armeniern, Kurden und systemtreuen Sunniten sind nicht auszuschließen. Die Entwicklungen in Libyen nach dem – ebenfalls von Islamisten in Kooperation mit westlichen Luftangriffen vorangetriebenen – gewaltsamen Sturz von Oberst Gaddafi führten in das totale Chaos, das bis heute nicht überwunden ist.
Insofern verwundert die seitens der Bundesregierung geäußerte freudige Begrüßung des Sturzes von Assad durchaus, wenn nicht klar ist, was danach kommt – insbesondere, wenn die neuen Machthaber übelste Islamisten sind. So ist beispielsweise der neue starke Mann in Damaskus der HTS-Chef Abu Muhammad al Dscholani, der laut Tagesschau.de „enge Bindungen an die Terrororganisation Islamischer Staat hatte, Teil der Nusra-Front, einem syrischen Ableger von al-Kaida war.“ Und weiter: „Die USA setzten ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar auf ihn aus“ – und die Bundesregierung feiert diese Islamistentruppe als Befreier. In der internationalen Politik unterscheide ich nicht zwischen dem infantilen Verständnis von Gut und Böse, sondern im Zweifel zwischen schlecht und schlechter, wenn es um das Schicksal von unschuldigen Menschen geht. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob die neuen, die islamistischen Herrscher nur schlecht oder schlechter im Vergleich zur Assad-Herrschaft für Syrien und die syrische Bevölkerung, vor allem auch mit Blick auf die diversen Minderheiten, sind. Im Zweifel stehen neuen Flüchtlingsmassen vor den Toren Europas und Deutschlands.
Die Auswirkungen dieses unerwarteten Regime Change begrenzen sich nicht allein auf Syrien. Der gesamte Nahe und Mittlere Osten, ja sogar die sich im Umbruch befindliche Weltpolitik wird hiervon tangiert, ist Syrien doch fest in dem Bündnis mit Russland, Iran, Irak und auch Libanon eingebunden gewesen. Im Folgenden sollen die möglichen geostrategischen Auswirklungen skizziert werden.
Russland
Die privilegierten syrisch-russischen Beziehungen reichen in die Zeit des Kalten Krieges zurück. Die damalige Sowjetunion schloss sogar ein Militärabkommen mit Damaskus. Schon seit dieser Zeit unterhält Moskau einen Marinestützpunkt im syrischen Tartus. Mit der Kontrolle über die Krim im Schwarzen Meer und mit dem Marinehafen an der syrischen Mittelmeerküste im östlichen Mittelmeer konnte und kann Russland das östliche Mittelmeer mitkontrollieren – und stellt(e) eine Art Gegenpol zur 6. US-Flotte dar. Mit dem Vormarsch der Islamisten im Jahr 2015 drohte Syrien an diese zu fallen. Damit wäre auch der Marinestützpunkt für Russland verloren gegangen. Auch aus diesem Grunde intervenierte Russland auf Einladung des syrischen Präsidenten Assad. Dass diese Intervention im Gegensatz zur Präsenz westlicher Truppen in Syrien und im syrischen Luftraum völkerrechtskonform gewesen ist, stellte bereits der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages 2015 in einer Studie mit dem Titel „Staatliche Selbstverteidigung gegen Terroristen Völkerrechtliche Bewertung der Terroranschläge von Paris vom 13. November 2015“ fest: Darin heißt es:
„Mit Blick auf den Kampf gegen den ‚IS‘ liegt eine ‚Intervention auf Einladung‘ zugunsten der westlichen Staatengemeinschaft seitens des Iraks vor, nicht aber explizit von Syrien – zumindest solange eine Kooperation des Westens mit dem Assad-Regime abgelehnt wird. (…) Die russischen Kriegshandlungen in Syrien gegen den ‚IS‘ (und die syrischen Rebellen) wird man dagegen als ‚Intervention auf Einladung‘ (des Assad-Regimes) bezeichnen können.
(Quelle: Deutscher Bundestag)
Allerdings verzichtete Russland weitgehend auf eine größere Anzahl von Bodentruppen. Diese sind lediglich im Norden, im Grenzgebiet zur Türkei stationiert oder bewachen die Militärbasen. Russland konzentrierte sich vielmehr auf den Einsatz seiner Luftstreitkräfte zur Bekämpfung der islamistischen Milizen. Die Bodenkämpfe wurden im Wesentlichen von der syrischen Armee und Hilfskräften aus dem Irak und dem Iran geführt. Für den Einsatz der Luftwaffe wurde der Militärflughafen Hmeimim aus dem Boden gestampft. Häufiger kam es hierbei zu Zwischenfällen zwischen den russischen und US-amerikanischen Fliegern im syrischen Luftraum. Beide Militärbasen, der Marine- sowie der Luftwaffenstützpunkt, droht Russland nun zu verlieren. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass Russland sein Personal sowie seine Waffensysteme derweil evakuiert. Das Großmachttrauma, also das fluchtartige Verlassen des besetzten Landes, der USA (Vietnam- und Afghanistankrieg) wiederholt sich offensichtlich für Russland in Syrien, wie auch schon zuvor in Afghanistan.
Natürlich ist es möglich, einen Deal mit den neuen Machthabern anzustreben, aber warum sollten sich die siegreichen Islamisten dazu bereit erklären – sind die Russen doch die Verbündeten Assads gewesen und haben die islamistischen Milizen bekämpft. Nur ein Szenario könnte dafür sprechen: Sollte es einen Deal zwischen der künftigen neuen US-Regierung unter Trump und dem Kreml gegeben haben: Russland lässt Assad fallen, dafür kann Russland die Militärbasen behalten, und die Frage der Ukraine wird weitgehend zu russischen Bedingungen beantwortet werden. Dies wiederrum würde jedoch voraussetzen, dass die USA bei der islamistischen Offensive in einer relevanten Weise eingebunden gewesen wären, sodass sie final die Fäden ziehen, was Washington seinerseits dementiert.
Dieses Szenario halte ich nicht für ausgeschlossen, gleichwohl für weniger wahrscheinlich. Als wahrscheinlicher betrachte ich den Fakt, dass die russischen militärischen Ressourcen weitgehend in der Ukraine gebunden sind. Immer noch kontrollieren ukrainische Kräfte Teile der russischen Region Kursk, was als Indiz für die Prioritätensetzung Moskaus angesehen werden kann. Eine Überdehnung der russischen Fähigkeiten sollte wohl vermieden werden. Und selbst wenn Russland hätte entschieden eingreifen wollen, so hätten Kampftruppen entsendet werden müssen. Die Zeit arbeitete jedoch für die Islamisten, und die russischen Kräfte in einen Bodenkrieg zu entsenden, den die syrische Armee durch Massenkapitulation nicht mehr führen wollte, wäre wenig aussichtsreich gewesen. Russland hat mit dem Fall des Assad-Clans unbestritten eine wichtige Einflusssphäre verloren, womit seine Präsenz im östlichen Mittelmeer erheblich geschwächt sein dürfte. Mit dem Verlust Armeniens im Kaukasus und der NATO-Osterweiterung um Schweden und Finnland ist die geopolitische Landkarte für Russland in Europa und dem Nahen Osten sehr schwierig geworden. Hinzu kommt der massive Reputationsverlust für Russland – das Land ist nicht in der Lage, seinen Verbündeten nachhaltig zu stützen.
Irak, Iran und Libanon
Der Iran verliert mit Syrien einen seiner wichtigsten Verbündeten in der Region. Syrien spielte für den Iran eine außerordentlich wichtige Rolle: zum einen als Zugang zum östlichen Mittelmeer, der nunmehr versperrt sein dürfte, und zum anderen als Aufmarschgebiet und Drohkulisse gegenüber Israel. Für Israel stellt Syrien nun neben Jordanien einen weiteren Pufferstaat dar. Auch die Unterstützung der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon dürfte für den Iran eine massive Einschränkung erfahren, ist doch der Landweg nun blockiert. Die proiranischen Kräfte im Irak, die auch in Syrien an der Seite Assads standen, verlieren ebenfalls einen wichtigen Verbündeten. Der Irak grenzt nun, sollten sich die syrischen Islamisten gegen den Irak in Stellung bringen, an einen Feindstaat. Die lange syrisch-irakische Grenze ist schwer zu kontrollieren und somit das Einsickern islamistischer Kräfte schwierig zu verhindern. Das Wiedererwachen auch des IS in Syrien und im Irak ist nicht auszuschließen.
Der von israelischen Angriffen Krieg geplagte Libanon ist nun eingekeilt zwischen Israel im Süden, dem Mittelmeer im Westen und einem potenziell feindlichen Syrien.
Israel
Israel dürfte neben der Türkei auf den ersten Blick einer der Gewinner des Regime Change in Damaskus sein – zumindest kurzfristig. Wie bereits oben erwähnt, fällt Syrien als iranischer Vorposten weg. Syrien ist massiv geschwächt und würde im Falle eines Bürgerkrieges sogar Gefahr laufen, zum failed state zu degenerieren – mithin also kein ernsthafter Akteur mehr in der Region sein. Die Okkupationen syrischen Staatsgebietes wie der Golanhöhen und der Schebaa-Farmen werden sich verstetigen. Israel könnte mit dem Ende des Assad-Staates und der Schwächung des Libanons seine dominante Rolle in der Region ausbauen. Für die Palästinenser dürfte diese Entwicklung einen weiteren Rückschlag bedeuten. Jedoch scheint auch Israel die Gefahr islamistischer Fanatiker auf syrischer Seite richtig einzuschätzen, denn schon jetzt bombardiert die israelische Luftwaffe Munitionslager und Waffensysteme, um zu verhindern, dass diese in die Hände der neuen Scharia-Machthaber fallen. Assad war ein berechenbarer Gegner, die Islamisten sind es nicht.
Türkei
Die Türkei spielte in Syrien von Beginn der Krise, also seit 2011, eine wichtige Rolle. Die türkische Führung wendete sich schnell gegen den Assad-Staat und unterstützte die islamistischen Kräfte gegen den Assad-Clan, um einerseits gegen die syrischen Kurden vorgehen zu können, aber auch, um syrisches Territorium zu okkupieren. Der Norden Syriens sowie der Nordosten stehen faktisch unter türkischer Kontrolle. Es war die Türkei, die sich als Schutzmacht im Nordwesten Syriens, in der Region Idlib für die HTS engagierte und somit die Keimzelle für die islamistische Offensive absicherte. Es war die Türkei, die islamistischen Kämpfern im Süden des Landes im grenznahen Bereich Rückzugsgebiete einräumte und in türkischen Krankenhäusern diese wieder kampffähig pflegte. Auch dürften die Türkei und ihre islamistischen Schergen sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, die Kurdenfrage auf ihre Weise zu lösen – und Europa wird verschämt wegschauen, hatte man doch trotz klarer Faktenlage geglaubt, die neuen Machthaber seien eigentlich die Guten. Russland ist den Absichten der Türkei wiederholt auf den Leim gegangen, was wahrscheinlich auch zu einer Neubewertung des türkisch-russischen Verhältnis führen dürfte. Recep Erdogan erweist sich im Falle Syrien als auch insgesamt nicht nur für Russland, sondern auch für den Westen als unberechenbarer Partner. Er sucht das Beste für die Türkei aus beiden Welten – bislang recht erfolgreich.
USA
Die Rolle der USA in der erfolgreichen islamistischen Offensive ist noch unklar. Klar hingegen ist, dass die USA die territoriale Integrität und Souveränität Syriens massiv verletz(t)en, die Hoheitsgewalt des syrischen Assad-Staates im Osten und Südosten des Landes untergruben, sich das dortige Erdöl illegalerweise bis heute aneignen und so die Widerstandskraft Syriens dauerhaft schwächten. Nicht zuletzt der frühere und künftige US-Präsident Donald Trump prahlte mit der illegalen Enteignung energetischer Rohstoffe Syriens: „Ich habe die Truppen zurückgelassen, um das Öl zu holen“.
Ungeachtet dessen, ob die USA in der Offensive eine Rolle spielten oder nicht: Ihr Ziel, den Sturz Assads, haben sie erreicht – und ganz nebenbei auch das Ende des geopolitischen Rivalen in Syrien und dem Nahen Osten, Russland.
Ob sie es nun wollen oder gar vermögen, die diversen islamistischen Gruppierungen zu steuern, zu disziplinieren und somit ein zweites Libyen zu verhindern, werden die nächsten Wochen zeigen. Jedenfalls zeigt sich der künftige US-Präsident, wohl im Gegensatz zu seinem deep state, eher skeptisch hinsichtlich eines US-Engagements in Syrien: „Und die Vereinigten Staaten sollten nichts damit zu tun haben. Dies ist nicht unser Kampf. Lassen wir ihn sich ausspielen. Mischen sie sich nicht ein“. Der letzte Satz dürfte an die Noch-Biden-Regierung adressiert sein. Trumps Ansage insgesamt könnte für die syrischen Kurden einem Todesurteil nahekommen.
Europa
Die Freude der politischen Entscheider in Europa über den Sieg der Islamisten könnte recht bald in Ernüchterung umschlagen, wenn Exzesse an den konfessionellen Minderheiten stattfinden, wenn christliche Symbole und Kirchen zerstört werden, wenn möglicherweise neue Flüchtlingsströme vor den Toren Europas und Deutschlands stehen. Dann taucht die ablenkende Frage auf: Wie konnte das geschehen? Oder, es konnte ja niemand ahnen, dass … Diesen Ausflüchten muss widersprochen werden. Es ist ja eben nicht so, als hätte man eine solche Entwicklung nicht vorhersehen können. Dieses naive, ja geradezu infantile politische Verständnis, gerade und auch besonders nach den Erfahrungen in Libyen, ist erschreckend. Jedenfalls sehe ich Europa nicht als Gewinner dieser neuesten Entwicklung im Nahen Osten.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass in dem gegenwärtigem Weltneuordnungskrieg dem Regime-Change in Syrien eine nicht unbedeutende Rolle zu kommt. Und das ungeachtet dessen, ob der Machtwechsel dazu führt, dass Syrien in das westliche Lager wechselt oder im Chaos enden wird. Entscheidend ist, dass die eine Seite einen wichtigen Verbündeten im Nahen Osten verloren hat, was im geopolitischen Nullsummenspiel einen regionalen Sieg der Gegenseite bedeutet.
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