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Titel: Einfach nicht wegzukriegen – in Stuttgart trotzt ein Bahngelände dem Zugriff durch Spekulanten
Datum: 7. Dezember 2024 um 13:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Stuttgart 21, Verkehrspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Die Bundesregierung hat ein Gesetz beschlossen, das die exzessive Bebauung von Bahnflächen verhindert, die im Sinne der Verkehrswende noch gebraucht werden. Prompt feuert die Union dagegen und verlangt die Wiederherstellung der alten (Un-)Ordnung. Konkret geht es um Stuttgart 21 und Pläne für ein monströses Immobilienprojekt im Herzen der Stadt. Dafür kämpfen vor Ort ausgerechnet die Grünen. Die waren früher gegen S21 und gegen Gigantismus. Jetzt finden sie beides prima. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die Wahrheit kann manchmal so erfrischend sein, wenngleich sie oft zu spät kommt. „Mir ging’s aber nur drum, wenn der Sackbahnhof wegkommt, dass dann Stuttgart 125 Hektar Land kriegt im Zentrum.“ Gesagt hat das der frühere Chef der Deutschen Bahn (DB), Heinz Dürr, der als Vater von Stuttgart 21 gilt. So freimütig sprach er allerdings erst 2022, mit dem Buch- und Drehbuchautor Klaus Gietinger, der ihn für seine Dokumentation „Das Trojanische Pferd“ interviewen durfte. „Trojanisches Pferd“ deshalb, weil S21 ein „vergiftetes Geschenk“ sei, wie der Bildhauer Peter Lenk, der geistige Urheber des Titels, es einmal ausdrückte. Oder anders: Man hat der Stadt und den Menschen für womöglich 20 Milliarden Euro als „tolle Eisenbahn“ verkauft, was in Wirklichkeit eine Goldgrube für Immobilienspekulanten werden soll.
Oder müsste es inzwischen heißen: sollte? Dass aus dem schönen Traum etwas wird, erscheint nämlich mehr denn je ungewiss. Nicht nur, weil es bei der ganzen Unternehmung planerisch und bautechnisch mächtig klemmt, man schon sechs Jahre im Verzug ist und sich die ursprünglich veranschlagten Kosten am Ende mithin um den Faktor zehn aufgebläht haben werden. Ja, auch diese Hängepartie geht den Machern gehörig gegen den Strich. Aber das alles wäre noch irgendwie verkraftbar, weil doch irgendwann einmal bewältigt, gäbe es da nicht diese noch höhere Hürde: die herrschende Rechtslage. Denn die besagt neuerdings ziemlich klipp und klar, dass eine Bebauung der Fläche, wo sich heute noch ein Kopfbahnhof und weitläufige Gleisanlagen befinden, gar nicht möglich wäre.
AEG: Aus, Ende, Gestorben
Wie das? Vor rund einem Jahr trat eine Neufassung des Paragrafen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) in Kraft. Die entscheidende Änderung lautet: „Der Bahnbetriebszweck eines Grundstücks, das Betriebsanlage einer Eisenbahn ist oder auf dem sich eine Betriebsanlage einer Eisenbahn befindet, liegt im überragenden öffentlichen Interesse und dient der Aufrechterhaltung sowie der Weiterentwicklung der Eisenbahninfrastruktur im Rahmen der kurz-, mittel- oder langfristig prognostizierbaren zweckentsprechenden Nutzung.“ Woraus folgt: Freistellungen von Eisenbahnflächen aus einem anderen als bahnbetrieblichen Interesse sind auf Antrag nur mehr zu genehmigen, sofern dieses das „überragende öffentliche Interesse überwiegt“. Und Wohnungsbau gilt nach verbreiteter Rechtsauffassung gerade nicht als ein solcher Zweck.
Dumm gelaufen, denn schon 2001 hatte die Stadt der DB das ganze Areal für 460 Millionen Euro mit dem Ziel abgekauft, dort ein komplett neues Stadtviertel hochzuziehen – das sogenannte Rosensteinquartier, mit Tausenden Wohnungen und Renditen der Sorte Wolkenkuckucksheim. Dafür müsste aber zunächst einmal alles unter die Erde, was heute noch oben ist. Und so legte man los, einen Bahnhof und sämtliche Zulaufstrecken zu verbuddeln, um später alles, was über Tage an Eisenbahnanlagen übrig bleibt, plattzumachen. Für Ex-DB-Frontmann Dürr war der geplante Kahlschlag kein großes Ding, wie er 1998, ein Jahr nach seinem Ausscheiden, in einem Filmbeitrag bekannte. Darin klagt er über die „unendlichen Gleisanlagen“ und „ungeheuer vielen Weichen“ im Vorfeld des Hauptbahnhofs, die man „in einer modernen Eisenbahn“ gar nicht brauche.
Dürrer Sachverstand
So kann man sich irren. Denn Bewegungsfreiheit ist genau das, was eine „moderne Eisenbahn“ so nötig braucht wie ein Baum Wasser. Andernfalls gerät er so „dürr“ wie der Sachverstand von Bahn-Führern der Sorte Johannes Ludewig, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube. Oder eben Dürr, zu dem Kontext: Wochenzeitung vor zwei Jahren festhielt, er habe „gar nie den Eindruck erwecken (wollen), dass ihm der Bahnverkehr besonders am Herzen liege, geschweige denn, dass er viel davon verstehe“. Für sämtliche seiner Amtsnachfolger galt und gilt das nicht minder, weshalb die deutsche Schieneninfrastruktur heute, verglichen mit früher, einem Torso gleicht. Zum Beispiel wurden innerhalb von 30 Jahren mehr als 5.000 Streckenkilometer, 67.000 Weichen und fast 9.000 industrielle Gleisanschlüsse aus dem Verkehr gezogen. Und diese ganzen Flächen hat die DB veräußert – für den Bau von Wohn- und Gewerbegebieten, Straßen und Fabriken.
Die Initiative „Bürgerbahn“ hat dieser Tage den Finger in die Wunde gelegt: Weil es zu wenig Abstell- und Ausweichkapazität im Netz gebe, „fahren inzwischen in vielen Regionen nachts leere Geisterzüge durchs Land, weil sie an ihren Start- und Endbahnhöfen keine Abstellplätze finden und es keine nah gelegenen Betriebshöfe und Reinigungskapazitäten mehr gibt“, und weiter: „Viel zu oft haben die immobilienwirtschaftlichen Interessen der Bahn die verkehrlichen Entwicklungen behindert.“ Die Praxis folgte der Linie, kurzfristig die Bilanzen aufzuhübschen, und hat letztlich wesentlich dazu beigetragen, dass ein Bahnbetrieb vielerorts gar nicht mehr möglich ist. Auf den Punkt brachte dies am Montag Dirk Flege vom Verein „Allianz pro Schiene“ bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestags: „Wo einmal eine Umgehungsstraße oder ein Haus auf einer ehemaligen Bahntrasse gebaut wurde, kann in Zukunft kein Zug mehr fahren.“
Gutes Ampel-Gesetz – aus Versehen
Recht hat er, und recht hatten die Bundesregierung und der Bundestag, das Recht entsprechend zu schärfen. Aber hatten die Entscheider auch auf dem Schirm, damit ganz nebenbei dem S21-Immotraumschloss buchstäblich den Boden zu entziehen? Eher nicht, und es mehren sich Vorwürfe, die Ampel sei mit der Novelle übers Ziel hinausgeschossen. Am lautesten wettert die CDU-/CSU-Fraktion, die bereits Mitte Oktober einen Gesetzentwurf „zur Änderung der Freistellungsvoraussetzungen“ von Paragraf 23 ins Parlament eingebracht hat, der quasi die alte Ordnung wiederherstellen soll. Um ebendiese Vorlage ging es bei der Befragung von Sachverständigen zu Wochenanfang im Bundestag. Dort machten die Antragssteller ihrem Unmut darüber Luft, dass das zuständige Eisenbahnbundesamt (EBA) seit Inkrafttreten der Bestimmung Freistellungsanträge für nicht mehr betriebene Bahnflächen in über 150 Fällen zurückgewiesen habe. Passend dazu befragte der Südwestrundfunk (SWR) das EBA nach dessen Rechtsauslegung, mit dem Ergebnis: „Bebauungen wie Wohnprojekte sind auf ehemaligen Gleisflächen nicht mehr ohne Weiteres möglich.“
Als einem der Ersten dämmerte das im Juli Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU). Die Idee von S21 – für ihn eine „Jahrhundertchance“ – werde qua Gesetz verunmöglicht, moniert er. Gegen den, wie er meint, unzulässigen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung hat der Stuttgarter Gemeinderat laut SWR prompt eine Verfassungsklage erhoben. 2013, damals noch als Fraktionschef der Grünen, war auch Peter Pätzold Gemeinderatsmitglied. In einem Video gab er damals seiner Hoffnung Ausdruck, dass dem Antrag auf Entwidmung von Bahnflächen im Herzen der Stadt „höchstwahrscheinlich nicht stattgegeben“ und das Kalkül, „blühende Landschaften“ zu bekommen, nicht aufgehen werde. Dazu hatte er eigens ein Gutachten des Eisenbahnrechtlers Urs Kramer in Auftrag gegeben. Wohlgemerkt fand Pätzold das alles prima, und man sollte meinen, dass ihm die Jahre später erfolgte Verschärfung des AEG gefallen muss.
Grüner Wendehals
Aber Zeiten ändern sich. Am Montag trat Pätzold, mittlerweile Stuttgarter Baubürgermeister, als von der Union geladener Experte mit der Mission auf, die Vorschrift wieder zu kippen. Damit würden „wichtige Planungen und Wohnungsbauprojekte in deutschen Zentren wie etwa derer [sic] für das Jahrhundertprojekt Stuttgart Rosenstein verhindert“, gab ihn die Pressestelle des Bundestags wieder. Tatsächlich wurde auch besagter Bahnfachmann Kramer befragt, als von den Grünen Geladener, die ja nun irgendwie ihr eigenes Gesetz gegen die Attacke der Schwarzen verteidigen müssen. Kramer bekräftige im Wesentlichen seine Sichtweise, schränkte aber ein, es gebe „kein absolutes Entwidmungsverbot“. Im Kontext von S21 beharrte er jedoch darauf, dass der bloße Bau von Wohnungen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen ohne zusätzliche Umstände, die ein „überragendes öffentliches Interesse“ begründen, nicht ausreiche.
Überhaupt stellten im Verkehrsausschuss diejenigen Sachverständigen die Mehrheit, die sich im Grundsatz für die Beibehaltung der Neuregelung aussprechen. Mit Paragraph 23 sei „ein entscheidender eisenbahnrechtlicher Rahmen geschaffen für eine Trendumkehr der bisherigen Bahnpolitik Richtung Verkehrswende“, erklärte für das „Aktionsbündnis gegen S21“ Werner Sauerborn, der ebenfalls im Bundestag angehört wurde. Bei den Aktivisten ist man gezügelt optimistisch, dass dies „voraussichtlich das Ende des Rosensteinquartiers bedeutet“, wie Sprecher Martin Poguntke in einer Medienmitteilung ausführte. Realitätsverweigerung sei „keine Option mehr“, und „dass viele ambitionierte Architekten und ein zum Schluss 20-köpfiges Team der Stadtverwaltung vermutlich 20 Jahre umsonst gearbeitet haben, haben sich die Verantwortlichen selbst zuzuschreiben“. Das Ganze erinnere stark an die „nicht abgesicherten Autobahnmautpläne“ des ehemaligen CSU-Verkehrsministers Andreas Scheuer, die die Steuerzahler eine Viertelmilliarde Euro kosteten.
Merz der Baumeister
Bei Stuttgart 21 steht sehr viel mehr auf dem Spiel, nicht nur in puncto Geld. Eine weitgehend funktionierende Bahninfrastruktur in die Erde zu verpressen, bringt nicht nur massive Kapazitätseinbußen, sondern auch erhebliche Gefahren für Leib und Leben, Stichwort Brandschutz. Um künftig überhaupt so etwas wie einen halbwegs geregelten Bahnverkehr möglich zu machen, setzen die Verantwortlichen auf weitere milliardenschwere „Ergänzungsprojekte“, mit völlig ungewissem Ausgang. Dabei brauchte es zur Abwendung eines Totaldesasters vor allem eines: Platz. Den gibt es um den Sackbahnhof herum genügend oder, wie es Sauerborn vom Aktionsbündnis ausdrückte: „Die Kopfbahnhofgleise sind bahnbetrieblich unverzichtbar.“
Es bleibt abzuwarten, wie die Sache ausgeht. Wobei man das Ungemach förmlich kommen sieht. Mit einem Kanzler Friedrich Merz (CDU) könnte Paragraph 23 bald schon wieder Geschichte sein. Zum Rosenstein-Richtfest kommt er bestimmt mit BlackRock-Kumpels.
Titelbild: Frank Gaertner/shutterstock.com
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