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Titel: Ukraine: „Das ist kein Stellvertreter“ – taktisches Missverstehen oder Begriffsstutzigkeit?

Datum: 4. Dezember 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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„Das ist kein Stellvertreter“ – das schreibt der Politikwissenschaftler Thomas Jäger in einem Tweet auf der Plattform X. Er bezieht sich mit seiner Aussage auf den Krieg in der Ukraine, und er hinterlässt Ratlosigkeit. Muss man denn wirklich einem Politikwissenschaftler erklären, dass wir es in der Ukraine mit einem Stellvertreterkrieg zu tun haben? Von Marcus Klöckner.

Bei dem Krieg in der Ukraine handelt sich um einen Stellvertreterkrieg. Das hat der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson vergangene Woche gesagt. Natürlich wird der Krieg in der Ukraine nicht allein dadurch zu einem Stellvertreterkrieg, weil ein Mann wie Johnson es sagt. Die Einlassungen Johnsons untermauern aber das Offensichtliche. Und Johnson ist als Hardliner in Sachen Russlandpolitik bekannt. Ihm kann also keine Putin-Nähe vorgeworfen werden. Das macht die Aussage noch eindringlicher.

Doch es hilft alles nichts. Noch immer streiten einige das Offensichtliche ab.

Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger schreibt auf der Plattform X, dass es in der Ukraine keinen Stellvertreterkrieg gibt. Als Reaktion auf einen Tweet vom Autor dieses Beitrags äußert sich Jäger mit folgenden Worten:

Freilich erinnere ich mich. Ich weiß immer noch nicht, wen Russland vertritt, außer sich selbst. Das ist kein Stellvertreter. Dass die USA ihrem “Stellvertreter” zu wenig Waffen und Munition liefern, um sie zu vertreten, macht auch keinen Sinn. Ergo: es gibt keine Stellvertreter.

Vielleicht ist es angebracht, Jäger zu diesen Zeilen zu gratulieren. Schließlich hat er es vollbracht, innerhalb von drei Zeilen einen Abgrund auszuleuchten. Wer sehen möchte, wie politikwissenschaftliche Realitätsverkennung aussieht: Hier wird sie anschaulich.

Andererseits ist in Sachen Gratulation vielleicht doch Zurückhaltung angebracht. Beim Lesen des Jäger-Tweets stellt sich nämlich ein eigenartiges Gefühl ein. Das Gefühl lässt sich als „Täuschung“ bezeichnen.

Wer will schon einem Professor für Politikwissenschaften abkaufen, dass er an dieser Stelle ernsthaft meint, was er schreibt? Im Gegenteil: Man möchte Jäger regelrecht wünschen, dass er, sagen wir: taktisch missversteht – aus welchen Gründen auch immer. Das wäre, gewiss, ärgerlich. Schließlich geht es um sehr viel. Die NATO und Russland stehen in Konfrontationsstellung. Der dritte Weltkrieg ist so nah, wie er wohl noch nie war. Und in der Ukraine sind Hunderttausende Soldaten tot, verstümmelt und traumatisiert. In einer derartigen Situation ist die Politikwissenschaft gefragt. In einer derartigen Situation müssen Politikwissenschaftler die Realität so präzise, wie es überhaupt nur geht, erfassen. Sie müssen unbequem sein – vor allem auch im Hinblick auf vorherrschende Erzählungen der Macht.

Jäger sollte also den Stellvertreterkrieg als Stellvertreterkrieg bezeichnen. Doch auch wenn der Gedanke bizarr ist: Was wäre, wenn hier ein Politikwissenschaftler tatsächlich nicht erkennt, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelt?

Vielleicht wäre es dann angebracht, ihm im Detail die Zusammenhänge zu erklären – etwa wie folgt:

  1. Der Westen (USA) nutzt die Ukraine als eine Art Rammbock gegen den Erzfeind Russland. Das heißt: Die Ukrainer sind der Stellvertreter für den Westen.
  2. Russland hat zunächst die Separatisten als Stellvertreter genutzt (wenn auch in stark abgeschwächter Form).
  3. Ab dem 24. Februar: offener Kriegseintritt Russlands.
  4. Von nun an: einseitig geprägter Stellvertreterkrieg des Westens.
  5. Zu wenig Waffenlieferungen an Stellvertreter Ukraine ergeben unter Berücksichtigung (!) angestrebter Ziele Sinn.
  6. Ist das Ziel die Zerstörung Russlands (was im Hinblick auf nukleare Eskalationsmöglichkeiten usw. kaum realistisch ist)? Oder ist das Ziel die Schwächung des Landes (auch im Hinblick auf ein zukünftiges weiteres Vorgehen – militärisch, wirtschaftlich, politisch usw.)?
  7. Grundlagen Stellvertreterkrieg. Der Stellvertreter wird an der „Leine“ geführt. Die Akteure im Hintergrund bestimmen über die Länge der Leine. Kurze Leine: geringer Bewegungsradius. Lange Leine: langer Bewegungsradius.
  8. Die Länge der Leine hängt von der Kraft des Gegners ab. Wird die Leine sehr lang gelassen, besteht die Möglichkeit, dass der Stellvertreter von einem erheblich stärkeren Gegner „aufgefressen“ bzw. zerrieben wird.
  9. Die Unterstützer der Ukraine könnten, wenn sie wollten, jederzeit die Leine länger lassen. Sie könnten, wenn sie wollten, jederzeit der Ukraine „die eine Hand auf dem Rücken“ lösen. Sie könnten der Ukraine sogar Atomwaffen zur Verfügung stellen und deren Einsatz genehmigen.
  10. Das Resultat wäre aber im Hinblick auf eine Eskalation des Krieges weitreichend. Die Länder, die den Stellvertreter führen, würden selbst direkt in den Krieg gezogen werden, gegebenenfalls sogar in einen offenen Nuklearkrieg – samt der damit einhergehenden Eigendynamiken.
  11. Der Westen unterstützt die Ukraine nicht aus purer Barmherzigkeit und christlicher Nächstenliebe. Massive eigene geostrategische und tiefenpolitische Ziele und Interessen sind erkennbar. Sie spiegeln sich im Stellvertreterkrieg wider.

Diese grob skizzierte Darstellung muss eigentlich jedem Politikwissenschaftler klar sein. Das kann gar nicht anders sein. So, wie ein Bäcker die Zutaten eines Brotes kennt, so, wie ein Koch ein Schnitzel von einem Gemüsebratling unterscheiden kann, so muss – eigentlich – ein Politikwissenschaftler in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg erkennen. Uneigentlich ist da aber: Thomas Jäger.

Nun soll an dieser Stelle gar nicht weiter darauf eingegangen werden, warum manche noch immer einen Stellvertreterkrieg nicht als Stellvertreterkrieg bezeichnen. Es gibt ja auch keine Pflicht zum richtigen Verstehen. Vielleicht wäre es dann aber besser, sich aus der politischen Diskussion zum Ukraine-Krieg rauszuhalten.

Titelbild: Screenshot Phoenix


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