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Titel: „Die Krankenhausreform ist der Versuch, das totgerittene Pferd Krankenhaus als sektorale Einrichtung nochmal fit zu spritzen“
Datum: 5. November 2024 um 9:08 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Gesundheitspolitik, Interviews
Verantwortlich: Redaktion
Professor Matthias Schrappe, Gesundheitsexperte des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), spricht im Interview mit den NachDenkSeiten über die Gründe des Krankenhaussterbens, finanzielle Anreize zur Verbesserung der Kooperation im Gesundheitswesen sowie die Kritik an der Krankenhausreform des Gesundheitsministers Karl Lauterbach. Das Interview führte Karsten Montag.
Karsten Montag: Herr Professor Schrappe, Sie sind Internist und waren Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Marburg. Außerdem arbeiteten Sie als Dekan und wissenschaftlicher Geschäftsführer der Universität Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitätsklinik und Direktor des Instituts Patientensicherheit der Universität Bonn. Seit Mai 2024 sind Sie Mitglied des BSW und fungieren dort als Gesundheitsexperte. Wie kam es dazu, dass Sie sich einer so jungen Partei angeschlossen haben?
Matthias Schrappe: Ich sehe die Chance, in dieser neuen Partei Vorstellungen zu formulieren und eventuell auch umzusetzen, die dem aktuellen Entwicklungsstand im Gesundheitswesen in Deutschland entsprechen. Das sind Vorstellungen – ich war ja auch im Sachverständigenrat Gesundheit –, über die wir schon seit 20 Jahren in Deutschland sprechen, die aber bis jetzt nicht konsequent angegangen werden. Es geht insbesondere um die starke Sektorierung und die Kooperationsschwierigkeiten im Gesundheitswesen. Und in einer neuen Partei, wo auch eine gewisse inhaltliche Offenheit besteht, sehe ich und sah ich die Möglichkeit, hier mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen neue Inhalte auf die Beine zu stellen.
Warum gerade das BSW?
Ich war bis jetzt nie in einer Partei, aber würde mich schon als Linken bezeichnen. Im Übrigen bin ich staatlich geprüfter Pazifist, also ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer. Und ich bin auch, im Gegensatz zu vielen anderen, diesen Grundsätzen, die ich mir mühsam erkämpft habe in früheren Jahren – als ich noch jung war – treu geblieben.
Dann komme ich jetzt zum eigentlichen Thema, zum Krankenhaussterben und zur Krankenhausreform. Die durchschnittliche Anzahl der Verweildauer im Krankenhaus ist zwischen 1991 und 2018 von 14 auf sieben Tage zurückgegangen. Seitdem ist kein weiterer Rückgang mehr feststellbar. Die jährliche Anzahl der Patienten ist von 14,5 Millionen im Jahr 1991 auf 19,5 Millionen im Jahr 2019 angestiegen. Seit 2020 schwankt sie um 17 Millionen. Wenn die durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus zurückgeht und die Anzahl der Patienten nicht im gleichen Maß steigt oder sogar zurückgeht, führt das unweigerlich zu Überkapazitäten. Ist deren Abbau nicht eine logische Folge?
Ja, das ist eine Kernfrage. Zunächst muss man langfristige und kurzfristige Entwicklungen unterscheiden. Seit 1993, als die Fallpauschalierung – Stichwort Seehofer-Gesetzgebung – mit den Sonderentgelten und Fallpauschalen begann, lag die Verweildauer tatsächlich noch bei zwei Wochen. Als das Gesundheitsfinanzierungsgesetz im Jahr 1972 verabschiedet wurde, da lag sie sogar noch bei drei Wochen. Im Übrigen waren damals die Patienten noch einverstanden, wenn man ihnen vor dem Wochenende sagte, sie müssten bis nächsten Dienstag im Krankenhaus bleiben. Denn montags durfte man sie nicht entlassen, das haben die Krankenkassen nicht abgenommen. Also, die Patienten haben sich auch geändert. Und so sind wir den Weg gegangen, den alle Gesundheitswesen in der entwickelten Welt, außer Japan, in der Vergangenheit gegangen sind. Wir haben – auch unterstützt durch die moderne Medizin, durch neue Techniken – die Verweildauer deutlich gekürzt. Gleichzeitig ist es aber in dem von Ihnen genannten Zeitraum zu einem deutlichen Anstieg von ungefähr einem Drittel der Fälle gekommen. Das darf man auch nicht vergessen. So haben zwar in diesen zurückliegenden 30 Jahren Krankenhäuser zugemacht, aber nicht in dem Maße, in dem man das ohne den Fallzahlenanstieg hätte erwarten müssen.
Dagegen muss man die kurzfristige Entwicklung halten, sie ist wirklich außerordentlich erstaunlich. Da laufen derzeit auch Forschungen, denn das ist noch nicht völlig entschlüsselt. Klar, als Corona kam, hat es eine regelrechte Furcht vor Krankenhäusern gegeben. Man hat dort Situationen mit Ansteckungsrisiko vermutet, nicht ganz unberechtigterweise – siehe Bergamo, wo die Nichtbeachtung der Krankenhaushygienepläne dazu geführt hat, dass die Krankenhäuser regelrechte Hotspots wurden und zur Verbreitung maßgeblich beigetragen haben. In der Folge ist es dann in Deutschland zu paradoxen Vergütungsvereinbarungen gekommen. Man hat leer stehende Patientenbetten regelrecht belohnt – 560 Euro für ein leer stehendes Bett. Da brauchte man auch kein Personal vorhalten, nicht heizen und kein Essen bereitstellen. Und man brauchte sich auch nicht mit einem neuen Patienten abgeben. Deswegen haben die Krankenhäuser in sehr hoher Zahl das Bettenangebot zurückgefahren. Daraufhin kam es natürlich auch deswegen zu einer deutlichen Abnahme der Fallzahlen. Knapp 20 Millionen pro Jahr waren es vorher, und jetzt sind wir zwischen 16 und 17 Millionen. Und jetzt kommt die interessante Frage, warum das nach Beendigung der Corona-Epidemie so geblieben ist. Man hätte ja erwartet, dass die Fallzahlen wieder ansteigen. Da sind Elemente des derzeitig diskutierten Strukturwandels zu sehen. Man hat die Krankenhäuser heruntergefahren, und man hat politisch nicht viel getan, sie wieder hochzufahren, weil die Abnahme der Fallzahlen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach und seiner Kommission erwünscht war. Sie waren immer der Meinung, es gibt zu viele Krankenhäuser in Deutschland.
Außerdem ist es reine angewandte Betriebswirtschaft. Ich habe ja selbst Krankenhäuser geleitet. Im Krankenhaus hat man weitestgehend mit sogenannten sprungfixen Kosten zu tun. Das heißt, wenn Sie eine Station zumachen, dann benötigen Sie entsprechend weniger Personal, Heizenergie, Essen und so weiter – Kosten, die sofort wieder zu 100 Prozent anfallen, wenn Sie einen einzigen Patienten auf der geschlossenen Station aufnehmen. Also lassen Sie die Station zu. Diese Tendenz ist zwar betriebswirtschaftlich vernünftig, ob sie aber dem Behandlungsbedarf in der Fläche entspricht, ist eine völlig andere Frage. Das sind Dinge, die dazu beigetragen haben, dass sich die Fallzahlen auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert haben.
Ich habe an den Prozedur-Codes der Krankenhausabrechnungsdaten ablesen können, dass insbesondere bei den Diagnosemaßnahmen ein deutlicher Rückgang während der Corona-Zeit und auch danach festzustellen ist. Offenbar nehmen die Menschen weniger Vorsorgeuntersuchungen wahr.
Es gibt auch andere Entwicklungen, zum Beispiel bei Schlaganfällen und Herzinfarkten. Das sind Fälle, die nicht elektiv auftreten. Das heißt, sie treten auf, ohne dass man sie verhindern kann. Auch da haben wir bislang nicht ganz entschlüsselte Rückgänge. Es kann einfach sein, dass die Barriere, ein Krankenhaus aufzusuchen, höher geworden ist. Das ist sicherlich unter Corona der Fall gewesen. Die Frage ist, warum es jetzt immer noch so ist. Da muss man sich dann mit der Frage beschäftigen, ob wir eine Unterversorgung haben und die Patienten keine Termine mehr bekommen – nicht nur im ambulanten, sondern auch im stationären Bereich, weil die Kliniken Notfallaufnahmen schließen und weniger zugänglich sind.
Inwieweit ist die Privatisierung von Krankenhäusern verantwortlich für die Schließungen?
Die ist erst einmal gar nicht dafür verantwortlich. Die privaten Krankenhausträger sind aber ein Profiteur der Entwicklung der neuen Gesetzgebung. Sie verfügen über ungefähr 40 Prozent der deutschen Krankenhäuser. Das ist aber nicht über alle Krankenhausklassen gleich verteilt, sondern sie halten vor allen Dingen kleine Krankenhäuser, häufig auf dem Land, wo die Quote bei über 50 Prozent liegt. Da werden jetzt in der Krankenhausgesetzgebung, im KHVVG [Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz], das aktuell vom Bundestag, aber noch nicht vom Bundesrat beschlossen worden ist, Angebote gemacht, die für die privaten Träger sehr interessant sind. Das sind insbesondere sektorübergreifende Versorgungszentren nach Paragraf 115 g, die letztendlich für kapitalstarke private Träger die Chance für die Errichtung von regionalen integrierten Versorgungsmonopolen ermöglichen. Dadurch können diese dort nicht nur die ganze Versorgung beherrschen, sondern auch die Preise machen. Insofern ist das schon mit der Privatisierungsfrage verbunden. Aber man kann nicht sagen, dass die privaten Krankenhausträger darauf gedrungen hätten, Krankenhäuser zu schließen. Ganz im Gegenteil, private Träger konzentrieren sich auf Elektiv-Eingriffe, die gut steuerbar sind und die man auch in der Menge steigern kann. Insofern waren sie schon sehr zufrieden mit den bisherigen Zuständen.
Was zeichnet diese Versorgungszentren aus? Sind sie eher im ländlichen Bereich zu finden, und welche Leistungen decken sie ab?
Das sind die sogenannten Level 1i Krankenhäuser. Sie sollen eher basale Versorgung sicherstellen, was ja auch in solchen Regionen, die dünn besiedelt sind, besser als nichts ist. Die haben einen stärkeren Fokus auf pflegerische Maßnahmen. Nehmen Sie einfach einmal das Beispiel von einem älteren Herrn, der im Hochsommer seine Medikamente weiter nimmt, aber nicht genug Flüssigkeit zu sich nimmt. Der kommt dann in eine medikamentenbedingte Benommenheit und muss im Krankenhaus mit Flüssigkeit versorgt werden. Das ist jetzt nicht unbedingt eine Maßnahme, bei der der Oberarzt kommen muss, sondern da kann man auch mit Pflegekräften sehr viel bewirken. Solche kurzzeitigen Aufnahmen sollen in den Versorgungszentren geleistet werden. Was jetzt aber hinzukommt, ist mit dem Begriff „sektorübergreifend“ beschrieben. Damit ist gemeint, dass der ambulante Bereich im Krankenhaus tätig werden kann und das Krankenhaus im ambulanten Bereich tätig werden kann. Das ist sehr gut. Allerdings wird das im KHVVG, in dieser großen Krankenhausreform, als purer Appell an die Kooperationsbereitschaft der Player, also ambulanter Bereich, stationärer Bereich, Pflegebereich, Apotheke und so weiter, formuliert und hat keine eigene finanzielle Absicherung, kein eigenes Budget. Wenn sich die regionalen Partner nicht verstehen und auch die Bürgermeisterin nicht dafür sorgen kann, dass für ihre Kommunen nun endlich eine, wenn auch nur basale, Versorgung aufgebaut wird, dann funktioniert das auch nicht. Denn die einzelnen Bereiche (ambulant, stationär etc.) müssen sich einerseits in ihren sektoralen Budgets bewegen, auf der anderen Seite mit dem Nachbarsektor kooperieren, was sie bis jetzt nie getan haben – trotz aller Versuche der Gesundheitspolitik, das zu bewirken –, denn sie haben bisher nur auf ihr eigenes Budget geschaut. Es ist außerordentlich fragwürdig, aus meiner Sicht sogar ausgeschlossen, dass das jetzt klappen wird.
Sie stellen also eine Konkurrenz zwischen ambulanter und stationärer Versorgung in Deutschland fest. Wie ist es zu dieser Konkurrenz gekommen?
Diese Konkurrenz ist durch das Gesundheitsstrukturgesetz 1993 entstanden. Das war der große Kompromiss 1992 zwischen SPD und CDU/CSU („Lahnstein“). Um bessere Transparenz zu schaffen, hat man damals die beiden großen Sektoren, ambulante Versorgung und stationäre Versorgung, getrennt und ihnen eigene Sektoren und eine eigene Finanzierung zugewiesen. Das ist damals nicht ganz dumm gewesen, muss man ganz klar sagen, weil vorher in diesem großen unübersichtlichen Konglomerat der Finanzströme kein Mensch mehr durchgeblickt hat. Im stationären Bereich wurden damals bereits die ersten Fallpauschalen für bestimmte Operationen eingeführt. Das war eine kleine Revolution. So hat man zumindest für kleine Teile des operativen Bereichs mehr Transparenz gewonnen. Auch die DRGs [Diagnosis Related Groups; deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen] haben ja als Hauptfunktion diese Transparenz. Wenn man eine Integration zwischen den Sektoren haben will, muss man ja erst einmal wissen, was in den Sektoren überhaupt passiert. Diese Entwicklung wurde dann durch die DRGs beschleunigt, ist allerdings nie weitergeführt worden. Man hat zwar Transparenz gewonnen, weil man heute weiß, was im Krankenhaus gemacht wird und auch im ambulanten Bereich. Aber die Player optimieren ihre sektoralen Budgets lediglich, weil sie keinen Grund haben zu kooperieren. Jede Abgabe eines Niedrig-Risiko-Patienten an den Nachbarsektor bedeutet, dass man sich selbst Erlösmöglichkeiten nimmt und sie dem angrenzenden Sektor gibt. Das macht natürlich niemand gerne. Die komplizierten Patienten werden hingegen sehr gerne in den Nachbarsektor verschoben, weiter ins Pflegeheim, weiter in die Rehabilitation und so weiter. Man hat Mitte der Nullerjahre mit dem Ende der Amtszeit von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verpasst, das DRG-System weiterzuentwickeln, sodass wir heute nur noch die Nebenwirkung dieses Systems sehen, aber nicht mehr – Stichwort Transparenzsteigerung – dessen etwaigen Vorteil. Man hätte also viel früher anfangen müssen mit Überlegungen, wie man eine Integration der Sektoren, eine integrierte, regionale und populationsbezogene Versorgung ansteuert.
Um was genau konkurrieren die Sektoren? Könnten Sie die Konkurrenz an einem konkreten Beispiel erläutern?
Die Krankenhäuser wollen Fälle, am besten Patienten, die schnell operiert werden können, die jung sind und keine Begleiterkrankungen haben – während sie bei Patienten mit multiplen Begleiterkrankungen und Risikofaktoren oft draufzahlen. Dann haben die Krankenhäuser von den DRG etwas übrig. Im ambulanten Bereich ist es genauso, die sind ja auch budgetiert, fallbezogen. Die wollen jetzt nicht noch komplizierte Untersuchungen machen, sondern wenn der Patient Bauchschmerzen und Probleme mit der Galle hat, dann kommt er ins Krankenhaus. Wir haben in Deutschland ganz klassisch Probleme mit bestimmten antibiotikaresistenten Krankenhauserregern, MRSA beispielsweise. In den Niederlanden wird das kooperativ angegangen. Jeder sorgt für das Gesamtsystem und macht die Tests auf MRSA, bevor ins Krankenhaus geschickt wird, während bei uns – Ausnahmen bestätigen die Regel – die Testung einfach unterlassen wird. Wenn der Patient dann ins Krankenhaus kommt, können die ja gucken, ob er beispielsweise MRSA an der offenen Beinwunde hat. Wir haben einfach von den Finanzierungsströmen her keinen Anreiz, für den Nachbarsektor mitzudenken. Das ist der Grund, warum unser Gesundheitssystem keine guten Ergebnisse bringt und so teuer ist.
Und wie lassen Sie diese beiden Sektoren jetzt integrieren?
Was ich jetzt sage, ist keine BSW-Position. Allerdings vertrete ich persönlich auch in meiner Funktion im BSW die Meinung, dass man die Situation nur bereinigen kann, indem man hoch innovativen, integrativen Konzepten und Projekten, die es in der Fläche gibt, einen verbrieften Anspruch auf eine eigene Finanzierungssäule bereitstellt. Es gibt ja in der Fläche Bestrebungen, die Gesundheitsversorgung beispielsweise einer Region oder einer Versichertenpopulation in Ballungsgebieten zu integrieren, weil die Verantwortlichen dies verstanden haben. Allerdings basiert das dann immer auf Einzelvereinbarungen. Die halten manchmal nur von 12 Uhr bis mittags. Wenn die handelnden Personen (also zum Beispiel Krankenkassenvertreter, Krankenhausleiter und Chefärzte, kommunale Vertreter) weggehen oder in eine andere Region umziehen, dann bricht das häufig zusammen. Deswegen brauchen diese Konzepte, sowohl regionale als auch versicherungspopulationsbezogene Konzepte, einen verbrieften Anspruch auf Finanzierung. Diesen Schritt ist bis jetzt keine Partei gegangen, obwohl alle Experten, die etwas davon verstehen, schon lange darauf hinweisen, dass es ohne das nicht gehen wird. Durch gutes Zureden allein wird es nicht funktionieren. Wir brauchen also eine dritte Finanzierungssäule, die im Sozialgesetzbuch gleichberechtigt neben der ambulanten, der stationären und der pflegerischen Versorgung steht. Da müssen dann gewisse Grundsätze erfüllt sein. Wenn eine solche Versorgungseinheit jedoch Eintritt in das System findet, dann sollte diese das Anrecht auf eine eigene Vergütungslogik haben und sich in dem Sinne frei entfalten können.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für eine Versorgungseinheit, welche die Bedingungen für eine dritte Finanzierungssäule erfüllen würde?
Nehmen wir das Beispiel eines Krankenhauses in einer nicht so stark besiedelten Region, das aufgrund des Einzugsbereichs nicht in der Lage ist, hoch spezialisierte Leistungen anzubieten, wohl aber eine Grundversorgung mit einer kleinen Intensivstation sowie Behandlungsmöglichkeiten von Herzinfarkt und Schlaganfall auf einem guten Niveau. Wenn das Krankenhaus sich jetzt mit der örtlichen kassenärztlichen Vereinigung zusammensetzt, mit den ambulanten Versorgern, mit den Pflegediensten, mit der Politik, die ja auch ein Interesse daran hat, die Bevölkerung adäquat zu versorgen, und alle ein gemeinsames Budget haben, werden sie sich gut überlegen, ob man beispielsweise eine Leistenbruchoperation bei einem relativ gesunden, mittelalten Mann ambulant oder stationär durchführt. Heute würde die Logik sagen, das kann nur stationär gemacht werden, dauert nur einen Tag, und das Krankenhaus bekommt die Pauschale. In einem anderen System würde man sagen, wir essen alle aus einem Topf. Das heißt, wir überlegen uns, ob das nicht doch einfach ambulant zu machen wäre. Und das Krankenhaus macht die Fälle von Leistenbruchoperationen mit schweren Begleiterkrankungen, bei Patienten beispielsweise mit schwer einstellbarem Zucker, mit bereits zwei Herzinfarkten oder anderen Risikofaktoren, die ambulant nicht gut zu behandeln sind. Diese Überlegungen würden in so einem integrierten Geschehen natürlich zum Nutzen aller angestellt werden.
Ist diese dritte Finanzierungssäule der ökonomische Anreiz, der die Sektoren zur Integration zwingt?
Das ist kein Zwang, sondern eine befreiende Möglichkeit. Denn man muss ganz klar sagen, keiner ist zurzeit zufrieden. Ambulant tätige Ärzte ächzen darunter, dass sie mit ihrem Budget nicht auskommen und dass es so schwierig ist, sich auf die Patienten zu konzentrieren, bei denen es gerade ambulant machbar ist. Der stationäre Sektor ist damit beschäftigt, Fälle zu akquirieren. Da wissen die Ärzte doch auch, dass viele Fälle auch ambulant hätten operiert werden können. Aber sie müssen das machen, und das ist ein ökonomischer Zwang. Ein drittes Budget einzuführen, würde stattdessen heißen, dass man sich viel freier bewegen kann. Man kann sich die Patienten angucken und sagen, der muss im Krankenhaus operiert werden, der kann ambulant operiert werden, der braucht eine anschließende Pflege, der braucht keine anschließende Pflege und so weiter. Und man muss halt mit dem Gesamtbudget hinkommen und darf auch nicht zu stark sparen. Das sind dann nachgeordnete Fragen. Insofern ist das kein Zwang, sondern das ist die Lösung.
Es geht also darum, eine Finanzierung bereitzustellen, damit für jeden Fall die angemessene Behandlung gewählt wird.
… ohne die sektoralen Egoismen zu bedienen. Das ist der Punkt.
Was genau kritisieren Sie an der Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Lauterbach?
Die Krankenhausreform ist der Versuch, das totgerittene Pferd Krankenhaus als sektorale Einrichtung nochmal fit zu spritzen. Es ist ein nochmaliger verzweifelter Versuch, den Fängen der sektoralen Optimierung zu entkommen. Aber da diesem Entwurf jegliche Weitsicht und jeglicher glaubwürdige Ansatz hinsichtlich der Integration fehlt, kann man diesem Gesetz kein fachlich positives Urteil geben. Letztendlich ist es bezogen auf die Entwicklungsnotwendigkeit unseres Gesundheitswesens eine Kapitulation: riesige Vorschriften, dirigistisch bis zum geht nicht mehr. Die Entscheidungen sollen alle letztendlich in der Friedrichstraße in Berlin Mitte im Gesundheitsministerium gefällt werden – mit zahllosen Details gegen den Rat aller Beteiligten. Alle Beteiligten sprechen sich dagegen aus. Natürlich sind manche jetzt ein bisschen eingeknickt und wollen es sich nicht noch weiter mit dem Gesundheitsminister verderben. Aber gegen sämtlichen Rat wird da ein verzweifelter Versuch unternommen, die Situation noch ein einziges Mal zu retten, ohne eine grundsätzliche Lösung anzugehen. Die Bundesländer sind jetzt in einer schwierigen Situation. Das wird noch interessant, weil sie für die Investitionen im Krankenhausbereich zuständig sind, und sie haben diese in den letzten 20, 30 Jahren schleifen lassen. Es sind riesige Rückstände aufgelaufen. Die Krankenhäuser sind marode. Der Bund hat nur die Verbrauchskosten, die direkten Behandlungskosten beizutragen. Die Investitionen müssen von den Ländern kommen, deswegen sind sie jetzt in einer Zwangslage. Ich gebe nicht so viel Hoffnung darauf, dass sie das Gesetz im Bundesrat stoppen, weil sie vor einem riesigen Berg nicht eingegangener Verpflichtungen stehen.
Die Krankenhausreform sieht eine Vorhaltepauschale für Krankenhäuser in ländlichen Regionen vor, die nicht nach dem DRG abgerechnet werden müssen. Was würden Sie daran anders haben wollen?
Eine der größten Nebenwirkungen des DRG-Systems ist der Mengenanreiz. Das heißt, je mehr man mit derselben Personalmannschaft leistet, desto mehr bleibt von der Fallpauschale übrig. Das nennt man Mengenanreiz: mehr Fälle mit demselben Personal mit denselben Betten zu behandeln, also statt 100, 101 oder 110 Fälle. Dieser Mengenanreiz soll durch dieses Gesetz, so steht es in der Begründung, relativiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Vorhaltepauschalen bekommen sie nur, wenn sie für jede Leistungsgruppe bis jetzt nicht bekannte Mindestmengen erreichen. Das heißt, was werden die Krankenhäuser machen? Sie werden weiter in die Menge gehen, damit sie in den Leistungsgruppen berechtigt werden, das Vorhaltebudget einzustreichen. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt, der mindestens genauso wichtig ist, ist, dass die Krankenhäuser gezwungen sind, aus den laufenden Kosten aus dem DRG ihre Geräte zu kaufen und ihre dringendst notwendigen Investitionen irgendwie zu finanzieren, weil die Bundesländer ihren Investitionsverpflichtungen nicht nachgekommen sind. Nun, 40 Prozent der Finanzierung wird ja weiterhin mit DRGs gemacht. Das heißt, dieser Anreiz, Mittel für Investitionsentscheidungen zu generieren, wird jetzt konzentriert auf 40 Prozent der Finanzierung. Unterm Strich muss man daher sagen, dass eines der Hauptziele, nämlich den Mengenanreiz zu bekämpfen, in diesem Gesetz in das Gegenteil verkehrt wird.
Wenn Sie jetzt an der Stelle von Herrn Lauterbach wären, was würden Sie anders machen?
Ich würde erst mal diese Reform zurücknehmen, da gibt es gar keine Frage; und die vielen Paragrafen streichen, denn die stellen selbst für Spezialisten ein nicht mehr zu durchdringendes Konvolut dar. Das Zweite ist, dass das Gesundheitssystem seit Bismarck korporatistisch organisiert ist. Zu meinen, man könnte das aus der Friedrichstraße in Berlin von oben mal eben so alles drehen, ist eine Illusion, die man nur müde belächeln kann. Ich würde mich mit den Beteiligten hinsetzen, um zu besprechen, wie man die Richtung des Gesundheitssystems hin zu einer mehr integrierten Versorgung ändern kann. Das muss finanziell unterfüttert werden. Man muss da bestimmte Probleme lösen. Es ist beispielsweise ein Unterschied, ob man Integration in einer gering besiedelten Region fördern will – in Nordhessen oder in Mecklenburg-Vorpommern – oder in Oberhausen mitten im Ruhrgebiet. Im Ruhrgebiet macht es keinen Sinn, geografisch zu sagen, von der Straße X bis Straße Y machen wir jetzt Integration. In Nordhessen könnte man schon sagen, da konzentrieren wir uns jetzt auf einen regional bestimmten integrativen Ansatz. Solche Fragen sind zu klären. Was macht man in Oberhausen oder in anderen dicht besiedelten Gebieten, wie zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet? Da bietet sich zum Beispiel an, über die Zugehörigkeit zu Versicherungen zu arbeiten. Solche Fragen müssen dann geklärt werden. Die sind hoch schwierig. Wir haben im Sachverständigenrat schon viele Konzepte vorliegen. Die muss man dann überhaupt erst mal zur Kenntnis nehmen und in Richtung einer mehr integrativen Finanzierung und Steuerung des Gesundheitswesens arbeiten.
Sie haben Herrn Lauterbach in einem Interview einen „Sonnenkönig-Komplex“ vorgeworfen. Sie würden einen partizipativeren Ansatz bevorzugen. Sie würden also mit den Beteiligten an einem Konzept arbeiten wollen. Die Beteiligten sind dann die Krankenhäuser, die Krankenkassen, wer noch?
Die Pflegeeinrichtungen, die Sozialträger. Gesundheit ist ja nicht eine Sache, die an der Krankenhaustür stehen bleibt. Alle, die beteiligt sind, müssen einbezogen werden, bis hin zur Arbeitsmedizin, Gesundheitsämter, öffentliche Gesundheitsversorger. Es geht auch nicht nur ums miteinander Reden. Man muss schon Grundsatzentscheidungen treffen, zum Beispiel zu regionalen und populationsbezogenen Versorgungsbudgets. Aber es ist eine Illusion, zu glauben, man könnte ein so entwickeltes und differenziertes Gebiet – eines der größten Politikfelder überhaupt, die es in Deutschland gibt – einfach so von oben herab gestalten. Im Gesundheitswesen arbeiten in Deutschland zehn Prozent aller Beschäftigten, und es werden eine halbe Billion Euro pro Jahr umgesetzt. Das mal eben so von oben herab neu zu organisieren, das klappt nicht. Das kann man nur mit guten Konzepten mit den Beteiligten zusammen machen, das ist völlig klar. Das wäre ungefähr so, als wenn ich als Krankenhausleiter den Beschäftigten sagen würde, wir marschieren jetzt alle rechtsrum oder linksrum, und vertraue darauf, dass alle das so gehorsam machen. Die machen das für uns eine Sekunde lang, aber von da an nicht mehr. Das anders zu sehen, ist vormodernes Denken. Man muss schon alle überzeugen und mitnehmen, von unten kommt die Kraft.
Die Kosten der derzeit beschlossenen Krankenhausreform von 50 Milliarden Euro sollen zur Hälfte aus Steuergeldern und zur anderen Hälfte von den gesetzlich Krankenversicherten finanziert werden. Warum hat man die Privatversicherten herausgenommen, und wird dies nicht unweigerlich zu höheren Belastungen bei den Beiträgen führen?
Natürlich, das ist ja nur ein Punkt. Wir haben ja in einem großen Umfang im Gesundheitswesen eine Zweckentfremdung der Sozialversicherungsfinanzen. Bei den Bürgergeldempfängern müsste eigentlich der Bund im vollen Umfang die Gesundheitsversorgung übernehmen. Es handelt sich um neun Milliarden Euro, die da fehlen, weil der Bund nur einen kleinen Teil davon übernimmt. Der Rest wird von den Krankenkassen getragen. Und in diesem Fall, also der Krankenhausreform, geht es um 50 Milliarden für den Transformationsfonds, und es ist nun mal nicht die Aufgabe von Krankenkassen und den Versicherten, Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren. Man könnte dann genauso sagen, wir nehmen Versichertengelder, um die Wohnungsnot zu bekämpfen. Auch das wäre nicht richtig. Das wird ja auch mit Sicherheit verfassungsrechtlich geprüft werden. Diesem Punkt, zusammen mit der Verantwortung von Bundesländern für die Krankenhausversorgung, räume ich persönlich einen großen Stellenwert und große Erfolgsaussichten ein, denn da werden Milliarden aus dafür nicht zuständigen Budgets genommen, aus dem Bereich der gesetzlichen Krankenkassen. Der Erhalt, der Aufbau und der Umbau von Infrastruktur ist nicht Versicherungsaufgabe, sondern öffentliche Steueraufgabe.
Und wieso hat man die Privatversicherten da nicht mit hineingenommen?
Dass die Privatversicherten nicht mitzahlen sollen, das ist natürlich ein Geschenk an die Besserbegüterten. Auch die Beamten gehören dazu. Das zeigt nur, dass es sich eigentlich um eine versteckte Steuer handelt, die von den gesetzlich Krankenversicherten, das heißt von den nicht so Begüterten unserer Gesellschaft, exklusiv getragen werden soll.
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