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Titel: Wissing sagt es erstmals offen: Alle sollen ins Digitale gezwungen und ihrer Privatsphäre beraubt werden
Datum: 3. November 2024 um 15:00 Uhr
Rubrik: Überwachung, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Lobbyismus und politische Korruption
Verantwortlich: Redaktion
Bisher konnte man es nur an ihren Taten ablesen, nun hat Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing (FDP) es ausgesprochen. Die Regierung setzt auf Digitalzwang, will Datenschutz und Privatsphäre hintanstellen und den Bürgern die Möglichkeiten nehmen, auf nichtdigitale Angebote auszuweichen. Aus „digital first“ soll „digital only“ werden, das erklärte Ziel: mehr Daten für die Digitalunternehmen. Dass Berlin das so rücksichtslos vorantreibt, hat einen geostrategischen Hintergrund. Von Norbert Häring.
Es ist ein Maß für die Verlotterung unseres Gemeinwesens, dass ein Minister das, was so übertrieben und zugespitzt klingt, offen sagen kann, ohne dass ein Sturm der Entrüstung ihn hinwegrafft. Wissing sagte aus Anlass der Veröffentlichung des „2. Fortschrittsbericht zur Digitalstrategie der Bundesregierung“ am 18. Oktober laut einer Pressemitteilung seines Ministeriums:
„Millionenfach nutzen Bürger neue digitale Angebote wie Deutschlandticket, Bund-ID oder E-Rezept. Es ist an der Zeit, jetzt aus der Digitalstrategie eine ‚Digital-only‘-Strategie zu machen. Wir müssen analoge Parallelstrukturen konsequent abbauen und auf komplett digitale Prozesse setzen. Dies ist nicht nur effizienter und spart Kosten, sondern verbessert die Datenverfügbarkeit. Nur wenn wir ein volldigitales Land werden, können wir Deutschland zu einem führenden KI-Standort entwickeln und unsere Position im internationalen Wettbewerb stärken.“
Entsprechend preist Wissing auch die digitalen Zwangsmaßnahmen der Regierung und insbesondere seines Ministeriums als Erfolge:
„Über 13 Millionen Menschen nutzen das digitale Deutschlandticket – bequem auf dem Smartphone oder als Smartcard.
Seit 9. Juni 2024 wird die BahnCard ausschließlich digital angeboten. Das spart 30 Tonnen Plastik pro Jahr.
Die digitale Fahrzeugzulassung hat die Millionenmarke geknackt. Über 1,5 Millionen Mal haben Autofahrer mit i-Kfz Zeit und bares Geld gespart. Die Gebühren für Zulassung, Halterwechsel oder Abmeldung sind online um bis zu 70 Prozent niedriger als am Schalter.“
Viel deutlicher kann man kaum machen, dass es bei der Digitalisierungsstrategie der Regierung nicht auf die Bedürfnisse der Bürger ankommt, sondern die Datengier der Konzerne und der Regierung befriedigt werden soll. Und bist Du nicht willig (digital zu werden), so brauch ich Gewalt, lautet die Devise. Entsprechend kommen Privatsphäre, Freiwilligkeit und Datenschutz im Fortschrittsbericht gar nicht und in der Digitalstrategie nur in wenigen floskelhaften Nebenbemerkungen vor. Denn zum „gewinnbringenden Einsatz“ von Daten gehört laut Digitalstrategie, die Verfügbarkeit von Daten zu verbessern und „neue rechtliche Regelungen für eine moderne und chancenfokussierte Datenökonomie“ zu schaffen. „Chancenfokussiert“ heißt, dass man sich auf die möglichen Vorteile konzentriert und Nachteile wie den Verlust von Privatsphäre und Kontrolle über die eigenen Daten klaglos hinnimmt. Eine andere Umschreibung dafür ist, dass „Daten besser kombinierbar und damit für alle besser nutzbar sein“ sollen und „Schluss mit isolierten Dateninseln“ sein soll.
Mit kaum zu überbietender Hartleibigkeit schreibt das Ministerium: „Wir wollen im Digitalen allen Menschen die gleichen Chancen geben.“ – und zwar nur im Digitalen. Wer sich nicht im Digitalen bewegen kann oder will, der bekommt auch nicht die gleichen Chancen und soll sie auch nicht bekommen. Bestenfalls wird ihm Hilfe bei der digitalen Vernetzung angeboten. Millionen Bürger werden genötigt, das Deutschlandticket in der Datenkraken-App der Bahn auf einem Smartphone zu nutzen und ihre Mobilitätsdaten der Bahn und den mitschneidenden US-Digitalkonzernen offenzulegen. Proteste sehr vieler Verbände werden einfach ignoriert. Unter Smartphone-Zwang gesetzt, werden die meisten Nutzer von Studenten-Semestertickets, ja sogar zehnjährige Schulkinder und die Kunden von Bahn und Verkehrsverbünden, die keine Alternative zum Digitalticket anbieten. Wer kein hinreichend modernes Smartphone hat, wird von den Angeboten ausgeschlossen.
Behörden nutzen den Vorwand der serviceorientierten Digitalisierung, um sich gegenüber den Bürgern abzuschotten. Wer kein modernes Smartphone hat, kann seine mit dem teilstaatlichen DHL-Konzern versandten Sendungen oft nicht mehr in Empfang nehmen. Dagegen wurde zwar eigens das Postgesetz geändert, aber DHL darf die Vorschriften darin straflos ignorieren. Viele Messegesellschaften schaffen die Tageskassen ab und zwingen Besucher zum Datenstriptease.
Der extreme Energiehunger von KI-Anwendungen wird an keiner Stelle angesprochen. Aber läppische 30 Tonnen weniger Plastik im Jahr sollen ein Grund sein, Millionen BahnCard-Abonnenten aufs Smartphone und in die DB-Navigator-App zu zwingen? Zum Vergleich: Das entspricht etwa den Verpackungsabfällen aus Plastik, die auf 850 Personen in der EU pro Jahr entfallen. Wissing hält uns für Idioten.
Bei der elektronischen Patientenakte und beim E-Rezept wird ebenfalls auf Zwangsbeglückung gesetzt. Letztere wurde zum Muss, Erstere wird im Opt-Out-Verfahren eingeführt, bei dem alle die Akte bekommen, die nicht ausdrücklich und auf Eigeninitiative widersprechen. Sonst hätten sie absehbar sehr wenige in Auftrag gegeben. Bei der elektronischen Ausweisfunktion wurde die Möglichkeit, darauf zu verzichten, gleich ganz abgeschafft.
Überall beseitigen Ämter und Verkehrsbetriebe die Möglichkeit der Barzahlung und nötigen die Bürger, ihre Daten den Finanz- und IT-Konzernen zu überantworten. Konsequenter Abbau von analogen Parallelstrukturen nennt sich dieser „Fortschritt“. Dem Fortschrittsbericht kann man den Grund dafür entnehmen, dass so viele Verkehrsbetriebe die Barzahlungsmöglichkeit abschaffen oder reduzieren. Wissings Ministerium lässt Fördergelder springen, wenn man das tut:
„Ein neuer Förderaufruf zur Digitalisierung kommunaler Verkehrssysteme wurde durchgeführt. Ziel ist es, bestehende Verkehrsinfrastrukturen durch intelligente Technologien zu verbessern und multimodale Mobilitätslösungen zu fördern, z. B. durch innovative Informations- und Ticketdienste.“
Sogar die an Nicht-Intelligenz (NI) kaum zu übertreffenden neuen Förderrichtlinien der „KI-Leuchttürme für Umwelt, Klima, Natur und Ressourcen“, über die ich bei deren Einführung berichtet habe, werden im Fortschrittsbericht als Erfolge der Digitalstrategie angeführt.
Der geostrategische Hintergrund
Wenn eine Regierung derart entschlossen eine Agenda gegen die Wünsche der eigenen Bürger verfolgt, sind in der Regel Gewinninteressen der Konzerne und in besonders krassen Fällen militärische und geostrategische Ziele ausschlaggebend. Beides dürfte hier der Fall sein. Das Interesse der großen Datenkraken wie Microsoft, Google, Apple, Paypal und Visa an all unseren Daten ist offenkundig. Dass die Bundesregierung nicht die Vorteile für ausländische Konzerne, sondern die Vorteile für deutsche Digital-Start-ups in den Vordergrund stellt, versteht sich von selbst. Aber diese sind relativ zu ersteren vernachlässigbar, zumal erfolgreiche Start-Ups ohnehin von den Großkonzernen aufgekauft oder verdrängt werden.
Doch es geht nicht nur um Macht und Gewinne der bei uns überaus einflussreichen US-Großkonzerne. In den USA haben seit 2018 zwei Kommissionen unter Leitung des ehemaligen Google-Vorstandschefs Eric Schmidt eine geostrategische Frage höchster Wichtigkeit für die USA untersucht: Wie kann man verhindern, dass China den USA in nächster Zeit bei Digitaltechnologie und Künstlicher Intelligenz den Rang abläuft und den USA dadurch unweigerlich die wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft in der Welt entreißt. Die Antwort der National Security Commission on AI, oder kurz NSCAI (Kommission zur nationalen Sicherheit in Bezug auf KI), und des Special Competitive Studies Project (SCSP) lautet: Dass China am Überholen ist, liegt daran, dass in China nichtdigitale Infrastrukturen relativ schlecht ausgebaut sind, an geringem Datenschutz und an der engen Zusammenarbeit von Regierung und Konzernen bei der Bereitstellung und Nutzung von Daten der Bürger und Unternehmen.
Die Gegenstrategie lautet, von China zu lernen. Zwischen den Zeilen, aber deutlich, konnte man in den Berichten lesen, dass analoge Alternativen abzubauen sind, Datenschutz zu ignorieren und die Zusammenarbeit der Regierung mit den Digitalkonzernen zu intensivieren ist. Um die Aktivitäten in dieser Richtung mit den US-Alliierten abzustimmen, also u.a. mit unserer Regierung, wurde ein Joint Artificial Intelligence Center (JAIC) von US-Militär und Geheimdiensten geschaffen.
Was Wissing bei der Vorstellung des Digitalisierungs-Fortschrittsberichts als Strategie ausgegeben hat, entspricht voll der von den genannten Kommissionen ausgerufenen Strategie zur Bewahrung der US-Vorherrschaft in der Welt: Weniger Datenschutz, alle Daten den Konzernen und analoge Alternativen für die Bürger beseitigen. Wer sich nur ein bisschen auskennt im IT-Geschäft, hat keinen Zweifel, dass damit vor allem der Datenhunger der US-Konzerne gestillt wird. Vorgänge wie die bei Gaia-X, dem europäischen „Ökosystem für Geschäftsmodelle und Produkte, die auf Daten basieren“, sorgen dafür, dass das so bleibt.
Gaia X sollte ursprünglich für mehr europäische IT-Souveränität sorgen. Aber dann wurden die großen US-IT-Konzerne ins Boot geholt oder besser ins Boot gelassen, sicherlich auf starken Druck von Washington hin. Die Bundesregierung verweist in ihrer Digitalstrategie für die Vernetzung der Dateninseln und die Herstellung von offener Datenverfügbarkeit auf ebendieses Gaia X. Symptomatisch ist auch, dass die Bundesregierung und Berlin ein Zentrum für globale Regierungstechnik des Weltwirtschaftsforums in Berlin unterstützen. Das Weltwirtschaftsforum ist die Lobby der größten globalen Konzerne, zu deren allergrößten die US-IT-Konzerne gehören.
Dieser Artikel ist zuerst bei Norbert Häring erschienen.
Titelbild: Gorodenkoff / Shutterstock
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