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Titel: Wie bestellt: Das BAföG ist und bleibt in schlechter Verfassung

Datum: 31. Oktober 2024 um 14:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Chancengerechtigkeit, Hochschulen und Wissenschaft, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Das Bundesverfassungsgericht negiert einen grundgesetzlichen Anspruch auf höhere Ausbildungshilfen und überlässt die Bemessung wie gehabt der haushälterischen Willkür des Gesetzgebers. Wer arm ist, könne ja arbeiten gehen und im Notfall sein Studium hinschmeißen, argumentieren die höchsten deutschen Richter und beweisen damit einmal mehr, wie tief sie gesunken sind. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Vielen Dank für die Blumen. Da haben Bundesregierungen fast jeder Couleur das System der Bundesausbildungsförderung über Jahrzehnte systematisch heruntergewirtschaftet, entwertet, entkernt und dafür gesorgt, dass die staatlichen Hilfen nicht mehr annähernd zur Finanzierung eines Studiums reichen, weshalb immer weniger überhaupt davon Gebrauch machen. Und was sagt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dazu? Alles okay so – weitermachen!

Das jüngste Urteil aus Karlsruhe vom Mittwoch zur Frage der Grundgesetzkonformität der nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bewilligten Leistungen ist nicht nur eine herbe Schlappe für alle Betroffenen – also Studierende und Schüler in Ausbildung. Der Spruch ist vor allem eine Steilvorlage für notorische Sozialkürzer, die notorisch, weil seit einer gefühlten Ewigkeit, die politischen Schaltzentralen besetzt halten. Dabei geht das gefällte Grundsatzurteil weit über das Thema BAföG hinaus, wenn die Richter apodiktisch postulieren, dass ein „Anspruch auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer, eine chancengleiche Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit hindernder Ungleichheiten“ qua Verfassung ausgeschlossen sei.

Ein Drittel in Armut

Das Grundgesetz lässt sich auch anders lesen. Nach dem Sozialstaatsprinzip hat der Staat bestrebt zu sein, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit und einen Ausgleich sozialer Unterschiede zwischen den Bürgern herzustellen und zu erhalten. Besieht man sich die Situation der Studierenden in Deutschland, dann stellt sich diese so dar: Mehr als ein Drittel von ihnen lebt in Armut, jene, die außerhalb des Elternhauses wohnen, zu über 80 Prozent. Weit über 30 Prozent schlagen sich mit weniger als 800 Euro monatlich durch, während aktuell ein WG-Zimmer im Bundesmittel 489 Euro kostet, in München 790 Euro.

Auf der anderen Seite gibt es allerhand Hochschüler, die aus dem Vollen schöpfen, die von Hause aus gut betucht sind, in privaten Luxuswohnheimen leben und nicht jeden Cent zweimal umdrehen müssen. Gegenüber ihren Kommilitonen genießen sie gewaltige Vorteile, weil sie sich ganz aufs Studieren konzentrieren und an ihrer Karriere basteln können. Ja, auch Studenten in prekärer Lage sind nicht vom Hungertod bedroht und viele unter ihnen werden künftig einen gutbezahlten Job haben. Aber eben längst nicht alle, weil sie mit existenziellen Dauersorgen nicht gedeihlich studieren können, der Studienerfolg leidet oder sie am Ende gar das Handtuch schmeißen müssen.

Hier einen Ausgleich zu schaffen, wäre nicht nur der dringend gebotene Handlungsauftrag an die Regierenden, die sich im Falle der Ampel „Bildung und Chancen für alle“ und ein „Jahrzehnt der Bildungschancen“ auf die Fahnen geschrieben haben. Es wäre auch ihre verfassungsrechtliche Pflicht, würden sie das Grundgesetz beim Wort nehmen. Das mögen nicht alle Juristen so sehen. Mit dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig hat aber nicht irgendwer Karlsruhe angerufen, die anhängige Streitsache zu klären.

Weit weg vom Bürgergeld

Geklagt hatte eine ehemalige Studentin, die den BAföG-Bedarfssatz von 373 Euro im Wintersemester 2014/15 als „verfassungswidrig zu niedrig bemessen“ erachtete und mit ihrem Anwalt Joachim Schaller durch alle Instanzen ging. Die Leipziger Richter folgten der Argumentation und leiteten per Entscheid vom Mai 2021 aus dem Grundgesetz eine eindeutige Pflicht des Staates ab, Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern zu ermöglichen. Dieser sei so zu gestalten, „dass soziale Gegensätze hinreichend ausgeglichen werden und soziale Durchlässigkeit gewährleistet wird“.

Erst im Juni schloss sich das Verwaltungsgericht Berlin in einem ähnlichen Fall dieser Auffassung an und plädierte für ein „ausbildungsbezogenes Existenzminimum“, das in seiner Höhe mit der Grundsicherung für Arbeitssuchende gleichzustellen sei. Der Wortlaut der Richter: „BAföG für Studierende darf nicht geringer sein als Bürgergeld.“ Ist es aber und der Abstand zwischen beiden Sozialleistungen ist mit derzeit 88 Euro (475 Euro/563 Euro) immens. Bis zur jüngst in Kraft getretenen 29. BAföG-Novelle belief sich die Lücke sogar auf 111 Euro, wobei der kümmerliche Zuschlag von fünf Prozent bei den Regelsätzen erst nach einer langen und würdelosen Hängepartie erfolgte.

Eigentlich wollte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) gar nichts drauflegen und das BAföG noch weiter von der Lohn- und Preisentwicklung abhängen lassen – in schlechter Tradition. Nach Berechnungen von Rechtsanwalt Schaller waren die Preise ausgehend von einem Index von 100 im Jahr 1970 bis 2019 auf 341 geklettert, das BAföG aber nur auf 273. Faktisch ist die Kaufkraft von BAföG-Empfängern mit jeder sogenannten Reform sukzessive geschrumpft. Das hat System und folgt dem politischen Willen, die Sozialleistung zugunsten privater Studienfinanzierungsmodelle – Stipendien, Studienkredite – zu schwächen. Das sagt kein Politiker so offen, aber ihr Handeln spricht Bände.

Pech gehabt!

Und Karlsruhe lässt sie gewähren, mit der Ansage: Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf höheres BAföG. Die Begründung ist himmelschreiend plump. Sie lautet: Wer studiert, kann auch arbeiten gehen, um so eine soziale „Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu beenden“. Im Juristensprech liest sich das so: „Dieser Nachrang des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen gegenüber der Selbsthilfe gilt auch dann, wenn deshalb bestimmte grundrechtliche Freiheiten wie die hier in Rede stehende, einer (…) geschützten Ausbildung an einer Hochschule nachzugehen, wegen fehlender Mittel nicht ausgeübt werden können.“

Übersetzt: Student soll jobben gehen. Wenn er dadurch gar nicht mehr oder nur eingeschränkt studieren kann – Pech gehabt. Wenn er deshalb fürs Studium viel länger braucht und aus dem BAföG-Bezug fällt, gilt ebenfalls: Pech gehabt. Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), brachte die verquere Logik gegenüber den NachDenkSeiten auf den Punkt. „Karlsruhe nimmt letztlich hin, dass Studierende ihr Studium abbrechen müssen, wenn sie dafür keine ausreichende Finanzierung haben.“ Und Anwalt Schaller bemerkte im NDS-Gespräch: „Für gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen wird nicht gesorgt, wenn Studierende in einer finanziellen Notlage ihr Studium abbrechen müssen, um existenzsichernde Leistungen bekommen zu können, und dann in vielen Numerus-Clausus-Fächern keine Chance mehr haben, später ihr Studium fortzusetzen, weil Bewerbungen für höhere Fachsemester unmöglich sind.“

Freibrief zum Kürzen

Das BAföG stand einmal für drei Selbstverständlichkeiten: Erstens kam es als rechtsverbindliche Sozialleistung einer großen Breite der Studentenschaft zugute. 1972 erhielten 44,6 Prozent aller Hochschüler in Deutschland Fördergelder, jetzt sind es gerade noch zwölf Prozent. Zweitens stellte die Hilfe sicher, dass diejenigen, die die Maximalförderung erhielten, davon auch tatsächlich leben und ohne Finanzierungsdruck studieren konnten. Und drittens wurden die Zuwendungen als Vollzuschuss gewährt, kein Pfennig musste später zurückerstattet werden, inzwischen jedoch die Hälfte des Darlehens (bis maximal 10.010 Euro). Verglichen damit ist das System heute nur noch ein Torso, nun auch noch versehen mit dem höchstrichterlichen Segen, wonach die bewilligten Mittel keineswegs dazu genügen müssen, daraus den Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Stark-Watzinger darf durchatmen. Viele Beobachter hatten im Vorfeld mit einem Einspruch aus Karlsruhe gerechnet und der Vorgabe, die Modalitäten zur Bemessung des BAföG auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dazu gibt es laute Rufe, noch in der laufenden Legislaturperiode bei den Leistungen mit einer 30. Novelle substanziell nachzubessern. Die Ministerin wird den Teufel tun. Zwar hat das BVerfG den verfassungsrechtlichen Auftrag des Staates zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen hervorgehoben und den politischen Ermessensspielraum von Bundestag und Bundesregierung betont. Das Ganze ist allerdings nur als ein „Kann“ und nicht als „Muss“ formuliert. Dafür bräuchte es für die Damen und Herren Richter schon bedrückendere Zustände. Zitat: „Dieser Förderauftrag verdichtet sich zu einer objektiv-rechtlichen Handlungspflicht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen faktisch keine Chance auf Zugang zu bestimmten Ausbildungs- und Berufsfeldern haben.“ Bis dahin dürfte es noch ein Weilchen dauern.

Regierung sagt Danke

In der Zwischenzeit mögen zwar ein paar mehr oder weniger junge Menschen aus der Uni purzeln oder es gar nicht erst dorthin packen. Was soll’s!? Heißt es doch so schön in der begleitenden Pressemitteilung zum Entscheid: „Die Ermöglichung eines Hochschulstudiums unbemittelter Zugangsberechtigter erscheint im Verhältnis zu anderen Sozialbedarfen und weiteren staatlichen Aufgaben nicht derart unverzichtbar, dass die dafür notwendigen Mittel durch die Anerkennung eines entsprechenden grundrechtlichen Leistungsrechts den Verteilungsentscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers unabhängig von wechselnden Bedürfnissen dauerhaft entzogen werden können.“

Vornehmer lässt sich nicht ausdrücken, dass sich der Staat um arme Menschen nicht zu kümmern braucht. Das gilt gerade in Zeiten von „Zeitenwenden“, in denen es „Wichtiges“ zu tun gibt wie die Aufrüstung der Bundeswehr und die Kriegsertüchtigung der Bevölkerung. Auch hierfür liefert Karlsruhe Gewä(e)hrshilfe, indem den Regierenden eine Bevorzugung bestimmter Politikfelder zum Nachteil des Sozialen ausdrücklich zugestanden wird. Noch einmal der Richterspruch: „Diese Begrenztheit der finanziellen Mittel macht eine Priorisierung der staatlichen Aufgabenerfüllung nach Art, Zeit und Umfang notwendig; dies gilt wegen ihrer besonderen Finanzwirksamkeit gerade auch für die Wahrnehmung der sozialstaatlichen Aufgaben.“

Verstanden! Eben hat die Bundesregierung die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gekürzt, ab Januar gibt es nur noch 441 Euro statt bisher 460 Euro. Außerdem setzt es eine Nullrunde beim Bürgergeld. Möglich machen so etwas auch Deutschlands höchste Richter. Die Ampel sagt Danke und keilt trotzdem gegen alle, die Karlsruhe eine innige Regierungsnähe vorwerfen.

Titelbild: New Africa/shutterstock.com


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