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Titel: Deutschlandfunk und Corona-Aufarbeitung: Erkenntnisschwäche und fehlender Mut in einem aktuellen Kommentar
Datum: 30. Oktober 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Gesundheitspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
Verantwortlich: Redaktion
„Umgang mit Kritikern – wie sich Antisemitismus- und Coronadebatte gleichen!“ – so lautet ein aktueller Deutschlandfunk-Kommentar. Der Grundgedanke hinter dem Beitrag ist richtig. Eine grundlegende Erkenntnisschwäche und fehlender Mut prägen leider den Beitrag. Journalistische Schwächen werden sichtbar. Eine Kritik. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Für das politische Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur hat Markus Grill einen Beitrag abgeliefert, der auf ein grundlegendes Problem aufmerksam macht. Beim Umgang mit Kritikern zum Thema Antisemitismus und Corona läuft etwas aus dem Ruder, sagt der Chefreporter der Investigativressorts von NDR und WDR. Grill vertritt die Auffassung, dass es falsch sei, fundierte Kritik an der Coronapolitik, aber auch an Israel, durch pauschale Vorwürfe abzuwerten. Wer Israel für seine Politik gegenüber Palästina kritisiere, sei nicht zwangsläufig Antisemit. Wer einzelne Coronamaßnahmen kritisiere, sei kein Corona-Leugner. Das klingt vernünftig. Und damit hat Grill auch recht. Würde der Journalist diese Erkenntnis auf ein breiteres Fundament gießen, wäre der Weg zur vollständigen Erfassung des Problems bereitet. Doch genau das passiert nicht.
Von der ersten Sekunde der Anmoderation krankt der Beitrag an einem verengten Blick. Der Kommentar beginnt mit der Anmoderation: „Aus Fehlern lernt man, heißt es ja so schön. Aber mit Blick auf die Coronazeit müsste man vielleicht ergänzen: lernt man oft nicht viel.“ Hier kommt ein grundlegendes Erkenntnisproblem zum Vorschein, das immer wieder in der aktuellen Debatte um das Thema Aufarbeitung der Coronazeit zu finden ist.
Zum Verständnis: Wir sprechen hier von einer grundsätzlichen Einordnung der Coronapolitik – die für die Art und Weise der Aufarbeitung maßgeblich ist. Konkret: Geht es bei der Aufarbeitung der Coronazeit nur um Fehler? Wer das meint, hat die Grundproblematik nicht verstanden.
Richtig ist: In der Coronazeit haben Politiker Fehler gemacht. Daran bestehen wohl keine ernstzunehmenden Zweifel mehr. Doch Fehler sind menschlich. Fehler – unabhängig davon, wie weitreichend und schwerwiegend sie auch sind – passieren. Um es salopp zu sagen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wo Politiker Entscheidungen treffen, treffen sie auch Fehlentscheidungen. Je mehr Verantwortung jemand trägt, umso weniger Fehler sollte er natürlich machen. Aber das zu sagen, ist wohlfeil. Egal auf welcher Verantwortungsebene Menschen sich bewegen: Fehler passieren.
Doch was wäre überhaupt ein Fehler im Hinblick auf die Coronapolitik? Ein Fehler wäre zum Beispiel Folgendes: Politiker beraten sich nach bestem Wissen und Gewissen mit Wissenschaftlern, denen sie aus gut nachvollziehbaren, aus rein an der Sache des Gemeinwohls orientierten Gründen Vertrauen schenken. Auf die Einlassungen und Empfehlungen dieser Experten hin ergreifen sie, in Verbindung mit ihrer politischen Verantwortung, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass diese Wissenschaftler mit Einschätzungen und Empfehlungen falsch lagen. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass Politiker besser auf Stimmen von außerhalb hätten hören sollen, die eine andere Maßnahmenpolitik angeraten hatten. Das heißt: Politiker gestehen sich vielleicht ein, dass sie zu engstirnig waren, zu sehr mit Blickschutz gearbeitet haben. Daraus ist eine fehlerhafte Politik entstanden. Oder anders gesagt: Sie haben sich fehlerhaft verhalten, haben Fehler gemacht.
Diese Ebene des „Fehlerhaften“ in der Pandemiepolitik gab es. Mit diesen Fehlern muss – im Sinne der Demokratie – transparent umgegangen werden. Daraus gilt es für Politiker, je nach Tragweite, auch persönliche Schlüsse zu ziehen. Dazu gehören etwa die öffentliche Bitte um Verzeihung oder Rücktritte.
Hingegen kein Fehler war es, wenn Verantwortliche der Coronapolitik Coronamaßnahmen nicht auf dem immer wieder öffentlich proklamierten Slogan „follow the science“, also „folge der Wissenschaft“, gebaut haben, sondern auf Politik. Die geleakten Protokolle des Robert Koch-Instituts bieten einen Einblick, wie „wissenschaftlich“ so manche Entscheidung war.
Es war auch kein Fehler, über das Druckmittel „Grundrechte“ Ungeimpfte gegen ihren Willen zu einer Coronaimpfung zu bewegen, ja, in gewisser Weise sie sogar zu zwingen. Und erst recht war die furchtbare Hetzjagd gegen Ungeimpfte, vollzogen von Politikern, Journalisten und Experten, kein Fehler.
Es war kein Fehler, Ungeimpfte als „gefährliche Sozialschädlinge“ zu bezeichnen. Es war nicht einfach nur ein „Fehler“, wenn in einem der reichweitenstärksten Magazine des Landes ein Kolumnist sagen darf: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“
Der für viele Bürger spürbare Moment des Autoritären, des Totalitären und, ja, auch wenn viele das nicht hören wollen: des Faschistoiden, war auch nicht einfach nur ein „Fehler“. Wenn Menschen aus unserer Familie und aus unserer Mitte – das heißt: Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Kinder, Nachbarn – alleine, ohne ihre Nächsten im Krankenhaus sterben mussten, wenn Angehörige keinen Abschied von ihren Lieben nehmen durften, dann war das kein Fehler. Das war eine herzzerreißende Unmenschlichkeit. Und wenn die Politik der harten Hand die Auffassung vertrat, dass es nicht ausreicht, wenn von 100 Bürgern in einem Geschäft 99 eine Maske tragen, sondern dass es immer alle sein müssen, dann war das auch kein Fehler – eine Politik kam zum Vorschein, der die Lust am Autoritären anzumerken war.
Mit anderen Worten: Der Deutschlandfunk lenkt in seinem Beitrag die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Fehler – aber er ignoriert eine viel tiefere, weitreichendere Dimension der Pandemiepolitik. Und damit gerät der abgelieferte Journalismus, der nur einen Teil der Problematik sichtbar macht, sofort in eine schwere Schieflage.
Das Erkenntnisproblem und damit das journalistische Problem verbinden sich in dem Kommentar und entfalten sich. Um nochmal die zitierte Stelle anzuführen: „Aber mit Blick auf die Coronazeit müsste man vielleicht ergänzen: lernt man oft nicht viel“, heißt es.
Das ist ein Anflug von Kritik. Gut, prima! Vielleicht, oder: sehr wahrscheinlich sind diese Worte auch schon das Maximale, was im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von einer Mitarbeiterin an Kritik bei der Anmoderation eines solchen Beitrags geleistet werden kann.
„Immerhin!“, möchte der Kritiker sagen. Aber Wohlwollen fällt schwer. Den Sätzen ist anzumerken, wie vorsichtig die Formulierungen sind. Wohlgemerkt: Es geht „nur“ um die Ebene der Fehler, nicht um das wirklich Eingemachte. Und dennoch traut sich der Deutschlandfunk nur, von einem „müsste man vielleicht ergänzen“ zu sprechen. „Müsste“? „Vielleicht“? Warum das denn? Was gibt es da denn an „vielleicht“ zu „ergänzen“? Schließlich: Echtes Problembewusstsein für gemachte Fehler ist in der Politik kaum zu erkennen. Gerade erst hat der Bundeskanzler in einem Interview sogar seine Aussage bekräftigt, wonach es keine „roten Linien“ geben dürfe.
Es gibt hier kein „Vielleicht“. Nein, es ist journalistische Pflicht, zu „sagen, was ist“. Und das bedeutet an dieser Stelle, mindestens, zu sagen, dass zu viele Politiker nicht aus den Fehlern gelernt haben, ja, dass sogar eine unverschämte Ignoranz zum Vorschein kommt.
Und dann ist da dieses Indefinitpronomen „man“. „Lernt man oft nicht viel“, sagt die Moderatorin. Hier wäre es dringend und zwingend aus journalistischer Sicht angebracht, die Verantwortlichen, die Ignoranten, konkret im Sinne bester journalistischer Sorgfaltspflicht beim Namen zu nennen. Und nicht ihnen dabei zu helfen, sich hinter dem „man“ zu verstecken.
Nun ist bisweilen das Wörtchen „man“ bequem und mitunter drängt es sich einfach aus dem Fluss der deutschen Sprache auf. Es soll bei dieser Kritik gewiss nicht darum gehen, Haare zu spalten. Würde Grill im weiteren Verlauf seines Kommentars Ross und Reiter nennen, ließe sich leicht über das „man“ hinwegsehen. Aber das „Unbestimmte“, das in dem Gebrauch des Begriffs „man“ zum Vorschein kommt, ist richtungsweisend für den Beitrag.
„Es gibt Fehler aus der Coronapandemie, die muss man gar nicht groß aufarbeiten, weil sie so offensichtlich sind. Dazu gehört die Verengung des Meinungskorridors und die Ausgrenzung von Kritikern der Coronapolitik.“ Damit hat Grill sicherlich recht. Doch er führt hier die Fokussierung auf „Fehler“ weiter. Viele derjenigen, die eine Aufarbeitung der Coronamaßnahmen fordern, reagieren überaus verärgert, wenn sie den Begriff „Fehler“ hören. „Fehler“ waren ein großes Ärgernis. Aber das Problem geht, wie gesagt, tiefer.
Hinzu kommt: In den vergangenen Jahren ist viel passiert. Viel Zeit ist vergangen. Jetzt, sozusagen: wie die alte Fastnacht, sagt Grill das, was längst doch ohnehin jeder weiß. Was also macht der Deutschlandfunk hier? Alte Erkenntnisse nun „todesmutig“ aussprechen? Unfreiwillig bietet der Kommentar den Blick auf den Abgrund des öffentlich-rechtlichen Journalismus. Warum hat Grill das Grundproblem nicht schon 2020, 2021, 2022 auf diese Weise in einem Kommentar angesprochen? Zu dieser Zeit äußerte sich Grill auf Twitter mit den Worten, dass bei den „Protesten gegen Ausgrenzung zu viele Vollidioten, Gewaltbereite und Rechtsextreme“ zu finden seien. Das Problem ist offensichtlich.
Grill weiter:
„Zwar gab es schon von Beginn der Pandemie selbsternannte Querdenker, die leugneten, dass es überhaupt eine Pandemie gab, doch sie waren nicht das Problem. In jeder Gesellschaft gibt es ein paar Narren, die man aushalten muss. Das Problem war, dass sehr schnell auch seriöse Zweifel am nutzen bestimmter Pandemiemaßnahmen ins Querdenkerlager abgedrängt wurden. Wissenschaftler, die bis Dato angesehen waren, wurden verächtlich gemacht, weil sie nicht jede Maßnahme als alternativlos hinnehmen wollten. Exemplarisch für diesen Extremismus, angeblich im Namen der Wissenschaft, war ein Spiegel-Interview, in dem die skeptischen Virologen Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streek schlimmer als die Coronaleugner bezeichnet wurden. Ausgerechnet jene Medien, die zuvor auf ihre liberale Tradition stolz waren, haben sich zum Lautsprecher pseudo-wissenschaftlicher Pandemiebekämpfungsstrategien wie Zero Covid gemacht (…).
Auch Politik und Wissenschaft haben in dieser Zeit enormes Vertrauen verspielt; sie haben die Spaltung der Gesellschaft befördert, weil sie jene, die zurecht auf die fehlende Evidenzbasiertheit vieler Entscheidungen hinwiesen, immer mehr in die Ecke der Verschwörungstheoretiker drängten. Und heute? Hat man aus dieser Zeit wirklich etwas gelernt? Nein! Mit Blick auf Israels Krieg in Gaza laufen wir Gefahr, die gleichen Fehler zu machen, wie während der Pandemie. (…). Ja, es gibt heute einen massiven und wachsenden Antisemitismus in Deutschland – ähnlich wie es auch in der Pandemie echte Verschwörungstheoretiker gab. (…).“
Dieser Abschnitt soll wohl das kritische Kernstück des Kommentars sein. Trotz einiger richtiger Aussagen und auch scharfer, klarer Formulierungen, die sich lobend hervorheben lassen, ist er eine journalistische Zumutung.
Aus stilistischer Sicht fallen zunächst Passiv-Konstruktionen auf.
Drei Mal „wurden“, also Passiv hintereinander – das ist stilistisch schwach, allerdings geht es nicht um eine Stilkritik. Das Problem ist, dass hier das stilistische Problem die inhaltlichen Schwächen widerspiegelt. Wie schon angesprochen: Dem Beitrag mangelt es daran, dass Grill nicht die verantwortlichen Akteure mit Namen benennt. Und so korrespondieren die Wörter „wurde“ und „man“ in gefälliger Weise miteinander. Das eine baut auf das andere – und am Ende stehen da – vage und irgendwie unbestimmt – „Politik“ und „Wissenschaft“, die eben Fehler gemacht haben.
Wenn Grill davon spricht, dass Kritiker der Maßnahmen ins „Querdenkerlager abgedrängt wurden“, dann gilt es, ihm zu sagen: dieses „abgedrängt wurden“ ist im Hinblick auf eine akkurate, auflösungsstarke journalistische Beschreibung der Realität ziemlich wichtig. Was sich da einige erlaubt haben, muss aus der Passivkonstruktion raus.
Immerhin erwähnt Grill konkret den Spiegel. An dieser Stelle hat der Kommentar auch eine Stärke. Genauso, wie er zum Thema Antisemitismus zum Ende hin noch die Bild-Zeitung und den „Kanzler“ kritisiert. Auch das ist gut. Aber das ist in der Summe in so einem Kommentar zu wenig. Die Namen fehlen. Warum nennt Grill nicht Landespolitiker, wie etwa Kretschmann, der in der Coronazeit etwa sagte: „Wir müssen im Notfall Menschen mit Geldauflagen zum Impfen bewegen“, und der auch im Parlament vom Leder zog, dass es nur so krachte. Oder: Warum zeigt der Journalist nicht auf, wer beim Öffentlich-Rechtlichen Stimmung gegen die Grundrechtsdemonstranten gemacht hat? Und, wer hat denn gesagt: „Na herzlichen Dank! An alle #Ungeimpften. Dank euch droht der nächste Winter im #Lockdown“ (…)“?
Von intellektueller Zurückhaltung zeugt die Aussage Grills, dass es in der Pandemie „echte Verschwörungstheoretiker“ gegeben habe. Grill sagt das in einem Ton, in dem eine gewisse Anklage mitschwingt. Der Journalist benutzt hier distanzlos eine Formulierung, die als Kampfbegriff bei der Auseinandersetzung um die Definitionshoheit seit vielen Jahren schweren Schaden anrichtet. Wie kann ein Journalist, einerseits, die Delegitimierung von Kritikern durch Antisemitismus- und Querdenkervorwürfe anprangern, aber, andererseits, gleichzeitig selbst einen Kampfbegriff verwenden, der Personen pauschal abwertet, die irgendwas mit Verschwörungstheorien „zu tun“ haben?
Zunächst drängt sich die Frage auf: Was soll denn überhaupt ein „echter“ Verschwörungstheoretiker sein? Gibt es dann also auch „unechte“ Verschwörungstheoretiker? So wie Grill an dieser Stelle spricht, drängt sich der Verdacht auf, dass „echte Verschwörungstheoretiker“ wohl irgendwie – wie soll man sagen? – ein großes Problem sind, eben wie echter Antisemitismus.
Das ist ärgerlich und auf Reflexionsebene schwach. Was ist daran ein Problem, wenn ein (echter) Verschwörungstheoretiker davon ausgeht, dass X und Y sich verschworen haben, um Z zu schädigen? Das ist völlig legitim. Ob eine solche Verschwörungstheorie nun völlig „abwegig“ ist, ob sie bewusst zur Diskreditierung eines Menschen in die Welt gesetzt wird, oder was auch immer an Negativem angeführt werden kann, steht auf einem anderen Blatt.
Hinzu kommt: Setzt Grill hier ernsthaft Antisemitismus mit „echten Verschwörungstheoretikern“ gleich? Danach klingt es. Grill will in seinem Kommentar differenzieren, aber an dieser unscheinbaren Stelle verdichtet sich das ganze Problem eines Kommentars, der viel zu spät kommt, der immer noch nicht richtig den Gegenstand der Auseinandersetzung durchdrungen hat und so letztlich weder Fisch noch Fleisch ist.
Titelbild: Bohbeh/shutterstock.com
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