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Titel: Zwei Kriege, zwei Narrative, null Lösung und eine Ursache

Datum: 23. Oktober 2024 um 11:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Seit rund 32 Monaten tobt der Krieg in der Ukraine zwischen Russland und der Ukraine (erster Krieg) sowie um die Ukraine zwischen dem Westen und Russland (zweiter Krieg). Die Bewertung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine umfasst in der nichtwestlichen Welt, bestehend aus dem globalen Osten (zu dem sich auch Russland neuerdings zählt) und dem globalen Süden, ein sehr breites Spektrum von Positionierungen, angefangen von einem an Zustimmung heranreichenden Maß an Verständnis für den russischen Angriffskrieg bis hin zur Formulierung der Unverletzbarkeit der Grenzen und der Forderung nach Einstellung der Gewalt. Aber, und da sind sich nahezu alle Staaten des „Nichtwestens“ einig, es werden keine Sanktionen gegen Russland verhängt, wodurch sie deutlich machen, dass sie den Forderungen des Westens nicht mehr zu folgen gewillt sind – im Gegenteil, dass sie sich sogar von der westlichen Politik und dem westlichen Narrativ zur Ursachenerklärung des Krieges in unterschiedlichem Ausmaß distanzieren. Von Alexander Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Russland hat es hingegen vermocht, im globalen Nichtwesten nicht nur sein Narrativ zur Ursache des Krieges zumindest zur Diskussion zu stellen, sondern sein Narrativ um die Dimension eines weltweiten antipostkolonialen Krieges zu erweitern: Russland sieht sich an der Spitze des von Moskau nicht nur mitgetragenen, sondern vielmehr sogar von ihm mitforcierten Wandels von der westlichen, der unipolaren, hin zur globalen, der multipolaren Weltordnung. Es versteht sich gewissermaßen als erster und neben China potentester Antipode zur „regelbasierten internationalen Ordnung“, mithin der westlichen Globalordnungsvorstellung. Der Krieg um die Ukraine ist nach russischer Lesart auch ein zentraler Baustein im Kampf um ebendiese multipolare Weltordnung.

Westliches Narrativ

Anfang Oktober trat der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte sein Amt in Brüssel an. In seiner ersten Pressekonferenz (Press conference by incoming NATO Secretary General Mark Rutte) skizzierte er seine Vorstellungen von der NATO und auch vom Rest der Welt. M. Rutte zählte seine drei Prioritäten auf:

Ich habe drei Prioritäten:

  • Sicherstellung, dass wir über die Fähigkeit verfügen, uns vor jeder Bedrohung zu schützen.
  • Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression; und
  • Bewältigung der wachsenden globalen Herausforderungen für die euroatlantische Sicherheit.“

Während die erste Priorität das Selbstverständnis eines Verteidigungsbündnisses, ja geradezu seine Daseinsberechtigung ausmacht, verweisen die beiden folgenden Prioritäten auf einen „out of area“-Ansatz: Weder die Ukraine noch Russland sind Mitglieder der NATO, und wenn man den russisch-ukrainischen Konflikt als einen bilateralen Krieg versteht, so wie das westliche Narrativ dies tut, so wäre er außerhalb der „Zuständigkeit“ der NATO.

Auch die dritte Priorität, die „wachsenden globalen Herausforderungen“ liegen ebenfalls jenseits der Grenzen des NATO-Bündnisses, sind mithin offensiv, da die NATO nicht nur an ihren Grenzen verteidigt werden soll – also eine territoriale Verteidigung –, sondern vielmehr auch ihre Interessen weltweit. Die Grenzen zwischen territorialer Bündnisverteidigung und fragwürdiger globaler Interessenverteidigung verschwimmen somit und werfen sodann völkerrechtliche Fragestellungen auf.

Weiter führte M. Rutte in seiner ersten Pressekonferenz als NATO-Generalsekretär aus:

Ich bin in den letzten Jahren mehrmals in die Ukraine gereist. Nach Odessa, Kiew, Bucha, Borodianka und Charkiw, nahe der russischen Grenze … wo ich aus erster Hand die Brutalität des russischen Angriffskrieges und den Mut des ukrainischen Volkes in seinem Kampf für die Freiheit miterlebte.

Die Unterstützung der Ukraine ist das Richtige, und es ist auch eine Investition in unsere eigene Sicherheit. Denn eine unabhängige und demokratische Ukraine ist für Frieden und Stabilität in Europa von entscheidender Bedeutung.

Und die Kosten für die Unterstützung der Ukraine sind weitaus geringer als die Kosten, die uns entstehen würden, wenn wir Putin erlauben würden, seinen Willen durchzusetzen. (…).

Auf dem Washingtoner Gipfel einigten sich die Bündnispartner auf ein Unterstützungspaket für die Ukraine, das unter anderem ein NATO-Kommando, eine langfristige Finanzzusage und einen unumkehrbaren Weg zur Mitgliedschaft umfasst.

Ich werde mit den Verbündeten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass wir unsere Entscheidungen vollständig umsetzen und die Ukraine weiterhin immer näher an die NATO heranführen.“

(Quelle: nato.int)

Auf dem von Rutte angesprochenen NATO-Gipfel im Juli (Washington Summit Declaration issued by the NATO Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Washington, D.C. 10 July 2024)) dieses Jahres wurde auch in der gemeinsamen Gipfelerklärung Ähnliches verlautbart:

15. Wir freuen uns auf das Treffen mit Präsident Selenskyj im NATO-Ukraine-Rat. Wir bekräftigen unsere unerschütterliche Solidarität mit dem ukrainischen Volk bei der heldenhaften Verteidigung seiner Nation, seines Landes und unserer gemeinsamen Werte. Eine starke, unabhängige und demokratische Ukraine ist für die Sicherheit und Stabilität des euroatlantischen Raums von entscheidender Bedeutung. Der Kampf der Ukraine um ihre Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen trägt direkt zur euroatlantischen Sicherheit bei. Wir begrüßen die Ankündigungen der Verbündeten, die Ukraine mit wichtigen zusätzlichen Luftverteidigungssystemen und anderen militärischen Fähigkeiten auszustatten. Um der Ukraine heute dabei zu helfen, sich zu verteidigen und eine zukünftige russische Aggression abzuschrecken, haben wir:

  • Beschlossen, die NATO-Sicherheitshilfe und -Ausbildung für die Ukraine (NSATU) einzurichten, um die Bereitstellung militärischer Ausrüstung und Ausbildung für die Ukraine durch Verbündete und Partner zu koordinieren. (…) Nach internationalem Recht wird die NSATU die NATO nicht zu einer Konfliktpartei machen. Es wird die Umgestaltung der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte der Ukraine unterstützen und ihre weitere Integration in die NATO ermöglichen.

16. Wir unterstützen voll und ganz das Recht der Ukraine, ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, frei von Einmischung von außen. Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO. Die Ukraine ist zunehmend interoperabel und politisch in das Bündnis integriert. Wir begrüßen die konkreten Fortschritte, die die Ukraine seit dem Gipfel in Vilnius bei den erforderlichen demokratischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Reformen gemacht hat. Während die Ukraine diese wichtige Arbeit fortsetzt, werden wir sie weiterhin auf ihrem unumkehrbaren Weg zur vollständigen euroatlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, unterstützen. Wir bekräftigen, dass wir in der Lage sein werden, die Ukraine zum Beitritt zum Bündnis einzuladen, wenn die Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind. Die Gipfelbeschlüsse der NATO und des NATO-Ukraine-Rates bilden zusammen mit der laufenden Arbeit der Bündnispartner eine Brücke zur Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO. (…).

17. Russland trägt die alleinige Verantwortung für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine, einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, einschließlich der UN-Charta. Es darf keine Straflosigkeit für die Missbräuche und Verletzungen der Menschenrechte, Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das Völkerrecht durch russische Truppen und Beamte geben. Russland ist für den Tod Tausender Zivilisten verantwortlich und hat der zivilen Infrastruktur großen Schaden zugefügt. Wir verurteilen die schrecklichen Angriffe Russlands auf das ukrainische Volk, darunter auch auf Krankenhäuser, am 8. Juli aufs Schärfste. Russland muss diesen Krieg sofort beenden und im Einklang mit den Resolutionen der UN-Generalversammlung alle seine Streitkräfte vollständig und bedingungslos aus der Ukraine abziehen. Wir werden niemals die illegalen Annexionen ukrainischen Territoriums, einschließlich der Krim, durch Russland anerkennen. Wir fordern Russland außerdem auf, alle seine dort ohne deren Zustimmung stationierten Streitkräfte aus der Republik Moldau und Georgien abzuziehen.

18. Russland strebt eine grundlegende Neukonfiguration der euroatlantischen Sicherheitsarchitektur an. Die umfassende Bedrohung, die Russland für die NATO darstellt, wird auf lange Sicht bestehen bleiben. Russland baut seine militärischen Fähigkeiten wieder auf und erweitert es und setzt seine Luftraumverletzungen und provokativen Aktivitäten fort. Wir stehen in Solidarität mit allen Verbündeten, die von diesen Maßnahmen betroffen sind. Die NATO strebt keine Konfrontation an und stellt keine Bedrohung für Russland dar. Wir sind weiterhin bereit, die Kommunikationskanäle mit Moskau aufrechtzuerhalten, um Risiken zu mindern und eine Eskalation zu verhindern.

21. Wir sind entschlossen, die aggressiven Aktionen Russlands einzudämmen und zu bekämpfen und seiner Fähigkeit entgegenzuwirken, destabilisierende Aktivitäten gegenüber der NATO und ihren Verbündeten durchzuführen. Für unser nächstes Gipfeltreffen werden wir Empfehlungen zum strategischen Ansatz der NATO gegenüber Russland unter Berücksichtigung des sich verändernden Sicherheitsumfelds entwickeln.“

Im Folgenden möchte ich das westliche Narrativ, das ein anklagendes und Opfernarrativ ist, zum Ukraine-Russland-Krieg anhand der oben zitierten Aussagen zusammenfassen:

Der Ukraine-Russland-Krieg ist ein rein bilateraler Krieg mit einem klassischen Aggressor (Russland) und einem klassischen Opfer (die Ukraine).

Russland ist völlig unprovoziert am 24. Februar 2022 (offizieller Kriegsbeginn für den Westen) in die Ukraine eingefallen und hat seitdem erhebliche ukrainische Territorien gewaltsam okkupiert respektive sogar annektiert. Dies sei ein klarer Bruch des Völkerrechts, in dem die territoriale Integrität und Souveränität der Staaten unverletzbar seien, was tatsächlich – laut UN-Charta und deren praktischer Respektierung bis 1991 – zutreffend ist. Die Motivation des Kremls sei es, die ukrainische Selbstbestimmung zu unterdrücken, die ukrainische Staatlichkeit auszulöschen und so viel ukrainische Territorien wie möglich zu rauben. Der Kreml habe zudem Angst vor einer ukrainischen Demokratie, die den absoluten Machtansprüchen der russischen Autokratie, manchmal auch genannt Despotie, gefährlich werden könne. Daher strebe Russland die Vernichtung der demokratischen Ukraine an, so das westliche Narrativ. Der Westen hingegen eile der unprovoziert angegriffenen demokratischen Ukraine zur Nothilfe, soll heißen, leiste Rüstungslieferungen, militärische Ausbildung und finanziere das Überleben der Ukraine, sei selbst indessen nicht Kriegspartei und wolle dies auch nicht werden.

Es geht also in dem westliche Narrativ des Konfliktes:

Erstens um einen reinen bilateralen Krieg (erster Krieg), bei dem die Schuldfrage eindeutig geklärt ist, der Westen sowie die Ukraine selbst keine Mitverantwortung an der Situation tragen und der Westen auch keine Kriegspartei ist.

Der zweite Krieg, der Stellvertreterkrieg oder indirekte Krieg, zwischen dem Westen und Russland um die Ukraine und damit verbunden um die Gestaltungsrichtung der künftigen Weltordnung ist nicht Gegenstand des Narrativs. Zumindest wird dies nicht dahingehend thematisiert, dass der Westen sich als Kriegspartei klassifiziert. Wenn es überhaupt Erwähnung findet, dann in der Form, dass der Westen unterhalb der direkten militärischen Konfrontation mit Russland die Niederlage der Ukraine verhindern müsse, da ansonsten der Völkerrechtsbruch allen Diktatoren der Welt als Präzedenzfall dienen könnte, und um die westliche, die liberale Weltordnung zu verteidigen. Es oblige dem Westen schon rein moralisch, aber auch aus völkerrechtlicher Verantwortung und strategischer Perspektive heraus die Bürde, der demokratischen und nach Westen strebenden Ukraine, die auch unsere Werte und auch letztlich den Westen verteidige, zu helfen.

Zweitens sei Russland ein mindestens imperialer, je nach Lesart auch imperialistischer, auf jeden Fall aber aggressiver Staat, der ukrainisches Staatsgebiet raube und sogar ggf. die ukrainische Staatlichkeit auslöschen, d.h. unter anderem die Ukraine gänzlich schlucken wolle. Und dann sei der Rest Europas möglicherweise das russische Kriegsziel. Beispielsweise hat sich der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius entsprechend geäußert.

Interessant ist, dass in Absatz 16 der Gipfel-Erklärung so ganz nebenbei ein Konditionalsatz eingefügt ist, der trotz aller Zusagen an Hilfen und der Erneuerung der Beitrittsperspektive der Ukraine in die NATO hinsichtlich des tatsächlichen Beitritts der Ukraine ein Hintertürchen aufhält, um diesen Beitritt im Zweifel auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben: „Wir bekräftigen, dass wir in der Lage sein werden, die Ukraine zum Beitritt zum Bündnis einzuladen, wenn die Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind.“

Russisches Narrativ

Das russische Narrativ speist sich vor allem aus den beiden Reden W. Putins am 22. Februar Zeitschrift OSTEUROPA | Dokumentation (zeitschrift-osteuropa.de) und am 24. Februar 2022.

Das russische Narrativ lautet: Die Souveränität sowie die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands werden seitens des Westens nicht respektiert, und die Aufrüstung sowie das Vorhaben, die Ukraine in die NATO zu holen, seien ein klarer Beleg für die Missachtung vitaler russischer Sicherheitsinteressen und verstoßen gegen den Geist der unteilbaren Sicherheit, auf den sich mit Beendigung des Kalten Krieges alle Seiten verständigt hätten. „Ein NATO-Beitritt der Ukraine ist jedoch eine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit Russlands“, so Putin in seiner „Rede an die Nation am 21. Februar 2022“, in der er die zeitnahe diplomatische Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ ankündigt. Und in der nachfolgenden Rede zwei Tage später:

Bereits heute wird die Lage für unser Land durch die Erweiterungsrunden der NATO mit jedem Jahr schlechter und gefährlicher. (…). Wir können nicht mehr einfach nur zuschauen, was da geschieht. Es wäre absolut verantwortungslos. Ein weiteres Vordringen der Infrastruktur der Nordatlantik-Allianz, die bereits begonnene militärische Aneignung des ukrainischen Staatsgebiets: Das ist für uns inakzeptabel. (…) Das Problem besteht darin, dass in Gebieten direkt an unseren Grenzen, Gebieten wohlgemerkt, die historisch zu uns gehören, ein uns feindlich gesinntes „Anti-Russland“ geschaffen wird, das vollständig unter externer Kontrolle steht, in dem sich mehr und mehr NATO-Staaten festsetzen und das mit modernsten Waffen hochgerüstet wird.“

Es handelt sich hier mithin um ein vorwiegend sicherheitspolitisches Narrativ und in diesem Kontext ebenfalls um ein Opfernarrativ:

  • Erstens zur Rechtfertigung eines Präventivkrieges gegen die Ukraine angesichts ihres intendierten NATO-Beitritts, dem damit einhergehenden Ausbau der NATO-Infrastruktur in der Ukraine sowie der Verhinderung des möglichen Aufbaus nuklearer Fähigkeiten der Ukraine.
  • Zweitens zur Rechtfertigung eines kollektiven Verteidigungsfalles (expliziter Hinweis auf Artikel 51 der UNO-Charta und auf der Grundlage der bilateralen Beistandsabkommen) hinsichtlich der beiden kurz zuvor anerkannten „Volksrepubliken“ im Donbass.

Das politische Ziel des ersten Krieges ist es, den NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern, diese zu demilitarisieren (nicht entmilitarisieren), um somit einen „Anti-Russland“-Staat an der Grenze zu Russland zu verhindern bzw. die NATO von den Grenzen Russlands fernzuhalten.

Ein weiteres Element des russischen Narrativs, die Ausweitung der „russischen Welt“ um ukrainisches Staatsgebiet, steht – mit Ausnahme der Krim – in der Hierarchie zunächst weiter hinten bzw. dürfte bis Anfang 2022 möglicherweise sogar keine Rolle gespielt haben. Denn das Minsk-2-Abkommen, das die territoriale Integrität der Ukraine (die Krim war davon ausgenommen) versicherte, wurde von Russland als Garantiemacht unterzeichnet.

Exkurs: Minsk-2-Abkommen

Die Umsetzung des Minsk-2-Abkommens wurde trotz aller gegenseitigen Schuldzuweisungen letztlich von der Ukraine verhindert. In der Chronologie war die Ukraine am Zuge, ihre Verpflichtungen – hier den Autonomiestatus der beiden „Volksrepubliken“ – verfassungsrechtlich zu garantieren, bevor diese wieder die Grenzkontrollen in diesen Abschnitten hätte übernehmen können (Punkte 9 und 11 des Minsk-2-Abkommens). Die Verpflichtung der Autonomiegewährung hat die Ukraine nicht umgesetzt, so dass im Prinzip der Minsk-2-Vertrag bereits kurz nach Inkrafttreten zur Makulatur verkam. Die eigentliche Intention für das Minsk-2-Abkommen war, für die militärisch in Bedrängnis gekommene Ukraine sowie auch für ihre Vertragsgaranten Deutschland und Frankreich Zeit für die Rückeroberung der beiden Volksrepubliken zu gewinnen. So zumindest äußerte sich die Ex-Bundeskanzlerin A. Merkel, der französische Ex-Präsident F. Hollande und auch der ukrainische Ex-Präsident P. Poroschenko sekundierten. Besonders brisant an den Aussagen der drei Staats- und Regierungschefs über die wahre Intention des Abkommens ist, dass das Minsk-2-Abkommen auch vom UN-Sicherheitsrat als verbindliche Resolution SR-2205 (2015) verabschiedet und die Garantiemächte darin namentlich fixiert wurden.

Exkurs Ende

Erst nach dem offensichtlichen Scheitern des Minsker Abkommens und den nach russischer Sichtweise wieder zunehmenden Kämpfen im Donbass stellte Putin in seiner „Rede an die Nation am 21. Februar 2022“ die zeitnahe diplomatische Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ in Aussicht, was einen Bruch der UNO-Charta darstellt. Schlussendlich traten die beiden „Volksrepubliken“ der Russischen Föderation bei. Die Aufnahme der beiden „Volksrepubliken“ in die Russische Föderation stellt einen weiteren Völkerrechtsbruch dar. Das russische Narrativ bedient sich hierbei der vom Westen in den 1990er Jahren mit Blick auf die Zerlegung Jugoslawiens geschaffenen „Weiterentwicklung des Völkerrechts“. Es war das neue Primat des externen Selbstbestimmungsrechts der Völker, also die diplomatische Anerkennung der sezessionistischen Teilrepubliken Jugoslawiens und der serbischen Provinz Kosovo, statt Schutz der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität. Seitdem wird je nach Interessenlage mal mit dem einen, mal mit dem anderen Primat argumentiert, aber zu Lasten des Völkerrechts und der schwachen Staaten.

Zwischenzeitlich wurden die territorialen Okkupationen in den beiden Oblasten Saporischschja und Cherson ebenfalls annektiert, wobei jeweils nicht die gesamten Oblaste von der russischen Seite kontrolliert werden. Wie weit die Okkupation und ggf. Annexion ukrainischer Gebiete gehen soll, dazu gibt es widersprüchliche Aussagen der politischen Entscheider in Moskau. Offensichtlich will sich Russland die Optionen je nach militärischen Fortschritten offenhalten.

Ein weiteres, das Narrativ bestimmende Ziel besteht in der „Entnazifizierung“ der Ukraine. Dieses Narrativ zielt vor allem auf die russische Gesellschaft, wobei in den Äußerungen offenbleibt, wie eine „Entnazifizierung“ konkret zu erreichen sei.

Und schlussendlich wurde mit zunehmender Dauer des ersten Krieges auch das geopolitische Narrativ des zweiten Krieges geschrieben, also der russische Krieg gegen die Ukraine (1) werde auch als Krieg mit dem Westen um die Ukraine (2) und somit um die Ausrichtung der künftigen Weltordnung geführt. Russland sieht sich neben China als Vorkämpfer der multipolaren Weltordnung – und dies teils geduldet, teils unterstützt vom globalen Süden.

Null Lösung

Für Russland stellt das sicherheitspolitische Narrativ wohl den primären Kriegsgrund für den ersten Krieg dar – ein Krieg, der sodann aus russischer Perspektive als Präventivkrieg zu verstehen sei, da es um das Überleben des russischen Staates gehe. Aber genau dieses sicherheitspolitische Motiv wird in der westlichen Politik und den Medien möglichst nicht diskutiert bzw. dem herrschenden Narrativ entzogen, es findet mithin nicht statt.

Demgegenüber setzt das westliche Narrativ auf die Opferrolle der Ukraine, die gerettet werden müsse, und fordert in seiner Konsequenz idealerweise die Rückkehr zur unipolaren Weltordnung unter Führung der USA. Die unipolare Weltordnung ist die westliche Ordnungsvorstellung. Sie wird gerne auch als die liberale Weltordnung, dem die viel zitierte regelbasierte Ordnung zugrunde liege, bezeichnet. Sie ist nicht zu verwechseln und auch nicht gleichzusetzen mit der UNO-Charta.

Diese beiden Narrative stehen sich nun unversöhnlich gegenüber, sodass eine Lösung auf der Grundlage von Vernunft – zumindest noch derzeit – aussichtslos erscheint. Beide Seiten reden zielsicher aneinander vorbei. Keine Seite scheint das für eine Konfliktlösung notwendige Maß an empathischer Kompetenz zu besitzen. Ob sich das mit einer eventuellen Wahl eines Donald Trump zum US-Präsidenten ändern würde, gehört in das Reich der Spekulationen. Auch ein US-Präsident ist nicht allmächtig, nicht einmal gegenüber der eigenen Administration, wie D. Trump es bei seiner letzten Präsidentschaft erfahren musste, als sein Befehl zum vollständigen Abzug der US-Truppen aus Syrien schlichtweg vom Apparat ignoriert wurde.

Die eine Ursache

Die Ursache des ersten Krieges liegt im zweiten Krieg, dem indirekten Krieg um die künftige Weltordnung – geführt auch und besonders auf dem Boden der Ukraine: ob also die NATO ihre Einflusssphären strukturell weiter ausbauen kann oder ihre Expansion gestoppt wird; ob Russland die Rest-Ukraine final an den Westen verliert oder sie zwingen kann, wieder als neutraler Pufferstaat zwischen der NATO und der Russischen Föderation zu fungieren. Die Entscheidung in die eine oder andere Richtung hat ihre Auswirkung auf die Gestaltung der künftigen Weltordnung, auch wenn der bereits eingeschlagene Multipolarisierungsprozess nicht mehr aufzuhalten sein wird.

Um welche Gestaltungsoptionen geht es aber? Es ist der Kampf zwischen den Protagonisten der Restauration der alten, der unipolaren Weltordnung – gewissermaßen eines Weltstaates unter Führung der USA –, mindestens aber dem Einfrieren des Status quo als Rückfalllinie, was eine Teilung der Welt in den Westen und den Nichtwesten zementieren würde auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist es das Streben der Protagonisten einer neuen, einer multipolaren Weltordnung. Dort, in der nichtwestlichen Welt, sehen sich neben China und Russland auch Indien und Brasilien sowie weitere Staaten (Iran, Indonesien, Türkei, Saudi-Arabien etc.) als Pole einer auf Souveränität basierenden Staatenwelt. Als Pol in der westlichen Welt sind und bleiben die USA unangefochten die Nummer eins. Ob die EU einen eigenständigen Pol oder – skeptischer formuliert – überhaupt einen Pol darstellen oder nicht viel mehr als ein Pseudopol, ein Anhängsel der USA sein werden, ist noch nicht entschieden. Derzeit gibt es wenig Grund zu Optimismus.

Das Wesen der Übergangsphasen

Wie ich bereits in früheren Beiträgen auf den NachDenkSeiten ausgeführt habe, sind Epochenbrüche besonders konfliktreich, da der Macht verlierende Akteur diese Entwicklung in der Regel nicht widerstandslos hinnehmen und der Macht gewinnende Akteur seinen Machtgewinn auch in einem Plus von Einflusszonen und mehr Mitspracherecht in internationalen Regierungsorganisationen sowie von der Weltöffentlichkeit anerkannt sehen will. Diese Übergangsphasenkonflikte können grob gesagt auf zwei Arten gelöst werden: nichtmilitärisch oder militärisch.

Der Krieg um die Ukraine, also der zweite Krieg, der indirekte Krieg zwischen dem Westen und Russland über die künftige Weltordnung ist nicht auf die Geografie der Ukraine zu reduzieren. Er findet auch als Stellvertreterkrieg im Nahen Osten statt. Er ist nicht an einen spezifischen Raum gebunden. Beide Kriege sind lediglich der konkrete Ausdruck des eigentlichen, des übergeordneten Konflikts, dem Kampf um die neue Weltordnung.

In der Logik ist der Weltordnungskrieg, exekutiert über Stellvertreter, älter. Er muss älter sein als der erste Krieg in der Ukraine oder der neue Krieg im Nahen Osten, da er ursächlich ist. Warum der Krieg noch nicht um Taiwan, im indopazifischen Raum oder in der Arktis bzw. der Nordost-Passage ausgefochten wird, erklärt sich damit, dass diese Kriege keine Stellvertreterkriege, sondern direkte Kriege zwischen dem Westen und Russland oder China – also den Großmächten – wären, was bislang vermieden wird. Sie werden vermieden, weil beide Seiten über Atomwaffen verfügen, die bislang noch eine abschreckende Wirkung entfalten – bislang. Die militärische Lösungsoption bestehender politischer Konflikte hatte im nichtnuklearen Zeitalter eine rationale, wenn auch grausame Grundlage: Die Fortsetzung der Politik mit anderen (militärischen) Mitteln, um das politische Ziel zu erreichen. Dieser von Carl von Clausewitz durchbuchstabierte Sinn des Krieges muss zwischen Atomwaffenstaaten als nicht mehr rationales Verfahren zurückgewiesen werden, sofern man den Krieg im Geiste von Clausewitz‘ als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und nicht als Selbstzweck betrachtet. Bislang orientieren sich die politischen Entscheider in Washington, Moskau und Peking noch an von Clausewitz und somit an der Nichtführbarkeit eines Atomkrieges.

Titelbild: Shutterstock / Serdarkeskiin


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