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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: „Von Panzern zu Tweets“ – Wie wir in den Informationskrieg gerieten
Datum: 21. Oktober 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Das Thema der russischen Desinformation ist gerade wieder sehr aktuell. Nicht nur warf Wirtschaftsminister Habeck in einer Wahlkampfveranstaltung der AfD und dem BSW vor, von Moskau und Peking finanziell unterstützt zu werden und sich für ihre Meinung zur Ukraine bezahlen zu lassen sowie Trollarmeen aufzubauen. Auch der bayerische Landesverfassungsschutz beobachtet(e?) unter dem Vorwurf „der Unterstützung russischer Narrative“ die Berliner Zeitung und auch die NachDenkSeiten. Und die Diskussion um die sogenannten „Trusted Flagger“ – private Hinweisgeber, die im Zusammenspiel mit großen Medienunternehmen die staatliche Aufgabe der Zensur übernehmen – erhitzt aktuell die Gemüter. Aber wie sind wir eigentlich in eine politische Kultur geraten, in der Kritik an innen- oder außenpolitischen Entscheidungen inzwischen schon reflexhaft als „prorussische Propaganda“ tituliert wird, nicht mehr auf die Inhalte eingegangen oder auf Sachebene diskutiert wird? War das eine organische Entwicklung oder wurde sie aktiv vorangetrieben? Eine Spurensuche von Maike Gosch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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In einem Artikel auf den NachDenkSeiten im Juni dieses Jahres („Wie aus ‚Zensur‘ der ‚Kampf gegen Desinformation‘ wurde“) schrieb ich:
„Früher nannte man es „Zensur“, wenn staatliche Stellen unliebsame und abweichende Meinungen einschränkten, kontrollierten oder verboten. Seit einiger Zeit ist dieser Begriff fast aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden und damit gefühlt auch das gesamte politische, juristische und kulturelle Erbe, welches mit der Auseinandersetzung um Zensur und der Erkämpfung von Meinungsfreiheit einherging. Dafür ist jetzt der „Kampf gegen Desinformation“ als Konzept und Aktivität omnipräsent geworden. Wie ist es zu dieser Diskursverschiebung gekommen, welche Interessen und Akteure stehen dahinter und welche Krisen haben die Zwischenschritte dieser Entwicklung begünstigt?
Zu Recht wurde von einigen Lesern moniert, dass ich in dem Artikel nicht wirklich auf die Interessen und Akteure eingegangen bin, die diese Entwicklung im Hintergrund vorbereitet und begünstigt haben. Es ist ein kompliziertes Feld mit unglaublich vielen Akteuren und Organisationen, und je mehr ich dazu recherchiere, desto mehr wird mir klar, wie viele Aktivitäten, Konferenzen, Planspiele, Fortbildungen es zur Vorbereitung der „Desinformations“-Narrative oder -Problematik (je nachdem, wie skeptisch man dem gegenübersteht) gegeben hat und wie viele NGOs (Nichtregierungsorganisationen), Institute, militärische und geheimdienstliche Organisationen und Aktivitäten es in diesem Bereich gibt; und auch, wie lange man zurückgehen muss, um die Anfänge zu erhaschen.
Einige Elemente habe ich schon in meinen Artikeln über die Erkenntnisse aus den Twitter-Files und den „Censorship Industrial Komplex“ und über die Methode des „Pre-Bunking“ im Ukraine-Krieg und der Covid-Krise versucht, darzulegen. Weitere Puzzlesteine möchte ich in den folgenden Wochen liefern.
Beginne am Anfang
Wie sind wir in eine politische Kultur geraten, in der Kritik an innenpolitischen oder außenpolitischen Entscheidungen oder Berichterstattungen inzwischen fast schon reflexhaft als „prorussische Propaganda“ tituliert wird und nicht mehr auf die Inhalte eingegangen oder auf Sachebene diskutiert wird?
Ich bin mir dabei der Ironie bewusst, die darin liegt, dass ich hier darüber schreibe, wie es zu der Paranoia und Verschwörungstheorie der russischen Fernsteuerung des gesamten Dissenses in der westlichen Welt gekommen ist, und dabei selbst Verschwörungen und massiv gesteuerte Anstrengungen durch westliche Geheimdienste, Militär, Regierungsstellen und regierungsnahe NGOs behaupte und aufzudecken versuche. Es ist im Grunde eine Verschwörungstheorie über die Entstehung einer Verschwörungstheorie. Aber folgen Sie mir ein wenig weiter auf meinem Weg hinab in den Kaninchenbau.
Wie immer ist es schwer zu wissen, wo eine Entwicklung genau anfängt. Ich habe mir mal ein Medienereignis aus dem Jahr 2013 herausgegriffen, wobei dies sicher nicht den Anfang dieser Entwicklung darstellte, aber vielleicht einen wichtigen Meilenstein oder Baustein der Erzählung:
Die Gerassimow-Doktrin
Oder: Wie das „Missverständnis“ einer Rede des Generalstabschefs der russischen Streitkräfte, Waleri Gerassimow, zur größten Zensuroffensive der NATO führte:
Ende Januar 2013 hielt Waleri Gerassimow eine Rede vor der Jahresvollversammlung der Akademie der Militärwissenschaften Russlands (AVN). Der Titel der Rede war „Grundlegende Tendenzen der Entwicklung der Formen und Methoden des Einsatzes der Streitkräfte – Die aktuellen Aufgaben zur Verbesserung der Militärwissenschaft“. (Valerij V. Gerassimov „Cennost’ nauki v predvidenii“, abgedruckt in Voenno-Promyšlennyj Kur’er, 27. Februar 2013)
In dieser Rede sagte er unter anderem folgende Sätze:
„Im 21. Jahrhundert besteht die Tendenz, die Unterschiede zwischen Kriegs- und Friedenszustand zu verwischen. Kriege werden nicht mehr erklärt, und wenn sie einmal beginnen, folgen sie nicht mehr dem gewohnten Muster.
Die Erfahrung militärischer Konflikte, einschließlich solcher im Zusammenhang mit den sogenannten Farbrevolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten, bestätigt, dass ein völlig wohlhabender Staat innerhalb weniger Monate und sogar Tage zu einem Schauplatz erbitterter bewaffneter Kämpfe werden und als Opfer einer ausländischen Intervention in den Abgrund von Chaos, humanitärer Katastrophe und Bürgerkrieg stürzen kann.“
Unter der Überschrift „Lehren aus dem Arabischen Frühling“ fügte er dann hinzu:
„Am einfachsten lässt sich natürlich sagen, dass es sich bei den Ereignissen des „Arabischen Frühlings“ nicht um einen Krieg handelt, sodass wir, das Militär, dort nichts zu studieren haben. Oder sind diese Ereignisse im Gegenteil ein typischer Krieg des 21. Jahrhunderts?
Hinsichtlich des Ausmaßes der Verluste und Zerstörungen sowie der katastrophalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen sind solche neuartigen Konflikte mit den Folgen eines echten Krieges selbst vergleichbar.
Und die „Kriegsregeln“ selbst haben sich erheblich geändert. Die Rolle nichtmilitärischer Methoden zur Erreichung politischer und strategischer Ziele hat zugenommen, die in ihrer Wirksamkeit die Gewalt von Waffen teilweise deutlich übertroffen haben.
Der Schwerpunkt der eingesetzten Konfrontationsmethoden verlagert sich auf den weit verbreiteten Einsatz politischer, wirtschaftlicher, informativer, humanitärer und anderer nichtmilitärischer Maßnahmen, die unter Ausnutzung des Protestpotenzials der Bevölkerung umgesetzt werden. All dies wird durch verdeckte militärische Maßnahmen ergänzt, darunter die Umsetzung von Informationskriegsmaßnahmen und die Aktionen von Spezialeinheiten. Auf den offenen Einsatz von Gewalt unter dem Deckmantel der Friedenssicherung und Krisenbewältigung greifen sie oft erst irgendwann zurück, vor allem, um einen endgültigen Erfolg im Konflikt zu erreichen.
Dies führt zu logischen Fragen: Was ist moderner Krieg, worauf sollte die Armee vorbereitet sein, womit sollte sie bewaffnet sein? Nur durch die Beantwortung dieser Fragen können wir langfristig die Richtungen für den Aufbau und die Entwicklung der Streitkräfte festlegen. Dazu müssen wir klar verstehen, welche Formen und Methoden ihrer Anwendung wir verwenden werden.
(…) Asymmetrische Aktionen sind weit verbreitet und ermöglichen es, die Überlegenheit des Feindes im bewaffneten Kampf zu neutralisieren. Dazu gehören der Einsatz von Spezialeinheiten und interner Opposition zur Schaffung einer dauerhaften Front auf dem gesamten Territorium des gegnerischen Staates sowie Informationsmaßnahmen, deren Formen und Methoden ständig verbessert werden.“
Warum ist diese Rede des höchsten russischen Militärs von 2013 heute noch relevant? Weil ihre Rezeption und Interpretation durch westliche Kommentatoren eine sehr wichtige Rolle dabei spielten, die Bedrohung durch russische Desinformation als Form hybrider Kriegsführung in der Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit aufzubauen. Damit lieferte sie eine der wichtigsten Rechtfertigungen dafür, dass wir im Westen, also in den USA und in der EU, in einen „Informationskrieg“ mit Russland und internen Oppositionskräften eingetreten sind, in dem seitdem immer stärker hochgerüstet wird.
Es wurde also die Geschichte erzählt, es bestünde eine massive Bedrohung durch diese neue Strategie von Seiten Russlands, auf die wir uns im Westen vorbereiten müssen und der wir – defensiv – entgegentreten müssen.
Paranoia und Panik oder Perfidie und Propaganda?
Die Rede wurde im Westen zunächst nicht weiter beachtet, aber dann wurde sie von Robert Coalson, der für Radio Free Europe/Radio Liberty, dem von der US-Regierung finanzierten Sender, arbeitete, an den britischen Außenpolitik-Experten Mark Galeotti weitergeleitet. Galeotti veröffentlichte die Rede in seinem Blog „In Moskow’s Shadow“ am 6. Juli 2014 und machte dazu einige Anmerkungen, die große Wellen schlugen und die Rezeption im Westen maßgeblich bestimmten. Er überschrieb zudem die Rede und den Blogbeitrag mit dem Titel „Die Gerassimow-Doktrin“ und prägte damit einen Begriff, der in der Folge von Hunderten von Kommentatoren aufgegriffen wurde.
Was war die Anmerkung, die über den Titel hinaus so prägende Folgen auf die weiteren Entwicklungen hatte? Er zitiert den folgenden Ausschnitt der Rede (bereits oben zitiert):
„Im 21. Jahrhundert besteht die Tendenz, die Unterschiede zwischen Kriegs- und Friedenszustand zu verwischen. Kriege werden nicht mehr erklärt, und wenn sie einmal beginnen, folgen sie nicht mehr dem gewohnten Muster.
Die Erfahrung militärischer Konflikte, einschließlich solcher im Zusammenhang mit den sogenannten Farbrevolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten, bestätigt, dass ein völlig wohlhabender Staat innerhalb weniger Monate und sogar Tage zu einem Schauplatz erbitterter bewaffneter Kämpfe werden und als Opfer einer ausländischen Intervention in den Abgrund von Chaos, humanitärer Katastrophe und Bürgerkrieg stürzen kann.“
Und fügt dann folgende Anmerkung hinzu:
„Es gibt einen alten rhetorischen Trick aus der sowjetischen Ära, bei der eine ‚Warnung’ oder eine ‚Lehre’ aus einer anderen Situation verwendet wird, um eine eigene Absicht und einen eigenen Plan zu beschreiben. Die Art und Weise, wie das, was als nachträgliche Analyse des Arabischen Frühlings dargestellt wird, so stark auf das übertragen werden kann, was in der Ukraine getan wurde, ist bemerkenswert. Indem der Arabische Frühling fälschlicherweise als Ergebnis geheimer westlicher Operationen dargestellt wird, gibt Gerassimow sich die Freiheit, auch darüber zu sprechen, worüber er vielleicht wirklich sprechen möchte: darüber, wie Russland Staaten untergraben und zerstören kann, ohne direkte, offene und groß angelegte militärische Intervention. Die Annahme jedoch, dass dies zunächst ein westlicher Schachzug ist, scheint er tatsächlich selbst zu glauben.”
Das kann man schon nicht mehr als „weit hergeholt“ bezeichnen. Hier wird sogar das Phänomen der „Projektion“ auf den Gegner „projiziert“. Gerassimow spricht hier ziemlich offensichtlich von einer westlichen oder US-amerikanischen Taktik („Farbenrevolutionen“, „Arabischer Frühling“) und deutet an, dass Russland sich darauf vorbereiten und dafür wappnen muss, dass Kriege und Konflikte auch auf eine solche Art hybrid geführt oder unterstützt werden. Man kann darüber streiten, ob es sich bei den „Farbenrevolutionen“ und dem „Arabischen Frühling“ um rein organische nationale Erhebungen und Proteste handelte oder ob diese von westlichen Geheimdiensten stark finanziell unterstützt, PR-mäßig begleitet und teilweise auch orchestriert wurden (wobei es meiner Ansicht nach genug Belege für Variante zwei gibt). Aber dass, wenn ein russischer Militär über diese Ereignisse spricht, er damit eine russische Taktik beschreibt, ist offensichtlich abwegig. Galeottis Gedankenlesen und Unterstellungen finden meiner Ansicht nach daher keine Stütze in dem Text.
Zwar gab Mark Galeotti, der früher für das britische Außenministerium arbeitete und als ein wichtiger NATO-Theoretiker gilt, später selbst zu, dass sein Artikel ursächlich für die gewaltige Täter-Opfer-Umkehr durch Hunderte von Artikeln und Kommentatoren in der Folge war und dass die Bezeichnung „Gerassimow-Doktrin“ einen falschen Eindruck erweckte, und klärte über den tatsächlichen Inhalt auf:
„Gerassimow sprach tatsächlich darüber, wie der Kreml versteht, was bei den Aufständen des „Arabischen Frühlings“, den „Farbrevolutionen“ gegen pro-Moskauer Regime in Russlands Nachbarschaft und schließlich beim „Maidan“-Aufstand in der Ukraine geschah. Die Russen glauben ehrlich — wenn auch falsch —, dass dies keine echten Proteste gegen brutale und korrupte Regierungen waren, sondern von Washington, genauer gesagt Langley inszenierte Regimewechsel. Das war keine „Doktrin“, wie es die Russen verstehen, für zukünftige Abenteuer im Ausland: Gerassimov versuchte herauszufinden, wie man solche Aufstände zu Hause bekämpfen und nicht fördern könnte.”
Er beschreibt es in seinem Artikel aber so, als wäre er einfach missverstanden worden und dieses Missverständnis habe dann ein Eigenleben entwickelt. Wenn wir uns seine Formulierungen in der Anmerkung oben aber genau ansehen, dann fällt es mir schwer, hier nicht an eine propagandistische Absicht zu glauben. Zusätzlich erfolgte diese Richtigstellung auch erst im Jahr 2018, also vier Jahre nach dem ursprünglichen Artikel, sodass der Schaden längst entstanden war und auch nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Das Kind war längst in den Brunnen gefallen und das Schreckgespenst eines Großangriffs durch russische hybride Kriegsführung in der Welt.
Dr. Mark Galeotti war es übrigens auch, der im Jahr 2017 (zusammen mit vielen) dann die aufsteigende Gefahr des „Populismus“ beschwor.
Ich erinnere mich noch daran, wie dieser Begriff (Populisten) im deutschen politischen Diskurs auftauchte. Vorher waren zum Beispiel „rechte“ oder „rechtsextreme“ Parteien oder Organisationen nie als „populistisch“ bezeichnet worden. Das wäre allen auch viel zu positiv vorgekommen. Der Begriff fiel höchstens einmal in Bezug auf „Bierzeltreden“ der CSU oder Ähnliches. Auch dieser Begriff und das Gedankengebäude darum herum tauchten erst um das Jahr 2016 herum bzw. nahmen eine negative Färbung auf und wurden in meinen Augen massiv propagandistisch instrumentalisiert.
Jetzt wird zurückmanipuliert
Bereits im September 2014, also wenige Monate, nachdem die „Gerassimow-Doktrin“ durch die Medienwelt und die Welt der Militärexperten geisterte, beschloss die NATO in ihrer Abschlusserklärung ihres Gipfeltreffens in Wales:
„Wir werden sicherstellen, dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen, bei dem eine große Bandbreite an offenen und verdeckten militärischen, paramilitärischen und zivilen Maßnahmen auf hochabgestimmte Weise eingesetzt wird.“
Die NATO hat also aus ihrer Sicht ihre Strategie angepasst, um besser auf Cyberangriffe, Informationskriege und andere hybride Bedrohungen reagieren zu können.
Das heißt natürlich nicht, dass diese Änderung und Neuausrichtung der NATO-Strategie allein auf dem „Missverständnis“ in Galeottis Blog beruhte: Eine der wichtigsten Ursachen war natürlich die Situation rund um den Machtwechsel (Putsch/Revolution) in der Ukraine im Februar 2014 und das darauf folgende Gefühl der westlichen (insbesondere anglo-amerikanischen) Mächte des Verlustes der narrativen Kontrolle nach der Annexion/Abspaltung der Krim-Halbinsel, welches sich im Ergebnis des umstrittenen Referendums im März 2014 über den Status der Insel zeigte. Die westlichen Mächte deuteten diese Niederlage als Zeichen dafür, dass russische Desinformation die Bevölkerung in die Irre geführt hatte. Andere Deutungen sind sicher möglich.
In dieser Abschlusserklärung wurde auch die Einrichtung des NATO-verbundenen „Strategic Communications Centre of Excellence“ (NATO STRATCOM COE) in Riga/Lettland begrüßt.
„Es ist von entscheidender Bedeutung, dass das Bündnis über die notwendigen Instrumente und Verfahren verfügt, die für eine wirksame Abschreckung und Reaktion auf Bedrohungen durch hybride Kriegführung erforderlich sind, sowie über die Fähigkeiten zur Verstärkung der nationalen Streitkräfte. Dazu gehören auch die Verbesserung der strategischen Kommunikation, die Entwicklung von Übungsszenarien im Hinblick auf hybride Bedrohungen und die Stärkung der Koordinierung zwischen der NATO und anderen Organisationen im Einklang mit den einschlägigen Beschlüssen, um den Informationsaustausch, die politischen Konsultationen und die Koordinierung zwischen den Mitarbeitern zu verbessern. Wir begrüßen die Einrichtung des von der NATO akkreditierten Exzellenzzentrums für strategische Kommunikation in Lettland als einen bedeutenden Beitrag zu den Bemühungen der NATO in diesem Bereich. Wir haben den Auftrag erteilt, die Arbeiten zur hybriden Kriegsführung parallel zur Umsetzung des Readiness-Aktionsplans zu überprüfen.“
Entsprechend wurde auf dem Treffen des Nordatlantikrats in Warschau im Juni 2016 die NATO-Charta verändert, um die sogenannte hybride Kriegsführung („hybrid warfare“) zuzulassen:
„37. Mit den längerfristigen Anpassungsmaßnahmen des Aktionsplans zur Reaktionsfähigkeit haben wir (…)
- eine Strategie zur Rolle der NATO bei der Verteidigung gegen die hybride Kriegsführung vereinbart, die derzeit in Abstimmung mit der EU umgesetzt wird,“
Was genau ist damit gemeint? Hybride Kriegsführung ist eine Strategie, die konventionelle militärische Mittel (wie Panzer und Soldaten) mit unkonventionellen Methoden (wie Cyberangriffe, Desinformation, wirtschaftlicher Druck oder Einflussnahme durch soziale Medien) kombiniert. Das Ziel ist es, den Gegner auf verschiedenen Ebenen zu destabilisieren und seine Handlungsfähigkeit einzuschränken, ohne unbedingt einen offenen Krieg zu führen. Die NATO erklärt ihre Neuausrichtung also damit, dass Bedrohungen sich nicht mehr nur auf klassische militärische Auseinandersetzungen beschränken, sondern dass moderne Konflikte auch auf digitaler Ebene und in den Medien stattfinden.
Dies wurde auch als Änderung der Strategie „From Tanks to Tweets“ (von Panzern zu Kurznachrichten auf Twitter/X) bezeichnet. Während Panzer (klassische militärische Macht) weiterhin wichtig sind, müssen auch neue Werkzeuge (wie soziale Medien und Cyberfähigkeiten) in der Verteidigungsstrategie berücksichtigt werden.
Die Rolle der „Centres of Excellence”
Nach dieser Änderung der Strategie wurde mit der Einrichtung von sogenannten „Centres of Excellence“ begonnen. Siehe hierzu den folgenden Text auf der NATO-Website:
„Im Rahmen ihrer zunehmend engeren Zusammenarbeit haben die NATO und die EU ihre Kooperation bei der Bewältigung hybrider Bedrohungen intensiviert, wobei der Schwerpunkt auf Cyberverteidigung, erhöhter Widerstandsfähigkeit, strategischer Kommunikation, verbessertem Situationsbewusstsein und Übungen liegt. Die NATO arbeitet auch mit Partnern in der indo-pazifischen Region zusammen, um Erfahrungen mit nationalen Ansätzen zur Bekämpfung hybrider Bedrohungen, wie z.B. der zunehmenden Verbreitung von Desinformation und Cyberangriffen, auszutauschen. Dies war im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie besonders wertvoll.
Die NATO hat auch mit der Ukraine zusammengearbeitet, um hybride Bedrohungen zu bekämpfen, und zwar sowohl vor dem Einmarsch Russlands als auch danach. Die NATO-Ukraine-Plattform zur Bekämpfung hybrider Kriegführung wurde auf dem NATO-Gipfel in Warschau im Juli 2016 eingerichtet. Sie bietet einen Mechanismus zur besseren Identifizierung hybrider Bedrohungen und zum Aufbau von Kapazitäten zur Minderung von Schwachstellen und zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft. Die Plattform hat Forschung, Ausbildung und Expertenkonsultationen unterstützt, wobei der Schwerpunkt auf den Lehren aus der Vergangenheit, der Bekämpfung von Desinformation und der Stärkung der Widerstandsfähigkeit lag.
Neben der Zusammenarbeit mit bestimmten Partnern arbeiten auch Exzellenzzentren mit der Allianz zusammen und bringen Wissen und Fachkenntnisse in die Allianz ein. Dabei handelt es sich um internationale Forschungszentren, die auf nationaler oder multinationaler Ebene finanziert und personell ausgestattet werden. (Hervorhebung M.G.)
Das Europäische Exzellenzzentrum für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen mit Sitz in Helsinki/Finnland dient als Kompetenzzentrum und unterstützt die teilnehmenden Länder bei der Verbesserung ihrer zivil-militärischen Fähigkeiten, ihrer Widerstandsfähigkeit und ihrer Bereitschaft zur Bekämpfung hybrider Bedrohungen. Es wurde im Oktober 2017 von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gemeinsam mit der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik/Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Federica Mogherini, eingeweiht. Das Zentrum ist eine Initiative der finnischen Regierung, die von 32 anderen Ländern sowie von der NATO und der EU unterstützt wird.“
Was passierte jetzt genau in diesen Centres of Excellence (CoE), die in Helsinki/Finnland und in Riga/Lettland eingerichtet wurden, außerdem Einrichtungen wie das Exzellenzzentrum für kooperative Cyberverteidigung in Tallinn/Estland und das Exzellenzzentrum für Energiesicherheit in Vilnius/Litauen?
Ein Bericht für die Fraktion Die Linke/The Left des Europäischen Parlaments vom Juli 2021 beschrieb sie folgendermaßen (S. 23):
„Ein Netzwerk von mit der NATO verbundenen Denkfabriken in Ost- und Mitteleuropa, darunter die Exzellenzzentren und separat das slowakische GLOBSEC, sind ein Bestandteil dieser Bemühungen. Diese Organisationen befassen sich mit digitaler Kriegsführung und Cyberkrieg, Öffentlichkeitsarbeit und der Konsolidierung der Zivilgesellschaft hinter den Prioritäten der NATO an ihrer Ostflanke. Durch ihre Aktivitäten zielen sie darauf ab, die öffentliche Meinung direkt durch sogenannte strategische Kommunikation und indirekt durch Militärübungen und Konferenzen zu beeinflussen.”
In dem Bericht finden sich auch noch sehr viele weitere wichtige Informationen und Details – es lohnt sich, einmal reinzulesen.
Hier noch ein Detail, das aber – ebenso wie die Geschichte um die angebliche „Gerassimow-Doktrin“ – paradigmatisch für die Vorgehensweise dieser Zentren ist: Im Jahr 2021 veröffentlichte eines dieser „Centres of Excellence“ (in Riga/Lettland) den „NATO Cyber Report“. Dieser Bericht beginnt mit den folgenden einleitenden Worten:
„Schlagzeilen, die Russland mit dem vagen Begriff ‚Cyber’ in Verbindung bringen, sind für die westliche Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger gleichermaßen zum täglichen Brot geworden. Von den Schäden, die NotPetya (Anm. M.G.: Ein massiver Cyberangriff in der Ukraine, der Russland zur Last gelegt wurde, den es aber bestritten hat) angerichtet hat, über die Angriffe auf die Ukraine und Georgien bis hin zu Russlands Hacking- und Leak-Operationen bei den Wahlen in den USA und Europa – Russlands offensive Operationen sind eine ständige Bedrohung.“
Die Hacking- und Leak-Operationen, von denen hier die Rede ist, beziehen sich wohl auf die „Russiagate“-Vorwürfe aus den USA, die aber bereits im Jahr 2019 im Rahmen der Mueller-Anhörungen als weitgehend substanzlos enttarnt worden waren. Da aber die Vorwürfe über Jahre durch die Presse konstant wiederholt wurden, während über die Entkräftung der Vorwürfe nicht annähernd im gleichen Maße berichtet wurde, werden diese Falschinformationen hier (und sehr häufig in diesem Zusammenhang) einfach weiterverbreitet.
Und jetzt achte man genau auf die folgende Textstelle (S. 5), in der es generell um die russische Strategie in Bezug auf „Cyber-Kriegsführung“ geht:
„Das russische Verteidigungsministerium beschreibt die Informationskonfrontation als den Konflikt nationaler Interessen und Ideen, bei dem eine Überlegenheit angestrebt wird, indem man die Informationsinfrastruktur des Gegners ins Visier nimmt und gleichzeitig seine eigenen Objekte vor ähnlichen Einflüssen schützt. Die Übersetzung des Begriffs ‚informatsionnoe protivoborstvo‘ ins Englische hat sich als schwierig erwiesen und wurde oft fälschlicherweise mit ‚information warfare‘ (‚informacionnaja vojna‘) übersetzt, obwohl protivoborstvo eher ‚Kampf gegen etwas’, ‚Gegenmaßnahme’ oder ‚Reaktion’ als ‚Kriegsführung’ bedeutet. In diesem Papier wird der Begriff ‚information confrontation’ verwendet, da er sich in Diskussionen über feindliche russische Informationsaktivitäten etabliert hat.“
Hier sehen wir also, wie eine russische Strategie, die nach dem russischen Begriff die Verteidigung gegen Maßnahmen eines Gegners im Informationskrieg zum Inhalt hat, einfach mal umgedeutet und den Lesern als Strategie eines Angriffs untergeschoben und in der Form dann auch von allen Journalisten, Berichterstattern etc. aufgegriffen wird, obwohl man hier und an anderer Stelle in dem Report offen zugegeben hat, dass es sich (zumindest aus Russlands Sicht) um defensive Maßnahmen handelt:
„Was aus ihrer (also russischer) Sicht wichtig ist, ist, dass Russland sein eigenes Handeln als defensiv empfindet und es das Ziel hat, potenzielle Konflikte und Vergeltungsmaßnahmen zu verhindern und ihre Eskalation zu kontrollieren, indem man unterhalb der Schwelle des Westens für bewaffnete Konflikte bleibt.“
(Quelle: stratcomcoe.org – Nato-Cyber-Report 11.06.2021.pdf, S. 9)
Wir beobachten zurück
Worauf will ich mit diesem Artikel hinaus? Es geht nicht darum, zu sagen, dass Russland nicht auch aktiv hybride Kriegsführung betreibt. Und sicher werden wir – wie bei einem Sandkastenstreit – nie klären können, wer damit „angefangen hat“. Es ist aber meiner Ansicht nach sehr wichtig zu verstehen, wie die aktuelle Struktur des öffentlichen Diskurses entstanden ist (oder wie sie geschaffen wurde), die dazu geführt hat, dass das tatsächliche oder vorgeschobene Gefühl der Bedrohung durch „russische Desinformation“ die mediale und politische Debatte um geopolitische Themen derart dominiert, dass damit jede sachliche oder faktenbasierte Auseinandersetzung und Klärung niedergeschlagen wird.
Und das erinnert mich stark an das – meiner Meinung nach – vorbereitete und quasi vorstrukturierte Kommunikationsumfeld zu Zeiten der Coronakrise. Hier wie dort scheinen mir die vorbereitenden Planspiele eine große Rolle gespielt zu haben, ebenso wie der Aufbau von Bedrohungsszenarien durch bewusste und bösartige Desinformation eines geopolitischen oder inneren Gegners. Diese führt dazu, dass dann, wenn Dissens innerhalb der Bevölkerung oder in der politischen Auseinandersatzung auftritt, dieser nicht mehr als das gesehen wird, was er vorher meist war: eine andere Meinung, eine andere Einschätzung der Situation etc. Letztere werden so in einen feindlichen kriegerischen Angriff umgedeutet, den es abzuwehren gilt.
Das ganze System dieser kommunikativen Vorbereitung ist viel zu groß und umfangreich, um es in diesem Artikel darzulegen. Aber hiermit ist ein Anfang gemacht, und ich hoffe, es ermuntert viele politisch interessierte Leser und Leserinnen, sich mit den NATO-Aktivitäten und den vielen Aktivitäten und Organisationen in diesem Feld vertrauter zu machen. Denn die hybride Kriegsführung richtet sich leider nicht nur gegen unsere „Feinde“, sondern sie schafft auch Feinde und sie richtet sich gegen uns, die eigene Bevölkerung – und das mit unseren Steuergeldern und in unserem Namen. Auch hier, wie in so vielen anderen Bereichen, wird es Zeit, als Bürger wacher zu werden und aufmerksamer hinzuschauen – auch darauf, was unser Militär und unsere Militärbündnisse, die eigentlich für unsere Sicherheit sorgen sollen, genau tun.
Titelbild: Shutterstock / New Africa
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