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Titel: Die neue Wohnungsnot

Datum: 20. Februar 2012 um 8:43 Uhr
Rubrik: Schulden - Sparen, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Über 600 Kältetote in Ost- bzw. Ostmitteleuropa erregten zuletzt großes Aufsehen. Gleichzeitig explodiert die Zahl der Obdachlosen in Griechenland, das von der EU und dem IWF „kaputtsaniert“ wird, geradezu. Dort ist es zwar wärmer als im Osten des Kontinents, ein Leben auf der Straße aber nicht minder beschämend, besonders für jene „Neuarmen“, die als unmittelbare Opfer der rigiden „Sparauflagen“ des Finanzimperialismus vom sozialen Absturz betroffen sind. Auch hierzulande sind erfrorene und an offenen Feuern verbrannte Obdachlose zu beklagen, ohne dass sich Politik und Öffentlichkeit bisher ernsthaft mit dem Problem beschäftigt hätten. Dabei gehört eine warme Wohnung aufgrund der klimatischen Gegebenheiten bei uns zur verfassungsrechtlich geschützten Menschenwürde. Sein Obdach etwa im Falle der Überschuldung durch eine Zwangsräumung zu verlieren bedeutet einen Schritt in die absolute, extreme oder existenzielle Armut. Von Christoph Butterwegge.

Während die Statistiker beispielsweise genau erfassen, wie viele Rammler es gibt, fehlen offizielle Zahlen darüber, wie viele Menschen ohne Wohnung dastehen. Umso notwendiger ist die Forderung an den Bund, für eine solide Datengrundlage zu sorgen, die es bisher nur in wenigen Bundesländern gibt. Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er-Jahre existieren Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe zufolge in der Bundesrepublik heute wieder fast 250.000 Wohnungslose, von denen ca. 22.000 auf der Straße leben. Darunter befinden sich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die „klassischen“ Obdachlosen genannt wurden. Stattdessen steigt die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von Selbstständigen, Freiberuflern und akademisch Gebildeten, die gewissermaßen „in die Gosse“ abrutschen.

Was man als Hauptmann-von-Köpenick-Paradox bezeichnen kann, dringt langsam vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft vor: Wer keine Arbeit hat, bekommt keine Wohnung, und wer keine Wohnung hat, bekommt keine Arbeit. Aus diesem Grund besetzte der straf- entlassene Schuster Friedrich Wilhelm Voigt, als kaiserlicher Offizier verkleidet, in Carl Zuckmayers berühmter Tragikomödie von 1930 mit unterwegs seinem Kommando unterstellten kaiserlichen Gardesoldaten das Rathaus einer nahe Berlin gelegenen Stadt, konnte sich dort aber nicht den ersehnten Pass besorgen, weil die dafür zuständige Amtsstelle wider Erwarten fehlte.

Zwar spricht alle Welt von „Hartz IV“ und der „Bildungsarmut“ bei Kindern mit Migrationshintergrund, aber (fast) niemand über Wohnungsnot, die vielen Menschen droht, wenn man dieser Gefahr nicht entschlossener als bisher entgegenwirkt. Die überraschende Schließung ihres Betriebes, die Kündigung des eigenen Arbeitsverhältnisses sowie Ehekonflikte und Suchterkrankungen sind zwar Auslöser, nicht jedoch Ursachen der zunehmenden Wohnungslosigkeit, die in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen, den herrschenden Eigentumsverhältnissen und sich häufenden sozioökonomischen Krisenerscheinungen gesucht werden müssen.

Wenn die Wohnungen ebenso wie Waschmaschinen, Weinregale und Würstchen als Waren be- und gehandelt werden, können Menschen ohne bzw. mit geringem Einkommen auf dem entsprechenden Markt nicht mithalten. Seit geraumer Zeit wird Arbeit (für die Unternehmer) immer billiger, Wohnraum (für die Niedriglöhner) immer teurer. Während die Reallöhne sinken, steigen die Mieten – jedenfalls in den Ballungszentren und Boomtowns der Bundesrepublik. Die sich zuspitzenden Probleme auf manchen lokalen Wohnungsmärkten erwachsen aus dem heutigen Finanzmarktkapitalismus, dessen Hauptakteure das Immobiliengeschäft erobern, wenn man städtische Wohnungsbaugesellschaften privatisiert, Private-Equity-Firmen („Heuschrecken“) wie Blackstone, Cerberus oder Fortress massenhaft kommunale Wohnungsbestände aufkaufen, die für sie attraktive Spekulationsobjekte darstellen, und ganze Stadtviertel einem Prozess der Gentrifizierung unterworfen werden. Vormals preisgünstige Mietwohnungen werden teilweise systematisch heruntergewirtschaftet, saniert und zu teuren Eigentumswohnungen gemacht. Außerdem wird „Betongold“ im Gefolge der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise immer beliebter, weil die Anleger weitere Bankpleiten und Börsenzusammenbrüche fürchten. Dadurch steigen in bevorzugten Stadtlagen fast automatisch die Immobilienpreise und in deren Gefolge die Mieten. Eine überbordende Nachfrage bedeutet letztlich Mietmonopoly, also Klassenkampf auf dem Wohnungsmarkt.

Die durch zahlreiche Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenreformen verschiedener Bundesregierungen vorangetriebene US-Amerikanisierung des Sozialstaates führt zwangsläufig zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich), einer US-Amerikanisierung der Stadtentwicklung (Spaltung der Großstädte in Luxusquartiere, sog. Gated Communities, und Armengettos oder „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“, wie sie beschönigend genannt werden) und nicht zuletzt einer US-Amerikanisierung des sozialen Klimas (Reichtum gilt als Belohnung für „Leistungsträger“, Armut als gerechte Strafe für „Leistungsverweigerer“).

Mittlerweile ist der Wohlfahrtsstaat hierzulande so weit demontiert, dass er selbst Wohnungslosigkeit produziert. Genannt seien im Rahmen von Hartz IV das Aus- und Umzugsverbot für Unter-25-Jährige, die rigide Sanktionspraxis für diese Personengruppe (völlige Streichung des Arbeitslosengeldes II einschließlich der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach der zweiten Pflichtverletzung) sowie die im Frühjahr 2011 neu geschaffene Möglichkeit zur Ermächtigung der Kommunen durch das jeweilige Bundesland, eine Mietobergrenze oder eine Wohnpauschale festzusetzen. Dies würde einer Gettoisierung bzw. einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation, die sich in deutschen Großstädten bereits erkennen lässt, Vorschub leisten, denn zahlreiche Hartz-IV-Empfänger/innen wären gezwungen, ihre bisher vom zuständigen Grundsicherungsträger bezahlte Wohnung in einem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand zu ziehen, wo die Mieten niedriger sind.

Statt der Wohnungslosigkeit bekämpft das Establishment lieber die davon Betroffenen. Obdachlose sind die marktfernsten Mitglieder der Gesellschaft, denen aus diesem Grund im Zeichen der neoliberalen Globalisierung bzw. Modernisierung nur sehr geringe Ressourcen und wenige Unterstützungsmaßnahmen wie Notunterkünfte, Nachtasyle und Kältebusse zur Verfügung stehen. Für auf der Straße lebende Menschen gilt zudem ein besonders rigides Armutsregime: Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste sind typisch dafür.

Nötig wären stattdessen eine Umverteilung des privaten Reichtums, die Wiedererhebung der Vermögensteuer und die Wiederbelebung des Sozialen Wohnungsbaus. Ohne einen grundlegenden Kurswechsel in der Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik lässt sich die Wiederkehr massenhafter Obdachlosigkeit nie ausschließen. Auch ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, der dazu beitragen könnte, den ausufernden Niedriglohnsektor einzudämmen, sowie eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung, die ohne Pauschalierung der Wohn- und Heizkosten auskommt, gehören zu den erforderlichen Gegenmaßnahmen.

Dies möchte ich skandalisieren und daran die Forderung knüpfen, baldmöglichst wenigstens eine verlässliche Datengrundlage zu schaffen.

P.S.: Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Buch „Armut in einem reichen Land“, um die jüngsten Hartz-IV-Neuregelungen aktualisiert, im Campus Verlag (Frankfurt am Main/New York 2012) erschienen.


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