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Titel: Gescheitert, aber noch lebendig? Bericht von einer Konferenz in Moskau anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der DDR
Datum: 3. Oktober 2024 um 11:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Am 7. Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Aus Anlass des 75. Jahrestages dieses Ereignisses fand am 30. September in Moskau im Haus des Veteranenverbandes unter Beteiligung von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation eine wissenschaftliche Konferenz statt. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
Auf der Konferenz gab es Kritik an der sowjetischen Führung, welche die DDR wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen habe. Mehrere Redner argumentierten, die DDR sei von Westdeutschland okkupiert worden, eine Wiedergründung der DDR sei nötig und möglich. Wegen NATO-Militärtransporten über ostdeutsches Territorium sei die Kündigung des Zwei-plus-vier-Vertrages durch Russland wünschenswert. In einem Grußwort von Egon Krenz an die Konferenz schreibt der letzte SED-Generalsekretär, es sei das erste Mal, dass ein rundes DDR-Jubiläum „in einem Land stattfindet, das regierungsamtlich ‘kriegstüchtig’ gemacht wird, eine Aufgabe, die es in der DDR nie gab.“
Wir leben in stürmischen Zeiten. Wer hätte 1989/90 – als die Mauer gefallen war und sowjetische Militärklamotten auf Flohmärkten in Berlin begehrte Souvenirs waren –, gedacht, dass gut 30 Jahre später deutsche Panzer in der Ukraine gegen russische Panzer kämpfen werden. Wer hätte damals gedacht, dass eine deutsch-russische Gaspipeline in der Ostsee gesprengt wird und zwei Jahre später immer noch keine Anklage gegen die Täter erhoben wurde? Wer hätte gedacht, dass das 2015 geschlossene Abkommen „Minsk 2“ von Angela Merkel sieben Jahre später als taktischer Trick bezeichnet würde, um der ukrainischen Armee Zeit zur Aufrüstung zu geben? Wer konnte sich in Deutschland 2014 vorstellen, dass im „freien Teil von Europa“, zu dem ja jetzt auch die Ukraine gehören soll, am 2. Mai 2014 42 Menschen im Gewerkschaftshaus von Odessa verbrennen und die Täter bis heute nicht vor Gericht gestellt wurden?
Willst Du etwa die miefige DDR wieder?
In Zeiten, in denen sogar ein Atomkrieg in Europa nicht mehr ausgeschlossen scheint, ist es wohl kein Wunder, wenn ungewöhnliche Ideen auftauchen wie etwa die Idee auf der Moskauer Konferenz, die DDR neu zu gründen. Man kann so eine Idee als russischen Propagandatrick abtun und weiter den NATO-Erzählungen vom aggressiven Russland lauschen. Aber warum nicht einmal hinhören, was auf der Konferenz in Moskau überhaupt erzählt wurde? Und warum nur Westdeutschen, welche die Wiedervereinigung in Frage stellen, ein Forum geben? Auch die andere Seite muss gehört werden. Nur durch öffentliche Diskussion ist ein gedeihliches Miteinander im vereinigten Deutschland möglich.
Als ich die Treppen in den ersten Stock des Hauses der Veteranen in Moskau hochstieg, gingen mir die Worte einiger Freunde in Westdeutschland durch den Kopf. Immer dann, wenn ich über Vorzüge redete, welche die DDR auch hatte, schleuderten sie mir entgegen: „Du willst doch wohl nicht die miefige DDR zurück?“ Dass auch Westdeutschland in vielem ziemlich miefig ist, wird verdrängt.
Ein Referent: „DDR-Volk kann nicht umformatiert werden“
Der Versammlungsleiter – ein ostdeutscher Ingenieur, der seinen Namen nicht in einer deutschen Zeitung lesen will – meinte in seinem Einleitungsbeitrag, die Wahlergebnisse der letzten drei Regionalwahlen in Ostdeutschland hätten gezeigt, „dass die Propagandisten der kapitalistischen Gesellschaft das von der DDR geformte Volk nicht umformatieren können“. Rassismus, Menschenfeindlichkeit und Krieg seien „mit der Bevölkerung der DDR nicht machbar.“ Den „amerikanisierten Bundesbürgern“ sei der „allseitig gebildete und moralisch gefestigte DDR-Bürger weit voraus.“ Das Bündnis Sahra Wagenknecht lobte der Ingenieur als „nationales Rettungsbündnis“.
Der letzte Generalsekretär der SED, Egon Krenz, schickte an die Konferenz seinen Redebeitrag, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen konnte. In dem Beitrag, der auf der Konferenz verlesen wurde, fragte Krenz, ob es gerechtfertigt sei, „trotz unserer Niederlage an gelebte vierzig DDR-Jahre zu erinnern“, und antwortete, „der erste Arbeiterstaat der Welt war die Pariser Kommune. Sie hat 71 Monate überstanden und wurde blutig niedergeschlagen.“ Karl Marx habe die Pariser Kommune „als Vorboten einer neuen Gesellschaft“ bezeichnet. Weiter schreibt Krenz:
„Zu einem solchen Vorboten gehört für mich auch die Deutsche Demokratische Republik. Trotz eigener Fehler und der Stärke unserer Feinde haben wir im Zentrum Europas beweisen können: Ein Leben ohne Kapitalisten ist auch im industrialisierten Deutschland möglich.“
Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“
Als ich mich aufmachte, die Konferenz zur DDR im Moskauer „Haus der Veteranen“ zu besuchen, schwante mir, die Veranstaltung könne etwas mit der vom Leiter der deutschen Minderheit auf der Krim Juri Gempel im Februar 2024 angestoßenen Diskussion über eine mögliche Kündigung des Zwei-plus-Vier-Vertrages durch die russische Seite zu tun haben.
In dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, unterzeichnet im September 1990 in Moskau von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und den beiden deutschen Staaten, wurden die Grundlagen für die Sicherheitsfragen in Bezug auf das vereinigte Deutschland festgelegt.
In dem Vertrag heißt es unter anderem, „dass vom deutschen Boden nur Frieden ausgehen wird“. Die Führung eines Angriffskrieges ist laut Vertrag „strafbar“. Deutschland werde seine Waffen niemals einsetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.
Nach Meinung von Juri Gempel sei Deutschland aber gegen Russland militärisch aktiv und verstoße damit gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Meine Ahnung, dass der Zwei-plus-Vier-Vertrag ein Thema auf der Moskauer DDR-Konferenz sein würde, bestätigte sich. Liane Kilinc von der in Brandenburg gegründeten Organisation „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe“, die jetzt als Polit-Emigrantin in Moskau lebt, erklärte in ihrem Referat, es gäbe einige Hinweise darauf, dass die sowjetische Führung sich vom Westen 1990 habe über den Tisch ziehen lassen. Die Menschen der beiden deutschen Staaten seien „um die Chance betrogen worden“, ein neutrales Deutschland zu schaffen.
Eine Diskussion über eine neue Verfassung für den Fall der Wiedervereinigung, wie sie im westdeutschen Grundgesetz vorgeschrieben ist, hätte wahrscheinlich zu einem neutralen Deutschland geführt. Doch die westdeutsche Regierung wich einer Verfassungsdiskussion aus, indem sie einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik arrangierte.
Auch der Einigungsvertrag vom August 1990, der laut Kilinc zur Grundlage einer „feindlichen Übernahme“ wurde, sei offenbar von der sowjetischen Seite nicht ausreichend geprüft worden. In dem Einigungsvertrag hätten – so Kilinc – eindeutige Garantien über die Gleichwertigkeit der Berufsabschlüsse und die Chancengleichheit aller Parteien bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl gefehlt.
Ostdeutsches Eigentum
Einen Kontrapunkt zu der gängigen westdeutschen Erzählung von der deutschen Wiedervereinigung setzte auch der Ostdeutsche Andreas Meyer (sein Name wurde geändert, weil er Repressionen in Deutschland fürchtet).
Ostdeutschland sei von der Bundesrepublik „annektiert“ worden. „Etwa 70 Prozent unserer Wirtschaft wurden komplett vernichtet, bewusst beseitigt, um der westdeutschen Konkurrenz Platz zu machen. Die restlichen 30 Prozent sind seitdem zu über 95 Prozent in westlicher Hand. Lediglich fünf Prozent der Wirtschaftsbetriebe der DDR wurden durch die sogenannte Treuhandanstalt an neue ostdeutsche Eigentümer verkauft.“ Die DDR-Elite sei entmachtet und durch „westdeutsche Siedler, Kolonisten und Okkupanten ersetzt“ worden. Ländliche Gemeinden und Städte hätten „mitunter über 50 Prozent ihrer Bevölkerung verloren“. Die konkurrierende Bundesrepublik habe „mit der Annexion des Ostens unserer Heimat die Zukunft geraubt“.
Der einzige mögliche Weg, aus dieser Situation herauszukommen, sei die Kündigung des Zwei-plus-Vier-Vertrages durch die Russische Föderation, die eine völkerrechtlich anerkannte Sezession des ostdeutschen Territoriums und eine „Wiederneugründung der DDR“ möglich mache. Wenn dies gelänge, ständen dem Osten „alle Türen für eine selbstbestimmte prosperierende Zukunft offen“, falls diese neu gegründete DDR „die richtigen und konsequenten Lehren aus der Zeit seit 1990 ziehen sollte“. Bei dem neuen ostdeutschen Staat müsse es sich um „ein demokratisches, blockfreies, friedliches, antifaschistisches und neutrales Land“ handeln.
Als ich den Referenten am Ende seines Vortrags fragte, mit wem in Ostdeutschland diese Vorstellungen umgesetzt werden können, bekam ich nur eine ausweichende Antwort. Es sei klar, dass die vorgestellten Thesen „nicht sofort umgesetzt werden können“.
Hymnen, DDR-Rock und „Jalta II“
In der Abschlusserklärung der Moskauer DDR-Konferenz heißt es: „Die Konferenzteilnehmer rufen die Völker der Welt dazu auf, ein friedliches, gutnachbarschaftliches und kreatives Leben in Europa, auf dem eurasischen Kontinent und in der ganzen Welt zu verteidigen und sich aktiv der aggressiven Politik der imperialistischen, neokolonialen Kräfte der USA zu widersetzen.“ Im Februar 2025 will man eine Konferenz in Jalta mit eigener Jugendsektion abhalten.
Auf der Konferenz in Moskau waren drei russische Organisationen vertreten, allen voran der russische Veteranen-Verband, der seinen Versammlungssaal für die Konferenz zur Verfügung stellte. Gekommen waren außerdem der Leiter der internationalen Abteilung der kommunistischen KPRF, Wladimir Chartschenko, und die Leiterin der Internationalen Kommission des Moskauer Stadtrates, Tatjana Desiatowa. Die mit der KPRF verbundene „Linke Front“ war mit Leonid Raswosschajew vertreten.
Auf der Konferenz ging es feierlich und emotional zu. Zu Beginn standen die Teilnehmer auf, als die Hymnen von Russland und der DDR aus Lautsprechern erklangen. Dann wurden Auszeichnungen an Konferenzteilnehmer verliehen, die sich für den Frieden mit Russland stark gemacht haben. In der Pause wurde DDR-Rock gespielt, und zum Schluss erhoben sich die Teilnehmer abermals und sangen die „Internationale“.
Wie eingangs schon erwähnt, sollte man sich in dramatischen Zeiten einen Überblick über alle aktuellen Meinungen – auch verfemte – verschaffen und dann selbst seine Schlüsse ziehen. Man muss das komplette Meinungsspektrum zumindest kennen. Erst dann ist man in der Lage, fundierte Einschätzungen zu treffen und gut durchdachte Schlüsse zu ziehen.
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