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Titel: Denkfehler 16: »Wir sind national nicht mehr handlungsfähig.«

Datum: 21. Juni 2006 um 13:38 Uhr
Rubrik: Globalisierung, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Albrecht Müller, Auszug aus dem Buch „Die Reformlüge“ S. 207 ff.

Variation zum Thema:

  • »Entgrenzte Wirtschaft.«

Immer dann, wenn angesichts der hohen Arbeitslosigkeit verlangt wird, die Bundesregierung möge doch konjunkturpolitisch aktiv werden und versuchen, die lahmende Wirtschaft anzuschieben, dann kommt von einem großen Chor an Stimmen ein doppelter Einwand: Erstens ließen die sogenannten Maastricht-Kriterien, die der Verschuldung der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten Grenzen setzen und so die Preis- und Währungsstabilität innerhalb der EU garantieren sollen, dies nicht zu. Und zweitens seien wir in die Weltwirtschaft eingebettet, weshalb Konjunkturprogramme und andere expansive Maßnahmen nur dazu führen würden, dass dank unserer nationalen Aktivitäten Arbeitsplätze in Frankreich, in Amerika oder sonstwo in der Welt entstünden. Kurzum: Die nationalen Maßnahmen würden verpuffen, wir seien national nicht mehr handlungsfähig. Das ist ein eingängiges Argument und dennoch ist es – um es salopp zu sagen – bis zu 70 Prozent eine billige Entschuldigung und zu 100 Prozent ein lähmendes Vorurteil.

Wie berechtigt es ist, den Bedenken gegen nationale Initiativen mit Skepsis zu begegnen, kann man postwendend dann feststellen, wenn nach einer Entschuldigung für den Niedergang der Beschäftigung und der Konjunktur bei uns gesucht wird. Dann wird nämlich – wie zum Beispiel in den Jahren 2002 und 2003 – gern gesagt, die wirtschaftliche Belebung sei bei uns leider abgebrochen, weil die Konjunktur in den USA eingebrochen sei. Der hiesige Konjunktureinbruch wird auf die schlechte Entwicklung in den USA und auf die dortigen Versäumnisse zurückgeführt. Und schon sind diese »Experten« flink mit der Forderung bei der Hand, die USA sollten bitte wieder die Konjunkturlokomotive spielen.

Da passt nichts zusammen: Man kann sich doch nicht einerseits beklagen, wir seien Opfer der schlechten Konjunktur in den USA, und andererseits behaupten, wir selbst hätten keinerlei Handlungsspielraum, um die Konjunktur und den Wirtschaftsablauf bei uns zu beeinflussen. Warum sollten die Vereinigten Staaten von Amerika die einzige Lokomotive sein? Warum nicht auch wir? Schließlich macht die Binnennachfrage allein rund 70 Prozent der Nachfrage nach hierzulande produzierten Gütern und Diensten aus. Warum nicht da ansetzen? Warum sollen wir nicht zusammen mit anderen Ländern in der Europäischen Union die Lokomotive spielen? Nur 10,3 Prozent unserer Exporte gehen in die USA, das sind 10,3 Prozent von rund 30 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung, die im Falle Deutschlands in den Export gehen; und über diese – grob geschätzt – 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts soll eine Konjunkturankurbelung möglich sein, aber über die 70 Prozent Binnennachfrage für Konsum und Investitionen nicht?

Unbestritten sind wir heute eng verknüpft mit anderen Volkswirtschaften. Tatsache ist auch, dass wir im Zuge der Europäischen Währungsunion die Souveränität über die Geldpolitik abgegeben haben. Aber wir haben weiterhin Einfluss darauf. Und nach wie vor liegt die Souveränität über die Finanz- und Lohnpolitik sowie über die meisten Strukturpolitiken in deutscher Verantwortung.

Außerdem sind wir Deutschen in Europa nicht alleine, und vernünftigerweise verlangt niemand, expansive Maßnahmen ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern in Gang zu setzen. Der große europäische Binnenmarkt mit einem Bruttoinlandsprodukt von 9064 Milliarden Euro (bisherige 15 EU-Länder 2002; USA zum Vergleich: 10 998 Milliarden Euro) bietet die Möglichkeit zu einer weitgehenden eigenständigen Wirtschaftspolitik. Wir Europäer können wachstums-, konjunktur- und beschäftigungspolitisch handeln, ohne dass dies vom »Ausland« entscheidend konterkariert werden könnte.

Einfach ist es nicht, um so mehr gilt: Man muss es wollen, wenn man etwas erreichen will. Man muss zum Beispiel in Europa mehr wollen als eine gemeinsame Politik für stabile Preise und einen stabilen Euro. Man muss zum Beispiel wollen, dass die Menschen aus der Arbeitslosigkeit erlöst werden. Man muss endlich wieder Vollbeschäftigung wollen und auch dafür die Möglichkeit einer abgestimmten europäischen Politik einsetzen. Und man muss initiativ werden und darf das Schicksal von Millionen Menschen nicht einfach weiter schleifen lassen.

Tabelle 19: Ausfuhren Deutschlands in bestimmte Länder (in Mrd. Euro) und Anteil dieser Länder an den Gesamtexporten Deutschlands (in Prozent des Gesamtexportvolumens)

  2000 2001 2002
Frankreich 67,4 Mrd. Euro (11,3%) 69,6 Mrd. Euro (10,9%) 69,8 Mrd. Euro (10,8%)
Niederlande 39,0 Mrd. Euro (6,5%) 40,0 Mrd. Euro (6,3%) 39,5 Mrd. Euro (6,1%)
Belgien 30,1 Mrd. Euro (5,0%) 32,3 Mrd. Euro (5,1%) 31,2 Mrd. Euro (4,8%)
Italien 45,0 Mrd. Euro (7,5%) 47,1 Mrd. Euro (7,4%) 47,4 Mrd. Euro (7,3%)
EU15 337,4 Mrd. Euro (56,5%) 351,6 Mrd. Euro (55,1%) 354,8 Mrd. Euro (54,7%)
USA 61,8 Mrd. Euro (10,3%) 67,8 Mrd. Euro (10,6%) 66,6 Mrd. Euro (10,3%)

Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2003, Wiesbaden 2003, S. 294

Wenn wir nur eine Koordination mit Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Italien erreichen könnten, dann wären schon fast 30 Prozent unserer Exporte abgedeckt (siehe Tabelle 19). Wenn diese Länder also bei expansiven Maßnahmen mitzögen, würden in einer Wechselwirkung auch wir mitgezogen, so wie wir diese Länder mitziehen. Und wenn die Koordination EU-15-weit [1] gelänge, dann wären sogar 54,7 Prozent unseres Exports von diesen Maßnahmen direkt beeinflusst, und die Verpuffung wäre minimal. Häufig hatten in der Vergangenheit einige unserer Nachbarn in Europa eine bessere Koordination der Politik für mehr Beschäftigung gewünscht, so zum Beispiel Frankreich und Italien. Auch die USA haben uns mehrmals aufgefordert, aktiv zu werden. Aber zumindest in der Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl war Deutschland oft der Spielverderber. Verständlich ist das nicht, schon gar nicht, wenn man sich gleichzeitig beklagt, man sei national nicht handlungsfähig.

Anders als gelegentlich unterstellt wird, sehen die europäischen Verträge die Kooperation auch mit dem Ziel einer aktiven Beschäftigungspolitik vor. Auf dem EU-Gipfel in Köln im Jahr 1999 wurde der sogenannte Makro-Dialog des Köln-Prozesses als dritte Säule der europäischen Beschäftigungspolitik (neben den Prozessen von Luxemburg und Cardiff) installiert. Damit wurde offiziell anerkannt, dass positive gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen Voraussetzung dafür sind, um Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bei gleichzeitiger Preisstabilität innerhalb der Europäischen Währungsunion nachhaltig zu verbessern. Deshalb wurde eine Koordinierung der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik als erstrebenswert erachtet, um gesamtwirtschaftlich positive Ergebnisse erzielen zu können.

Es hakt bisher allerdings an der praktischen Umsetzung. Sie scheitert immer wieder an einer restriktiven Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und daran, dass die Europäische Zentralbank das Beschäftigungsziel als minderwichtig einstuft. So unterbleibt, was die Politiker fest verabredet haben: die gleichwertige Behandlung von Preisstabilität einerseits und Vollbeschäftigungspolitik andererseits. Wir haben zwar ohne Zweifel eine beschäftigungspolitische Krise, aber die für eine aktive Beschäftigungspolitik der EU notwendige Koordination wird nicht umgesetzt, die notwendigen Initiativen werden nicht angestoßen. Es gibt einen unsinnigen Streit zu der wichtigen Frage, ob und inwieweit unsere nationale Handlungsfähigkeit und die der EU durch die sogenannten Maastricht-Kriterien, unter anderem also durch die Festlegung beschränkt wird, dass ein EU-Staat im Rahmen der Währungsunion seine jährliche Kreditaufnahme auf maximal 3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts begrenzen soll. Dazu gibt es einen interessanten Offenen Brief des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt vom 8. November 1996 an den damaligen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer. [2] Darin kritisiert Helmut Schmidt Hans Tietmeyer dafür, dass dieser in seiner Funktion als Bundesbankpräsident auf strikte Einhaltung der im Maastrichter Vertrag festgelegten Regeln poche, während der Europäische Rat tatsächlich einen beachtlichen Entscheidungsspielraum auch zugunsten einer aktiven Beschäftigungspolitik habe:

»Den durch den Maastrichter Vertrag neu in den EG-Vertrag eingefügten Art. 104c und den darin enthaltenen weitgehenden Entscheidungsspielraum des Europäischen Rates – jenseits aller Kriterien – verschweigen Sie dagegen regelmäßig. Vielmehr erwecken Sie penetrant den unzutreffenden Eindruck, als ob die in den Protokollen zum Maastrichter Vertrag enthaltenen Kriterien absolut bindend seien.«

Die Flexibilität, auf deren Existenz der frühere Bundeskanzler pocht, wird in der öffentlichen Debatte bis heute meist verschwiegen, obwohl sie die nationale Handlungsfähigkeit beträchtlich erweitert.

Helmut Schmidt weist in diesem Kontext übrigens auch darauf hin, dass für Deutschland noch immer das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gelte, in dessen Paragraph 1 »ein hoher Beschäftigungsstand« als gesetzliches Ziel jeder Bundesregierung festgelegt ist. Diese Verpflichtung müsste dazu führen, den gegebenen Handlungsspielraum auch wirklich zu nutzen. Oder ihn notfalls, wenn man Helmut Schmidts Interpretation des Maastrichter Vertrags nicht folgen will, durch eine Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu erweitern.


[«1] Gemeint sind die 15 »alten« EU-Mitglieder vor Beitritt der neuen am 1.5.2004.

[«2] Helmut Schmidt: »Offener Brief an Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer. Die Bundesbank – kein Staat im Staate«, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 8. November 1996


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