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Titel: Fatale Weichenstellung – Brüssel erklärt das deutsche Modell zum Vorbild für Europa
Datum: 15. Februar 2012 um 15:27 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Jens Berger
Um ökonomische Ungleichgewichte innerhalb der EU abzubauen, baut die EU-Kommission in diesem Jahr ihren Stabilitätspakt aus und erweitert dabei die Zahl der Indikatoren von zwei auf zehn. Künftig spielen beispielsweise auch Außenhandelsüberschüsse eine Rolle bei der Bewertung, ob ein Land die ökonomische Stabilität der EU gefährdet. Was sich in der Theorie ursprünglich sehr gut anhörte, ist jedoch dank der massiven Einflussnahme Deutschlands in der Praxis zu einer einzigen Farce geworden, wie der gestern veröffentlichte „Alarmbericht“ [PDF – 127 KB] zeigt. Anstatt Ungleichgewichte abzubauen, nutzt die EU-Kommission die zehn Indikatoren dazu, die Mitgliedsstaaten anzuhalten, Löhne zu senken, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Einfluss des Staates immer weiter zurückzufahren. Europa soll keine Ungleichgewichte abbauen, sondern deutscher werden. Von Jens Berger.
Auf den ersten Blick erscheint es so, als hätte es sich mittlerweile sogar bis zur Europäischen Kommission herumgesprochen, dass die EU nur dann zu einem erfolgreichen und vor allem stabilen Wirtschaftsraum werden kann, wenn es der Politik gelingt, die wirtschaftlichen (makroökonomischen) Ungleichgewichte abzubauen. Der erste Blick täuscht jedoch. Wenn man sich die Grenzwerte der zehn Indikatoren des Frühwarnsystems der Kommission anschaut, kommt man nicht um die Erkenntnis herum, dass hier Ungleichgewichte sehr einseitig ausgelegt werden. So gilt beispielsweise ein Leistungsbilanzdefizit von mehr als vier Prozent des Bruttoinlandprodukts als problematisch, während auf der anderen Seite ein Leistungsbilanzüberschuss erst ab sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts als Problem gesehen wird. Diese willkürliche Aufstellung der Grenzwerte ist natürlich kein Zufall, Deutschland gilt mit seinen 5,9% dank des erhöhten Grenzwerts für Überschussstaaten gerade noch als unproblematisch. Dass es überhaupt zu einer derart grotesken Verschiebung der Grenzwerte kommen konnte, ist einzig und allein der massiven Einflussnahme Wolfgang Schäubles zu verdanken, der der EU-Kommission bereits im letzten November die Pistole auf die Brust gesetzt hat.
Dazu: Ungleichgewichte nach Lesart der EU
Auf dem einen Auge blind
So kam es denn auch, dass der erste Alarmbericht der EU-Kommission ganz nach dem Geschmack von Wolfgang Schäuble und Angela Merkel ausgefallen ist. Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse wurden nicht angemahnt, dafür müssen sich nun ganze neun Staaten[*] mit Leistungsbilanzdefiziten einer näheren Prüfung durch die Kommission unterziehen. Dabei macht es für die Stabilität der EU einen gewaltigen Unterschied, ob die mit Abstand größte Volkswirtschaft einen Überschuss von fast sechs Prozent des Bruttoinlandproduktes erzielt, oder ob ein ökonomischer Zwerg wie Malta ein Defizit von 5,4% hat – der deutsche Überschuss ist in absoluten Zahlen mehr als vierhundertmal so hoch wie das maltesische Defizit. In Summe stehen die deutschen Überschüsse der Hälfte aller Defizite der EU-Staaten gegenüber und sind in absoluten Zahlen (rund 150 Milliarden Euro) exakt so hoch, wie die Defizite aller neun verwarnten Defizitstaaten zusammengenommen.
Gesamtwirtschaftlich gesehen sind Überschüsse und Defizite zwei Seiten ein und derselben Medaille. Will ein Staat seine Defizite abbauen, muss zwingend immer auch ein anderer Staat seine Überschüsse abbauen. Von daher macht es auch gar keinen Sinn, einseitig die Defizitsünder ins Gebet zu nehmen und die Überschusssünder ungeschoren zu lassen. Diese Einseitigkeit ist jedoch im Alarmbericht Methode. Auch die anderen Indikatoren weisen eine sehr einseitige Sicht auf das Problem der Ungleichgewichte auf. Warum stellt beispielsweise laut EU-Kommission ein negatives Nettoauslandsvermögen von mehr als 35% des BIP ein Ungleichgewicht dar, während es für positive Nettoauslandsvermögen überhaupt keinen Grenzwert gibt? Neben Belgien und dem kleinen „Bankenstaat“ Luxemburg weist nur Deutschland ein positives Nettoauslandsvermögen von mehr als 35% des BIP auf. Wie schon bei der Leistungsbilanz kann es jedoch auch beim Auslandsvermögen nur dann (zu hohe) Defizite geben, wenn es auf der anderen Seite (zu hohe) Überschüsse gibt. Staaten wie Deutschland sind mit ihren hohen positiven Auslandspositionen zweifelsohne massiv von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern mit negativen Auslandspositionen abhängig. Kracht es dort, können die Deutschen einen Teil ihrer Forderungen und Vermögenswerte im Ausland abschreiben, was natürlich auch negative Folgen für die heimische Volkswirtschaft hätte. Es ist daher auch nicht ersichtlich, warum der Indikator Auslandsvermögen nur einen einseitigen Grenzwert aufweist.
Sinkende Exportanteile – wie ein Paradoxon zur Groteske wird
Analog verhält es sich beim Indikator Exportanteile. Dort gilt lediglich ein Rückgang von mehr als sechs Prozent (innerhalb von fünf Jahren) als Problem, während ein Anstieg gleich welcher Größe als unproblematisch gilt. Dieser Indikator ist jedoch nicht nur wegen seiner Einseitigkeit ein Problem, sondern auch deshalb, weil er nur relative Änderungen beobachtet, die Basis aber außer Acht lässt. Nicht nur innerhalb der EU gibt es riesige Unterschiede bei der ökonomischen Basis. Will man die wirtschaftlichen Verhältnisse und damit die Lebensqualität in Europa angleichen, müssen ärmere Volkswirtschaften, wie die baltischen Staaten oder die neuen Mitgliedsstaaten auf dem Balkan, wesentlich höhere Wachstumsraten aufweisen als die reichen Volkswirtschaften im Zentrum Europas. Wenn diese Staaten mit Hilfe des Exports aufholen wollen, ist es vollkommen normal, dass sie auch einen größeren Anteil an den Exporten aufweisen. Wenn sie einen größeren Anteil an den Exporten aufweisen, müssen andere Staaten jedoch zwingend auch einen kleineren Anteil aufweisen. Die Größe eines Tortenstücks kann man nun einmal nicht nur ausschließlich an seinem Winkel bemessen – auch der Radius der Torte muss beachtet werden. Wenn Deutschland nun Exportanteile verliert, ist dies per se erst einmal ein positives Zeichen, da andere Volkswirtschaften nur so ihren relativen Rückstand abbauen können. Wenn die Torte als Ganzes wächst, kann auch ein Tortenstück, das nun einen kleineren Winkel aufweist, größer sein als zuvor. Genau dies ist bei den deutschen Exporten der Fall. Im letzten Jahr haben sie erstmals die Billionenmarke überschritten – dennoch ist Deutschlands relativer Anteil an den Exporten in den letzten fünf Jahren um 8,3% zurückgegangen.
Somit stellen die Exportanteile neben der Staatsverschuldung den einzigen Indikator dar, bei dem Deutschland die Grenzwerte der EU-Kommission überschreitet. Es ist schon mehr als paradox, dass ausgerechnet der Exportweltmeister dafür ermahnt wird, dass seine Exportanteile rückläufig sind. Nun hat es die deutsche Regierung schwarz auf weiß – nicht etwa die Leistungsbilanzüberschüsse, sondern der rückläufige deutsche Exportanteil stellt ein Problem für die Stabilität Europas dar. Dies wird man in Berlin gerne hören, ist diese Sichtweise doch derart grotesk, dass sie wunderbar zur grotesken deutschen Position passt und sich sogar als „Argument“ ins Feld führen lässt, die Binnennachfrage weiterhin zu ignorieren.
Der Alarmbericht als Blaupause für neoliberale Reformen
Der Alarmbericht lässt bereits durch seine Wortwahl keinen Zweifel daran, was er eigentlich bezwecken will. Wenn die EU-Kommission steigende Löhne und eine Verschiebung der Außenhandelsbilanz zugunsten der Importe kommentiert, spricht sie von einer Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit und von steigenden Lohnstückkosten. Sinken die Löhne und verschiebt sich die Außenhandelsbilanz zugunsten der Exporte, ist dies nach Sprachregelung der Kommission etwas Positives und geht mit einer steigenden Wettbewerbsfähigkeit und sinkenden Lohnstückkosten einher. Zwischen den Zeilen kritisiert man sogar die Lohnsteigerungen im bitterarmen Bulgarien und bezeichnet sie als mittel- bis langfristiges Hemmnis für den „Aufholprozess“. Natürlich muss an dieser Stelle die Frage gestattet sein, auf welcher Ebene die Bulgaren denn überhaupt aufholen sollen? Wenn dieser Prozess nicht mit einer Steigerung der Löhne, die ja gemeinhin auch eine Steigerung der Lebensqualität mit sich bringt, einhergehen soll, scheint er ziemlich sinnlos zu sein.
Während Griechenland, Irland, Portugal und Rumänien ohnehin bereits im „Rettungsmechanismus“ der EU verankert sind und sich den Vorgaben aus Brüssel beugen müssen, stehen nun als Ergebnis des Alarmberichts auch Belgien, Bulgarien, Dänemark, Spanien, Frankreich, Italien, Zypern, Ungarn, Slowenien, Finnland, Schweden und Großbritannien auf der Beobachtungsliste der EU-Kommission. All diesen Ländern wird im Bericht empfohlen, ihre Verschuldung (über alle Sektoren) zurückzufahren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, um die „Export-Performance“ zu steigern. Europa soll deutscher werden. Aber wer soll eigentlich noch die deutschen Exporte kaufen, wenn Europa deutscher wird und seine Bevölkerung immer weniger Geld in der Tasche hat?
[«*] Bulgarien, Griechenland, Spanien, Zypern, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei
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