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Titel: „Einen Weltkrieg mit Atomwaffen unter allen Umständen verhindern!“ – Exlusiv-Interview mit Dmitri Trenin
Datum: 25. September 2024 um 11:08 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Russland kann sich nirgendwohin zurückziehen, weil der Westen einen existenziellen Kampf gegen das Land führt. Diesen Kampf will Moskau intelligenter führen als zu Zeiten der Sowjetunion. In einem Interview erläutert der renommierte russische Politikwissenschaftler und ehemalige Leiter des Carnegie-Instituts Moscow Dmitri Trenin die maßgeblichen russischen Ansichten über die Fortsetzung des Krieges und die möglichen Auswirkungen der US-Präsidentschaftswahlen. Das Interview mit Dmitri Trenin hat Péli Éva geführt und übersetzt.
Die anstehende Stationierung der US-amerikanischen Raketen in Deutschland provoziert Russland auf eine bisher nie gesehene Weise. Deutschland ist nicht gewillt, sich für ein neues Abkommen zur Verringerung der russischen Bedrohung einzusetzen. Das kann zu Reaktionen führen, die keiner haben will. Auf die möglichen Folgen macht der Politologe Dmitri Trenin aufmerksam, er gehört zu Russlands führenden Außenpolitik-Experten.
Éva Péli: Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in der Ukraine ein, etwa zweieinhalb Jahre nach dem Einmarsch der russischen Truppen?
Dmitri Trenin: Es ist ein Zermürbungskrieg im Gange. Russische Truppen „zermalmen“ die ukrainische Armee und rücken langsam, aber stetig im Donbass vor; russische Luft- und Raumfahrtkräfte „schalten“ die militärisch-industriellen Einrichtungen und Energieanlagen der Ukraine aus. Die ukrainischen Streitkräfte leisten hartnäckigen Widerstand und schlagen an verwundbaren Stellen der russischen Position zu – zum Beispiel in der Region Kursk. Ukrainische Drohnen beschädigen russische Energieanlagen und Infrastrukturelemente. Die Ukrainer greifen auch zivile Einrichtungen an und organisieren Sabotageakte, um die russische Moral zu untergraben. Trotz der enormen und umfassenden Unterstützung des Westens für Kiew ist Russland nach wie vor im Vorteil und hat auf dem Kriegsschauplatz weitgehend die Initiative inne. Es handelt sich nicht um eine „Pattsituation“: Die Intensität der Militäraktivitäten ist hoch, und die Bestrebungen des Westens, eine Niederlage der Ukraine zu verhindern, führt logischerweise zu einer weiteren Eskalation der Feindseligkeiten. Generell ist klar, dass die Ukraine ohne eine immer umfangreichere Unterstützung durch den Westen verliert, aber die immer stärkere Einmischung des Westens in den Krieg birgt die Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes zwischen dem Westen und Russland, das heißt eines Weltkrieges mit dem fast unvermeidlichen Einsatz von Atomwaffen.
Sie sind also der Meinung, dass die atomare Abschreckung nicht hält?
Eine Eskalation bis zur nuklearen Ebene ist sehr real. Zu glauben, dass es möglich ist, einer nuklearen Supermacht eine strategische Niederlage beizubringen, ist Wahnsinn. Die alte Strategie der nuklearen Abschreckung hat sich in einem Umfeld, in dem der Feind (die USA) seine Angst verdrängt hat und von seiner eigenen Nachgiebigkeit überzeugt ist, als fehlerhaft erwiesen. Früher war es kaum vorstellbar, dass man Atomkraftwerke beschießen kann, wie es die Ukraine ständig tut, ohne dass der Westen dies nicht nur verurteilt, sondern auch vor den Gefahren solcher Aktionen warnt. Ich habe auch zunehmend den Eindruck, dass die USA die Option eines begrenzten Atomkrieges in Europa als grundsätzlich akzeptabel ansehen – vorausgesetzt, dass dieser Krieg die USA nicht selbst betrifft.
Wie wird aus Ihrer Sicht dieser Krieg enden? Welche Chancen gibt es auf Verhandlungen heute? Ex-Bundeswehrgeneral Harald Kujat sagte neulich in einem Interview, eine Lösung könne darin bestehen, dass die Kriegsparteien ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch zurückkehren und an den Ergebnissen der Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 anknüpfen. Was halten Sie davon?
Es gibt verschiedene Szenarien:
Eine Beendigung des Krieges nach dem koreanischen Vorbild von 1953 ist prinzipiell möglich, würde aber nur eine Atempause bedeuten mit der Aussicht auf eine Wiederaufnahme des Krieges in noch entschiedenerer Form. Soweit ich weiß, ist die russische Führung entschlossen, die ukrainische Frage zu lösen und nicht einzufrieren.
Was Istanbul betrifft: Damals war eine Einigung zwischen Moskau und Kiew eine reale Möglichkeit, aber diese wurde von den USA durch das Vereinigte Königreich torpediert. Die Istanbuler Einigung ist bezüglich der Grundsätze der strikten Entmilitarisierung der Ukraine und ihres Nichtbeitritts zur NATO immer noch relevant. Doch seitdem wurden vier Regionen in die Russische Föderation aufgenommen. Dies ist nicht mehr Gegenstand von Verhandlungen.
Der Westen eskaliert weiter und will den Einsatz von Waffen erlauben, die Russland in der Tiefe erreichen. Wie wird und wie kann Russland darauf antworten? Wo ist die tatsächliche „rote Linie“?
Ich hoffe, dass die USA erkennen, dass eine Eskalation ein russisches Roulette ist. Ein Schuss fällt auf jeden Fall, es ist bloß nicht bekannt, wie oft der Abzug betätigt wird. Zu den „roten Linien“: Der Westen und die Ukraine haben gemeinsam mehrere Linien überschritten, die viele früher als rot bezeichnet haben. Technisch gesehen hat Russland bereits mehrere Gründe gehabt, Atomwaffen einzusetzen, selbst nach den bestehenden – und aus meiner Sicht nach veralteten – Dokumenten. Ein Drohnenangriff auf eine Raketenfrühwarnanlage oder ein Schlag auf einen strategischen Flugplatz gehören beispielsweise zu diesen Gründen. Putin ist sich offensichtlich seiner gigantischen Verantwortung nicht nur für Russland, sondern für die gesamte Menschheit bewusst und zeigt deshalb eine beispiellose und unfassbare Geduld. Russlands Gegner irren, wenn sie diese Geduld mit Schwäche verwechseln. Die „nukleare Kugel“ ist bereits in die Kanone geladen, sodass mit jeder Eskalationsrunde ein russischer Vergeltungsschlag wahrscheinlicher wird. Ich würde jedem raten, sich an Putins Worte aus einem Interview mit US-amerikanischen Journalisten zu erinnern: „Wozu brauchen wir die Welt, wenn wir Russland in ihr nicht haben.“ Aber wo die letzte und wirkliche „rote Linie“ liegt, weiß nur Putin. Gott bewahre uns davor, diese Linie zu erreichen, geschweige denn sie zu überschreiten.
Beobachtern zufolge reagiert die russische Führung relativ gelassen auf den ukrainischen Einfall in die Region Kursk. Andere sagen, sie reagiere zu wenig. Wie schätzen Sie dies ein?
Russland hat selbstverständlich keine ukrainischen Truppen in die Region Kursk „gelockt“. Höchstwahrscheinlich war Russland der Meinung, dass ein Angriff in diesem Gebiet sinnlos und daher unmöglich sei. Der Feind handelte jedoch erstens entgegen der Logik der Militärstrategie und zweitens aus Verzweiflung. Selenskyj setzte, wie jetzt klar ist, auf den medialen Erfolg, auf die Untergrabung des russischen Vertrauens in Putin und auf die Verlegung der russischen Streitkräfte aus dem Donbass in die Region Kursk, um die russische Offensive im Donbass zu stoppen. Von diesen drei Zielen wurde lediglich das erste erreicht, aber seine Wirkung ist nur von kurzer Dauer. Die russische Führung hat ausreichend Reserven in die Region Kursk entsandt, um die ukrainische Invasion zu stoppen, aber nicht genügend, um den Feind schnell aus dem russischen Gebiet zu vertreiben. Infolgedessen erleidet die Ukraine schwere Verluste, ohne ein strategisch oder politisch bedeutsames Ziel zu erreichen, während die russischen Streitkräfte im Donbass vorrücken. Es wäre natürlich gut, die ukrainischen Truppen schnell über die Grenze zu werfen und eine Pufferzone (Cordon sanitaire) auf der anderen Seite der Grenze zu bilden, aber Moskau verfügt noch nicht über solche Kräfte: Putin will keine Mobilmachung ausrufen. Der Krieg bleibt, wie die Politik, zu deren Verlängerung er gehört, die Kunst des Möglichen.
Sergej Karaganow sagte vor Kurzem in einem Interview: „Das Hauptziel der (Nuklear-)Doktrin sollte sein, dass alle gegenwärtigen und zukünftigen Gegner sicher sein sollten, dass Russland bereit ist, Atomwaffen einzusetzen im Falle eines Übergriffs auf unser Territorium und unsere Bürger.“ Und: „Atomwaffen zu besitzen und nicht in der Lage zu sein, den Gegner davon zu überzeugen, sie zu benutzen, ist Selbstmord.“ Wie schätzen Sie die aktuellen Äußerungen Ihres Kollegen ein?
Ich stimme den Thesen von Sergej Karaganow zu, die Sie zitiert haben. Ich denke, dass eine Korrektur des russischen Konzepts und Systems der strategischen Abschreckung längst überfällig ist. Der Kernpunkt der Korrektur könnte darin bestehen, die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen zu senken. Die nukleare Abschreckung muss im vollen Sinne des Wortes zur nuklearen Abschreckung werden. Wenn dies nicht geschieht und den Worten keine Taten folgen, wird die Wahrscheinlichkeit eines ausgewachsenen Atomkriegs dramatisch zunehmen. Die Politik der USA und der NATO-Staaten, die den Konflikt immer weiter eskalieren lassen, führt die Welt auf ein solches Szenario zu. Europa wird als Vasall der USA betrachtet, der bereit ist, seine eigenen nationalen Interessen im Namen der „gemeinsamen Interessen des Westens“, die in den USA definiert werden, aufzugeben. Deutschland ist hier das offensichtlichste und krasseste Beispiel. Was geopolitische Selbstmorde angeht, so hat die Sowjetunion so etwas schon einmal begangen. Ich denke, Russland wird einen solchen Fehler nicht ein zweites Mal begehen.
Was spricht dafür, dass die Rechnung der Abschreckung aufgeht und die Änderung der russischen Nuklear-Doktrin den Westen davon abhält, weiter zu eskalieren? Niemand hätte vor Februar 2022 gedacht, dass der Westen, allen voran Europa, in der „Unterstützung“ der Ukraine so weit geht und dafür bereit ist, zumindest seine eigene Wirtschaft zu ruinieren.
Bislang hat der Westen bewiesen, dass er vor nichts zurückschreckt, auch nicht vor dem Einsatz von Atomwaffen. Leider hat sich der politische Westen durch die träge Reaktion Moskaus auf viele Provokationen – wie die Unterbrechung der Nord-Stream-Pipeline, die Weitergabe von Geheimdienstinformationen über russische Truppen und Einrichtungen an Kiew, den Beschuss strategischer Ziele auf russischem Territorium auf Geheiß des Westens, den Einmarsch in die Region Kursk auf Geheiß Großbritanniens und der Vereinigten Staaten unter anderem – an die Vorstellung gewöhnt, dass er ohne Angst vor Vergeltung Krieg gegen Russland führen kann.
Russland verfolgt die Diskussionen im Westen sehr genau – meiner Meinung nach sogar zu genau. Aber es wird berücksichtigt, was die Situation wirklich beeinflussen kann. Das sind in erster Linie die Ansichten und Bestrebungen der US-amerikanischen politischen, militärischen und geheimdienstlichen Elite.
Russland braucht, wie man sagt, „viel Zeit zum Anspannen“, aber wenn es die Pferde angeschirrt hat, kann es schnell loslaufen. Ich habe das Gefühl, dass wir auf eine direkte Konfrontation zusteuern. Wenn sie eintritt, wird sie nuklear sein. Wenn Russland ohne den Einsatz von Atomwaffen gewinnt, wie Putin erwartet, wird es aus dem Krieg trotz der Opfer und Verluste, die es erlitten hat, in einer anderen Qualität hervorgehen, die deutlich über der Russischen Föderation von 2021 liegt.
Welchen Einfluss haben solche Äußerungen wie von Karaganow, der als Berater der russischen Regierung gilt, auf die russische Regierung? Worin sehen Sie die Bedeutung der Änderung der Doktrin? Militärexperten sagen doch, dass Russland viele der modernen konventionellen Waffen noch gar nicht eingesetzt hat.
Sie haben recht: Russland führt den Krieg immer noch sehr zurückhaltend. Viele offensichtliche Ziele in der Ukraine werden nicht angegriffen. Trotz der überwältigenden demografischen Überlegenheit Russlands gegenüber der Ukraine ist die russische Armee auf dem Kriegsschauplatz der ukrainischen Armee zahlenmäßig unterlegen. Putin ist bestrebt, Russlands friedliche Ordnung so weit wie möglich zu erhalten. Seine Priorität ist die Entwicklung des Landes, nicht der Krieg. Deshalb gibt es vor dem Einsatz von Atomwaffen viele Eskalationsstufen, die Russland durchlaufen muss, um den Krieg mit dem kollektiven Westen zu gewinnen. Aber in jedem Fall: Die Lektion der Ukraine lehrt uns, dass die passive nukleare Abschreckung durch eine aktive nukleare Abschreckung des Feindes ersetzt werden muss.
Wie wird in Russland die Politik Ungarns bewertet, die sich für eine Friedenslösung ausspricht?
Es gibt so ein neues Wort im russischen Jugendjargon. Es heißt „Respekt“. Ungarn wird dafür respektiert, dass dieses kleine Land den Mut und die Kraft gefunden hat, seine nationalen Interessen gegen den Druck der Globalisten aus Washington und Brüssel zu verteidigen. Ministerpräsident Viktor Orbán ist ein Symbol sowohl für Widerstandsfähigkeit als auch für politische Fragwürdigkeit. Niemand hält ihn für einen prorussischen Politiker, aber jeder respektiert ihn als Förderer und Verteidiger der Interessen und Werte seines Landes.
Welchen der international geäußerten Vorschläge für einen Frieden durch Verhandlungen halten Sie für realistisch?
Ernsthaft: Die Vorschläge von Präsident Putin, die er am 14. Juni im Außenministerium vortrug.
Was wird in Russland von den US-Wahlen und von einem möglichen Wahlsieg Donald Trumps erwartet?
Russland hat hier keine Präferenzen. Anders als 2016 hofft niemand, dass Donald Trump, wenn er Präsident wird, die Beziehungen zu Russland normalisieren wird. Wenn Kamala Harris gewinnt, wird die US-Politik in etwa so sein wie jetzt, das heißt mehr oder weniger berechenbar für Moskau. Wenn Trump Präsident wird, wird es Überraschungen geben, nicht unbedingt angenehme. Nach Ansicht Moskaus wird die US-Politik vom „Tiefen Staat“ gemacht, nicht vom Präsidenten. Unter den Demokraten wird sie sehr schlecht und gefährlich bleiben; unter Trump werden wir mit unerwarteten Erschütterungen rechnen müssen. Generell orientiert sich die Russische Föderation immer weniger an der US-Politik: Die USA stellen für Russland nur eine Bedrohung dar, es gibt dort keine Partner und es wird auch in absehbarer – und nicht absehbarer – Zukunft keine geben.
Zu den profundesten Kritikern der westlichen Politik gehört Ex-NATO-General Harald Kujat. In einem aktuellen Gespräch sagte er zu einem möglichen Verhandlungsfrieden und dessen Folgen auf die europäische Sicherheit im Falle eines Sieges von Trump: Damit „könne eine Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa entwickelt werden, mit Russland und der Ukraine darin …“ Wie sehen Sie die Chancen dafür?
Ich will nicht skeptisch klingen, aber ich sehe die Chancen dafür als minimal an. Diejenigen, die die USA wirklich regieren, werden jeden Schritt von Trump zum Abbau der Spannungen mit Russland blockieren und sabotieren. Die Möglichkeiten sind enorm, das wissen wir noch aus Trumps vergangener Präsidentschaft. Wenn Trump die Interessen dieser Kräfte ernsthaft bedroht – für die Russland ein ewiger Feind ist, der vernichtet werden muss –, wird er ermordet, so wie John F. Kennedy (und zwar aus demselben Grund). Trump selbst könnte jedoch seine Haltung gegenüber Russland radikal ändern, wenn seine Vorschläge an Moskau (die inakzeptabel sind, soweit ich das beurteilen kann) vom Kreml abgelehnt werden.
Welche Sicherheitsarchitektur in Europa gemeinsam mit Russland ist nach dem Krieg möglich? Der britische Politologe Anatol Lieven sagte kürzlich im Gespräch: „Darüber können wir in 100 Jahren sprechen.“ Was ist Ihre Antwort?
Im Prinzip stimme ich hier mit meinem Freund Anatol Lieven überein. Hundert oder fünfzig oder (um optimistisch zu sein) „nur“ dreißig sind nicht grundlegend wichtig. Dieser Konflikt zwischen dem Westen und Russland ist viel tiefer und schärfer als der Kalte Krieg. Wer gewinnt, wird am Leben bleiben, wer verliert, zerfällt. Deshalb kümmere ich mich nicht sehr um die Architektur. Es gibt noch keinen Boden, auf dem ein Gebäude errichtet werden könnte.
Der Westen rüstet auf und begründet das trotz aller Fakten mit einem möglichen russischen Angriff auf die NATO. Wie schätzen Sie das ein? Und was halten Sie von der These Emmanuel Todds, dass der Westen sich eher selbst zerstört, als dass Russland ihn angreift?
Die westlichen Strategen wissen, dass Russland nicht die Absicht hat, Europa anzugreifen, aber das Schreckgespenst eines aggressiven Russlands „vor den Toren Europas“ ist sehr wichtig für den Aufbau einer neuen Realität im Westen, ähnlich wie die Fantasien beziehungsweise Prophezeiungen von George Orwell. Alle dachten, er beschreibe Stalins Sowjetunion, aber er blickte hundert Jahre in die Zukunft des Westens.
Todd schreibt außerdem in seinem aktuellen Buch über den „Niedergang des Westens“, dass Russland in die Ukraine nicht wegen des Donbass einmarschiert sei, sondern weil „er nicht wollte, dass Russland wie 1941 überrascht wird, weil es zu lange auf den unvermeidlichen Angriff gewartet hatte“. Das soll Putin in seiner Rede am 24. Februar 2022 mit Blick auf die zunehmende Einbindung der Ukraine in die NATO gesagt haben. Was halten Sie davon?
Meiner Meinung nach stand Putin im Jahr 2022 vor der Wahl: Entweder nachgeben und damit den USA erlauben, in der Ukraine zu schalten und walten, wie sie wollen, und zunehmenden Druck auf ein Russland ausüben, das nur dasteht und blinzelt, oder das ukrainische Problem mit Gewalt lösen. Mit anderen Worten: Er konnte sich für Schande und Krieg entscheiden – oder sich in den Kampf begeben. Putin hatte acht Jahre lang gehofft, dass er gemeinsam mit Europa (Deutschland und Frankreich) das Donbass-Problem und damit die ukrainische Frage lösen könnte. Dann stellte sich heraus, dass die damalige Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande nur Zeit gewinnen wollten. Im Jahr 2022 beschloss Russlands Präsident, das Problem nicht seinen Erben zu überlassen, sondern zu versuchen, es selbst zu lösen. Er kämpft immer noch, zusammen mit Russland.
Neben dem militärischen Stellvertreterkrieg auf ukrainischem Boden führt der US-geführte Westen einen Wirtschaftskrieg gegen Ihr Land. Welche Folgen hat er insbesondere für Russland in seiner Stellung im weltwirtschaftlichen Gefüge? Wie lange wird dieser anhalten, und könnte er beendet werden, wenn der militärische Krieg aufhört?
Der Sanktionsdruck auf die Russische Föderation ist sehr ernst, aber er war eine bittere Medizin für die russische Wirtschaft. Sie hat sich zunächst einmal auf den Beinen gehalten und konnte sich an die neuen Bedingungen anpassen. Jetzt steht man vor schwierigeren Aufgaben: technologische Souveränität zu erlangen, die Arbeitsproduktivität zu steigern, zu lernen, wieder das zu produzieren, was die Sowjetunion zu produzieren in der Lage war, das postsowjetische Russland aber verlernt hat zu tun. Gleichzeitig ist Russland bestrebt, gemeinsam mit den Ländern, die sich den Sanktionen nicht angeschlossen haben (wir nennen sie die Weltmehrheit), Elemente einer neuen Weltordnung zu schaffen. Dabei geht es zum Beispiel um Finanzen, Logistik, Standards, faire Regeln. Russland wird nicht in die Welt zurückkehren, aus der es ab 2014 und vor allem 2022 vertrieben wurde, unabhängig davon, wann und wie der Krieg in der Ukraine endet. Aber diese frühere globale Weltordnung selbst wird sich radikal verändern und wahrscheinlich vollständig ersetzt werden.
Dmitri Trenin ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für Militärwirtschaft und Strategie der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics in Moskau und ein führender Forscher am IMEMO, dem Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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