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Titel: Ein europäischer Putsch? Die aktuelle Entwicklung der EU aus Sicht eines italienischen Linken
Datum: 24. September 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Europäische Union, Interviews, Neoliberalismus und Monetarismus
Verantwortlich: Redaktion
Ein Interview mit dem italienischen Autor und Journalisten Thomas Fazi über die EU als demokratisches oder antidemokratisches Projekt und seine aktuelle Studie „Der stille Putsch – der Griff der Europäischen Kommission nach der Macht“. Das Interview hat Maike Gosch geführt und aus dem Englischen übersetzt.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Thomas Fazi ist ein vielfach ausgezeichneter italienischer Autor und Journalist, der sich selbst als Sozialist bezeichnet. Seine Artikel sind in zahlreichen Online- und Printpublikationen erschienen, u.a. ist er Kolumnist für das britische Magazin UnHerd und Redakteur des US-amerikanischen Magazins Compact. Kürzlich hat er eine europapolitische Studie mit dem Titel „The silent coup – The European Commission’s power grab“ („Der stille Putsch – der Griff der Europäischen Kommission nach der Macht”) veröffentlicht. Wir sprechen mit ihm im heutigen ersten Teil des Interviews über die Vorgeschichte dieser Entwicklung und darüber, inwieweit die EU demokratisch konstituiert und legitimiert ist oder es je war, was ihre „wahre Geschichte“ ist und wie sie sich aktuell entwickelt. Im zweiten Teil werden wir genauer auf Fazis aktuelle Studie eingehen.
Ist Kritik an der EU ein Monopol der Rechten?
Maike Gosch: Lieber Thomas Fazi, könnten Sie uns zum Einstieg und als Hintergrund ein wenig über sich und Ihren Werdegang erzählen?
Thomas Fazi: Politisch gesehen war meine Feuertaufe Ende der 90er- / Anfang der 2000er-Jahre mit der Antiglobalisierungsbewegung. Das war es eigentlich, was mich in die Politik gebracht hat. Ich gehörte zu dem, was man als radikale Linke oder sozialistische Linke bezeichnen könnte, als die Linke noch nicht völlig durchgedreht war – auch wenn einige frühe Anzeichen dafür bereits vorhanden waren. Das war eine sehr aufregende Zeit, um in der Politik tätig zu sein. Es war die erste Massenbewegung, die im Westen seit mehr als einem Jahrzehnt aufgekommen war. Und ich würde auch sagen, dass es die letzte große linke Massenbewegung war, die wir im Westen hatten und die noch ein paar Jahre anhielt und sich nach dem 11. September und dem Beginn der Kriege nach dem 11. September zu einer Antikriegs- oder Friedensbewegung entwickelte.
Danach, Mitte der 2000er-Jahre, erlosch die Bewegung aus einer Reihe von Gründen, und viele von uns zogen sich aus der aktiven Politik zurück. Als Folge des Zusammenbruchs der Bewegung zogen wir uns in unser Privatleben zurück. Auch ich habe mich eine Zeit lang aus der Politik zurückgezogen, bis die Finanzkrise kam. Das hat mein Interesse an den Geschehnissen in der Welt wieder geweckt, insbesondere als die Krise Europa erreichte und sich zur sogenannten „Staatsschuldenkrise” entwickelte. Mir wurde klar, dass ich, obwohl ich mich schon sehr lange für Politik interessiere und engagiere, nicht wirklich verstand, worum es bei der Finanzkrise oder der Eurokrise ging, aber ich erkannte, dass die offizielle Darstellung keinen Sinn ergab. Also begab ich mich auf eine intellektuelle Reise und habe mich sehr fundiert mit Wirtschaft beschäftigt, um Politik besser zu verstehen. Das führte dazu, dass ich mein erstes Buch schrieb, „The Battle for Europe”, das 2014 erschien und eine Art Gegengeschichte zur Eurokrise aus einer heterodoxen wirtschaftlichen Perspektive darstellte. Von da an wurde die Wirtschaft zu meiner großen Leidenschaft, und ich begann, mehr darüber zu schreiben. So kam ich zum Schreiben und zum Vollzeitjob als Journalist.
Nach und nach wurde mir immer klarer, wie das System funktioniert, und vor allem die sehr negative Rolle der Europäischen Union aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht – was dazu führte, dass ich mich von der Linken entfremdete, die sich klar pro EU positioniert hatte. Stattdessen begann ich, die EU als Ursache für viele der Probleme zu sehen, die wir heute in Europa haben. Und dann kam natürlich die Covid-Krise, und das bedeutete meine offizielle Trennung von der Linken, denn ich sah die Geschehnisse aus einer völlig anderen Perspektive als 99 Prozent der Menschen auf der Linken. Ich erkläre meine Sichtweise dieses Ereignisses in dem Buch „The Covid-Consensus: The Global Assault on Democracy and the Poor – A Critique from the Left”, das ich gemeinsam mit dem britischen Historiker Toby Green verfasst habe.
Gab es denn eine Zeit, in der auch Sie von dem europäischen Projekt oder der EU begeistert waren?
Ich war nie wirklich begeistert davon. Es war eher so, dass ich vor der Eurokrise nicht wirklich viel darüber nachgedacht habe, wie die meisten Leute im Rahmen der linken Bewegung, die ich kannte. Was an sich schon problematisch ist, weil wir nicht erkannt haben, wie wichtig es ist, politisch auf nationaler Ebene zu arbeiten und welche Rolle die Nationalstaaten bei politischen Veränderungen spielen. Ich glaube, wir waren in dieser Hinsicht sehr naiv. Wir wollten die ganze Welt verändern (der Slogan der Antiglobalisierungsbewegung lautete „Eine andere Welt ist möglich”), ohne zu begreifen, dass man nicht wirklich „die Welt verändern” kann. Bestenfalls kann man vielleicht dazu beitragen, das Land zu verändern, in dem man lebt. Aber aufgrund dieser naiven Sichtweise haben wir auch völlig außer Acht gelassen, was die Europäische Union ist und welche Beschränkungen sie jeder Form von radikalem Wandel auf nationaler Ebene auferlegt.
Also habe ich lange Zeit nicht viel über die EU nachgedacht. Und dann, als die Euro-Krise ausbrach, schloss ich mich zunächst der linken Sichtweise an, die besagte, dass die Europäische Union nach wie vor ein nobles Projekt sei, das gerettet werden müsse, das aber irgendwie in die Irre gegangen sei und wieder auf den richtigen Kurs gebracht werden müsse, weil es einfach nur aus dem Ruder gelaufen sei. Aber ich war der Meinung, dass das Projekt an sich eine gute Sache ist, die es zu bewahren gilt. Denn wie viele Menschen in der Linken, insbesondere in der radikalen Linken Ende der 90er- / Anfang der 2000er-Jahre, hatte ich eine sehr negative Sicht auf den Nationalstaat und auf das Konzept von nationaler Souveränität, die ich mit etwas Reaktionärem und an sich Schlechtem assoziierte. Aufgrund dieser staatsfeindlichen Einstellung, die in der radikalen Linken weit verbreitet war, nahm ich automatisch an, dass ein Projekt, das die Nationalstaaten überwinden wollte, gut sein musste, weil Nationalstaaten schlecht, reaktionär und faschistisch sind. Auch in dieser Hinsicht war ich sehr naiv.
Später habe ich meine Meinung geändert, aber es gab einen Moment, in dem ich diese Ansicht voll und ganz teilte. Und das zeigt wieder einmal die Macht der Propaganda. Ich glaube, wir wurden jahrzehntelang mit Propaganda in Bezug auf die Europäische Union überschüttet. Daher ist es nicht überraschend, dass viele von uns diese positiven Ansichten über die EU hatten und dass viele Menschen dies immer noch tun, weil einige sehr gute Erzähltechniken verwendet wurden, um die Idee der Europäischen Union zu bewerben, unter Verwendung der europäischen Geschichte, wie zum Beispiel bei der Darstellung, dass die EU ein großes Friedensprojekt sei – und wer will keinen Frieden? In Europa war es recht einfach, den Menschen die Idee zu verkaufen, dass Nationalstaaten schlecht sind, da es zwei katastrophale Weltkriege zwischen europäischen Staaten gegeben hatte. Es war sehr clever, diese Geschichte zu nutzen, um ein Projekt zu fördern, bei dem es nie wirklich um Frieden oder internationale Zusammenarbeit zwischen den Völkern ging. Meiner Meinung nach ging es immer um etwas ganz anderes. Aber es hat eine Weile gedauert, bis ich selbst das verstanden habe.
Wie sollte man denn aus Ihrer Sicht die Entwicklung der EU verstehen? Was ist Ihrer Meinung nach die „wahre Geschichte“?
Ich denke, wenn man sich mit der Geschichte der Europäischen Union und ihrem Wesen auseinandersetzt, stellt man fest, dass sie etwas ganz anderes ist als das, was man uns erzählt hat. Es ist etwas, das sehr wenig mit der offiziellen Geschichte einer „immer engeren Union der Völker Europas” zu tun hat, und man stellt fest, dass es eigentlich immer ein Elitenprojekt war – von Anfang an. Und es war ein Projekt, das sowohl politische als auch wirtschaftliche Ziele verfolgte. Wenn man die rosarote Brille abnimmt, erkennt man, dass die Europäische Union in Wirklichkeit die extremste Ausprägung des größeren neoliberalen Projekts ist. Wenn man sich anschaut, worum es bei dem neoliberalen Projekt ging, war es letztlich eine Reaktion auf den Zusammenbruch des Nachkriegskonsenses, der aus kapitalistischer Sicht sowohl wirtschaftlich als auch politisch unhaltbar geworden war, weil die Gewinnspannen Mitte der 70er-Jahre aus verschiedenen Gründen immer mehr schrumpften. Aber unterm Strich funktionierte das System nicht mehr im Interesse der kapitalistischen Klasse. Eine Menge politischer Spannungen waren auch in Bezug auf die Arbeiterklasse, die arbeitenden Menschen und die organisierte Arbeiterschaft entstanden, die aus Sicht der Kapitalisten zu mächtig wurden. Es war eine Zeit großer politischer Umwälzungen, in der die politischen Massenparteien, einschließlich sozialistischer/kommunistischer, sozialdemokratischer und Arbeiterparteien, immer stärker wurden.
In einigen elitären Kreisen herrschte die wirkliche Befürchtung, dass die Massen in der Lage sein würden, die kapitalistische Logik durch den demokratischen Prozess langsam zu überwinden. Dies führte zu einer sehr starken Gegenreaktion der Eliten, die als „neoliberale Konterrevolution” bekannt wurde, welche sowohl ein wirtschaftliches als auch ein politisches Projekt war. Es war ein wirtschaftliches Projekt im Sinne der Zurückdrängung der Macht der organisierten Arbeiterschaft und der Wiederherstellung von Gewinnmargen. Es war aber auch ein politisches Projekt, um eine Lösung für dieses „Übermaß“ an demokratischer Mitsprache zu finden. In gewisser Weise war das neoliberale Projekt eine Antwort auf diese beiden Aspekte: An der wirtschaftlichen Front gab es all die Wirtschaftsreformen und die Angriffe auf die Gewerkschaften, die Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft und all das. Aber es gab auch eine politische Reaktion, bei der die Eliten versuchten, Wege zu finden, die formalen Aspekte der Demokratie aufrechtzuerhalten, während sie gleichzeitig die Demokratie von innen heraus aushöhlten. Und ich glaube, eine der Lösungen, die sie fanden, war: Wie können wir den Entscheidungsprozess entpolitisieren? Wie können wir dafür sorgen, dass die Menschen zwar die Möglichkeit haben, an den Wahlen teilzunehmen und für die Partei ihrer Wahl zu stimmen, dass sie aber nicht in der Lage sind, die Politik in den wirklich wichtigen Bereichen zu beeinflussen, insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch in der Außenpolitik?
Und eine der Lösungen, die sie fanden, war die „Supranationalisierung” der Politik, bei der man den Ort des Entscheidungsprozesses von der nationalen Ebene, wo die Menschen theoretisch ein Mitspracherecht haben, auf die internationalen Organisationen verlagert, wie zum Beispiel die WTO, wenn es um Handel geht, und ähnliche Organisationen, aber auch supranationale Organisationen wie die Europäische Union, die praktisch von demokratischer Rechenschaftspflicht und demokratischer Kontrolle abgeschottet sind. Im Grunde genommen haben die Menschen nur sehr wenig Einfluss auf das, was auf dieser Ebene entschieden wird, denn auf einer supranationalen Ebene gibt es keine wirkliche Demokratie.
Demokratie hat es nur auf nationaler Ebene gegeben – und kann es meines Erachtens auch nur auf nationaler Ebene geben. Wenn man also beginnt, die Dinge aus dieser breiteren historischen Perspektive zu betrachten, wird einem klar, worum es bei dem Projekt der Europäischen Union ging: Es war wirklich ein Weg, auf diese Krise zu reagieren und den Neoliberalismus in einem noch nie dagewesenen Ausmaß umzusetzen, indem man im Wesentlichen die nationalen Demokratien und die nationalen Souveränitäten aushöhlte, indem man diese supranationale Institution schuf, die sich als weitgehend resistent gegenüber jeder Form von demokratischem Druck erweisen würde.
Das ist also der politische Aspekt des neoliberalen Projekts, und gleichzeitig würde diese Institution dazu benutzt werden, die Gesellschaften im Einklang mit der neoliberalen Agenda umzugestalten.
Ich denke, das ist der Kern des Projekts der Europäischen Union. Es ist ein von einer Elite geführtes kapitalistisches Projekt, das darauf abzielt, die Macht des Kapitals auf Kosten der Arbeiter und Bürger nach der Krise der 1970er-Jahre zu stärken. Und ich denke, dass es in dieser Hinsicht – aus Sicht der Eliten – ein großer Erfolg war. Die EU hat es geschafft, die Politik und den Entscheidungsprozess in einem größeren Maße zu entpolitisieren als irgendwo sonst im Westen. Für die Arbeitnehmer war es eine absolute Katastrophe. Sie war ein sehr mächtiges Instrument zur Demontage eines Großteils des „europäischen Sozialmodells”. Die Europäische Union ist also weit davon entfernt, dieses Modell zu fördern, sie ist vielmehr das wichtigste Instrument zur Demontage des europäischen sozialdemokratischen Nachkriegsmodells, auf das wir alle so stolz sind.
Ich denke, das ist es, was die Europäische Union ausmacht: Sie ist ein grundlegend antidemokratisches Elitenprojekt, das dazu dient, die Macht von Unternehmen und einer Elite in Europa zu festigen. Ich denke, das ist es, was sie schon immer war. Und das ist es heute mehr denn je, außer dass wir heute eine zusätzliche geopolitische Wendung haben, die es vor ein paar Jahren noch nicht gab, nämlich diese praktische Verschmelzung der Europäischen Union mit der NATO, die die Europäische Union noch gefährlicher macht, als sie es vorher war. Denn jetzt haben wir nicht nur eine Institution, die im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, die Demokratie zu untergraben und die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Menschen zu beschneiden. Jetzt haben wir auch eine Institution, die sich voll und ganz der geopolitischen Strategie der USA und der NATO verschrieben hat, die heute im Wesentlichen darin besteht, einen Krieg gegen Russland zu führen – was natürlich etwas ist, worüber alle Europäer sehr besorgt sein sollten.
Was jetzt geschieht, entlarvt auch die Vorstellung von der Europäischen Union als Friedensprojekt, was vielleicht der letzte Mythos war, der noch übriggeblieben war – obwohl man argumentieren könnte, dass die Rolle der EU bei der Bombardierung Jugoslawiens dies bereits getan hat. Aber heute ist dieser Mythos mehr denn je entlarvt.
Heutzutage wird die Kritik an der EU meistens als eine rechte, autoritäre, populistische und nationalistische Position dargestellt. Was Sie vortragen, klingt aber wie eine klassisch linke Kritik. Wie würden Sie sie verorten?
Ja, ich würde meine Kritik als völlig übereinstimmend mit einer linken Analyse betrachten, die natürlich immer die Demokratie in den Vordergrund stellen sollte. Denn nur durch Demokratie – durch substanzielle Demokratie, nicht nur durch formale Demokratie – können die Menschen hoffen, dem Machtblock der Eliten etwas entgegenzusetzen, der zwar eine winzige Minderheit in der Gesellschaft ist, aber eine enorme wirtschaftliche und politische Macht ausübt. Nur durch kollektives Handeln können die Menschen also hoffen, es mit dieser Macht aufzunehmen. Das kann man nur auf demokratischer Ebene tun. Deshalb standen Sozialisten historisch gesehen an vorderster Front im Kampf für demokratische Rechte, weil sie immer verstanden haben, dass Demokratie eine Voraussetzung dafür ist, die Macht des Kapitals herauszufordern.
Man müsste also eigentlich davon ausgehen, dass jemand auf der Linken jedem Projekt, das dazu tendiert, die Demokratie auszuhöhlen und sie praktisch machtlos zu machen, sofort skeptisch gegenübersteht, denn das ist es, was die Europäische Union tut. Ich glaube, es ist nicht genug Leuten klar, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union bedeutet, dass man effektiv jede Möglichkeit verliert, sich wirklich in den demokratischen Prozess einzubringen, und zwar aus dem einfachen Grund – und ich denke, wir haben in den letzten Jahren genügend Beispiele dafür gesehen –, dass egal, wen man wählt, diese Regierung letztendlich nicht in der Lage sein wird, ein Programm umzusetzen, das eine Alternative zum Status quo darstellt, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Denn dazu braucht man eine Reihe von wirtschaftlichen Instrumenten, um die Wirtschaft zu regulieren und in sie einzugreifen, was die Regierungen heute nicht haben, weil wir alle diese Befugnisse an die Europäische Union delegiert haben.
Ich glaube, die Menschen wissen nicht wirklich, welch große Bedrohung für die Demokratie die Europäische Union darstellt. Man kann für eine Partei stimmen, die ein bestimmtes Programm hat, aber am Ende des Tages fehlen ihnen die Mittel, um einen systemischen Wandel zu bewirken – denn all diese Instrumente befinden sich jetzt in Brüssel und Frankfurt. Das ist eine enorme Herausforderung für die Demokratie, und zwar so sehr, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und vor allem im Euro jede Vorstellung davon, dass unsere Länder Demokratien im eigentlichen Sinne sind, fast zunichte macht. Man könnte also meinen, dass dies etwas ist, das die Menschen auf der Linken beunruhigt.
Und lange Zeit war das auch tatsächlich so. Auch wenn die Kritik an der Europäischen Union heute mit der Rechten in Verbindung gebracht wird, kam die meiste Kritik tatsächlich lange Zeit von der Linken. Bis in die 70er- und 80er-Jahre waren so gut wie alle sozialistischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien aus genau diesen Gründen entschieden gegen die Europäische Union. Sie sahen darin eine Bedrohung für die Demokratie und damit für die Fähigkeit der Arbeitnehmer, die Politik durch den demokratischen Prozess zu ihrem Vorteil zu beeinflussen.
Ich meine, das ist keine Raketentechnik. Wenn man sich mein Land, Italien, ansieht, war die Kommunistische Partei Italiens die souveränste Partei, die es je gegeben hat. Sie ist die einzige Partei, die gegen alle europäischen Verträge gestimmt hat, vom Vertrag von Rom 1957 bis zum Vertrag von Maastricht 1992. Aber wenn man sich die Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Parteien in Frankreich oder der Labour Party in Großbritannien anschaut, zeigt sich ein sehr ähnliches Muster: Es waren die linken Parteien, die gegen die Europäische Union gestimmt haben, weil sie erkannten, dass es sich um ein elitäres, korporatistisches, antidemokratisches Projekt handelte, während es die konservativen Parteien, die liberalen Parteien waren, die die Europäische Union unterstützt haben. Ein weiteres außergewöhnliches Kunststück der Propaganda ist also, dass sie es geschafft haben, jede Kritik an der EU irgendwie in eine rechte Sache zu verwandeln, obwohl es in Wirklichkeit lange Zeit genau das Gegenteil war.
Aber natürlich trägt auch die Linke eine große Verantwortung, denn die Linke selbst hat ihre Ansichten über die EU geändert. Und als die Linke die Europäische Union zu ihrer eigenen Sache machte, wurde es für das Establishment natürlich viel einfacher, jeden, der kein großer Fan der EU war, als Rechten zu beschuldigen. Dieser Wandel – fast eine anthropologische Mutation der Linken – hat sich über einen langen Zeitraum vollzogen.
Der australische Wirtschaftswissenschaftler Bill Mitchell und ich gehen auf diese Geschichte in unserem 2017 veröffentlichten Buch „Reclaiming the State” ein. In diesem Buch sprechen wir unter anderem über den Wandel der Linken und darüber, wie sich die Linke von einem Verständnis der Bedeutung der nationalen Souveränität als einzigem Ort, an dem tatsächlich demokratische Politik stattfinden kann, zu einer zunehmend negativen Sichtweise der nationalen Souveränität entwickelte und diese Ideologie des Supranationalismus übernahm. Letztendlich haben sie damit das neoliberale Projekt massiv unterstützt. Ich bin sicher, dass viele Menschen auf der Linken diese Entwicklung in gutem Glauben unterstützt haben. Sie haben einfach nicht erkannt, was wirklich dahintersteckt. Aber so kommen wir zu der Situation, in der wir uns heute befinden, wo die Linke die Idee der nationalen Souveränität völlig ablehnt. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, erkennt man, dass diese Ablehnung der Idee der nationalen Souveränität absolut keinen Sinn macht.
Letztlich hat sich die Demokratie historisch gesehen innerhalb der Grenzen des Nationalstaates entwickelt, weil die Demokratie, wie der Name schon sagt, einen Demos erfordert. Sie erfordert also eine Gemeinschaft, die sich selbst als politisches Subjekt betrachtet, deren Mitglieder bis zu einem gewissen Grad eine gemeinsame Identität teilen, die normalerweise durch eine gemeinsame Sprache, Werte, Normen usw. definiert wird. So hat sich die Demokratie historisch entwickelt, und sobald man anfängt, die Idee zu verkaufen, dass man Demokratie auf supranationaler Ebene haben kann, verkauft man eigentlich eine Lüge, denn das Konzept der Nationalstaaten und der nationalen Souveränität ist weit davon entfernt, ein reaktionäres Konzept zu sein; es ist tatsächlich eine Voraussetzung für jede Form von radikalem demokratischen Wandel. Wenn man das einmal verstanden hat, versteht man auch, warum die Europäische Union ein so gefährliches Projekt ist. Es ist fast lustig, wie sie es geschafft haben, nicht nur die wahre Natur der EU zu verschleiern, sondern auch völlig umzudeuten, was es bedeutet, gegen die Europäische Union zu sein.
Sie haben kürzlich einen Bericht mit dem Titel „Der stille Putsch: Die Machtübernahme durch die Europäische Kommission” veröffentlicht. Wenn ich Ihnen jetzt zuhöre, klingt es, als ob diese Machtübernahme, wenn man so will, schon eine ganze Weile läuft, sich aber vielleicht in letzter Zeit beschleunigt hat. Wie sehen Sie das?
Nun, ich denke, die Europäische Union als supranationales Projekt ist an sich schon antidemokratisch. Aber es ist natürlich auch sehr wichtig zu verstehen, wie es funktioniert und wie sich diese Bedrohung der Demokratie im Laufe der Zeit verändert hat. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Europäische Union ein Projekt war, das von den nationalen Eliten stark gefördert wurde. Sie hat sich nicht von selbst entwickelt. Es war ein Projekt, das von den nationalen Eliten aktiv gefördert wurde, und das mag paradox erscheinen. Warum sollten die nationalen Eliten bereit sein, ihre eigenen Befugnisse aufzugeben und diese Befugnisse an eine supranationale Institution zu übertragen, auf die sie selbst natürlich auch nur begrenzten Einfluss hätten, ganz zu schweigen von den einfachen Menschen? Dies hängt mit dem zusammen, was ich vorhin über die Art und Weise gesagt habe, wie die Europäische Union, insbesondere seit Maastricht, dazu benutzt wurde, diesen demokratischen Druck zu umgehen, mit dem die nationalen Eliten nicht mehr umzugehen wussten. Und sie sahen in der Europäischen Union eine bequeme Möglichkeit, diesem Druck auszuweichen.
Sie erkannten, dass sie durch die Übertragung von Zuständigkeiten an eine supranationale Institution in der Lage sein würden, eine Politik umzusetzen, die sie selbst umsetzen wollten – eine neoliberale Politik, die darauf abzielte, die Demokratie zu sabotieren, die Macht der organisierten Arbeiterschaft zu schwächen, den Wohlfahrtsstaat zu demontieren usw. – von der sie aber wussten, dass sie aus gutem Grund sehr unpopulär war. Und so erkannten die nationalen Eliten, dass sie durch die Übertragung der Macht an die Europäische Union in der Lage sein würde, diese Politiken durchzusetzen, indem sie die Europäische Union zum Sündenbock machten, indem sie sagten: „Das ist nicht etwas, das wir tun wollen, sondern etwas, das uns die Europäische Union aufträgt.”
Ich denke, diese Logik der „Schuldverschiebung” ist sehr wichtig, um zu verstehen, warum die nationalen Eliten die Europäische Union schon früh unterstützt haben. Sie sahen sie als ein Instrument, das sie gegen ihre eigene Bevölkerung, gegen ihre eigenen Wähler einsetzen konnten. Vor allem in meinem Land, Italien, haben wir dieses Narrativ im Laufe der Jahrzehnte immer wieder gehört. Es ist ein sehr starkes Narrativ, und es hat in hohem Maße dazu beigetragen, die Umsetzung vieler dieser politischen Maßnahmen zu erleichtern, weil es bedeutete, dass die Politiker die Urheberschaft für diese Maßnahmen verschleiern konnten und vermeiden konnten, für sie verantwortlich gemacht zu werden, indem sie die Schuld auf die Europäische Union schoben. Und daher ist es für mich ziemlich klar, dass die Europäische Union, vor allem in den ersten Jahren, als eine Art Trojanisches Pferd benutzt wurde, um eine Menge politischer Maßnahmen umzusetzen, die andernfalls viel schwieriger zu realisieren gewesen wären. Man kann sie also letztlich als ein Projekt sehen, bei dem sich nationale Führer aus ganz Europa zusammengetan haben, um sich gegen ihr eigenes Volk zu verschwören – auch wenn natürlich in jedem Land eine andere Logik im Spiel war. Die Gründe, warum Deutschland dem Euro beigetreten ist, waren beispielsweise ganz andere als die Gründe, warum Italien dem Euro beigetreten ist. Aber man kann diese Art von antidemokratischem Vorstoß in allen Ländern beobachten.
Und in diesem Zusammenhang hat es die Kommission als eine Art „supranationale Regierung” innerhalb der Europäischen Union natürlich immer gegeben, und sie hat immer einen ziemlich großen Einfluss gehabt, vor allem als die einzige Institution, die innerhalb der Europäischen Union Gesetze initiieren kann, und natürlich als eine Institution, die weitgehend von äußerem Druck abgeschirmt ist – nicht nur von demokratischem Druck durch die Bevölkerung, sondern auch von dem Druck der nationalen Regierungen. In dieser Hinsicht hat sie immer einen ziemlich großen Spielraum genossen. So spielte beispielsweise die Delors-Kommission in den 1980er-Jahren eine wichtige Rolle dabei, den Weg zur Währungsunion zu ebnen. Aber man könnte in diesem Zusammenhang argumentieren, dass es immer noch zu einem großen Teil Nationalstaaten waren, die die Institutionen der Europäischen Union nutzten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Und hierbei hat der Europäische Rat – die Institution, die alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union umfasst – neben der Europäischen Kommission eine wichtige Rolle gespielt.
Das hat die Europäische Union nicht unbedingt demokratischer gemacht, denn die Mitgliedstaaten selbst waren der Demokratie nicht besonders verpflichtet und haben die Europäische Union benutzt, um die Demokratie zu umgehen, wie ich oben erklärt habe. Dennoch spielten die nationalen Regierungen über den Rat eine wichtige Rolle, und ich denke, wir haben das zum Beispiel während der Eurokrise sehr deutlich gesehen, auch wenn die Europäische Kommission auch damals schon ihre Befugnisse ebenfalls erweitert hat. Wir alle erinnern uns daran, wie wichtig die Rolle der nationalen Regierungen in dieser Krise war, z.B. die Deutschlands, natürlich durch Angela Merkel, und die Frankreichs durch Sarkozy. Es ist ziemlich klar, dass die nationalen Regierungen zu dieser Zeit noch stark in den Entscheidungsprozess der EU eingebunden waren. Auch hier handelten sie nicht unbedingt im Einklang mit dem Willen der Menschen in ihren eigenen Ländern. Dennoch könnte man argumentieren, dass ein Prozess, der Verhandlungen zwischen demokratisch gewählten nationalen Regierungen beinhaltet, immer noch demokratischer ist als ein Prozess, der in den Händen einer völlig ungewählten und undemokratischen Institution wie der Europäischen Kommission liegt.
Vor allem in den letzten zehn bis 15 Jahren, beginnend mit der Euro-Krise, ist nun eine langsame, aber stetige Ausweitung der Befugnisse der Kommission zu beobachten, die ihre Macht langsam auf Zuständigkeitsbereiche und sogar auf die Angelegenheiten der Mitgliedstaaten ausgedehnt hat – auch auf Bereiche, für die sie zuvor keine Zuständigkeit hatte, und sogar auf solche, für die sie auf der Grundlage der europäischen Verträge keine formellen Befugnisse hat.
Ich sehe dies als einen zweigleisigen Prozess: Den einen könnte man als „Kompetenzausweitung” (im Original: „competence creep“) bezeichnen. Das ist die Art und Weise, in der die Europäische Union durch die Kommission langsam ihren Einfluss und ihre Kontrolle über immer mehr Bereiche der Entscheidungsfindung ausweitet. Und das ist etwas, das immer hinter den Kulissen geschieht. Dies kann durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs geschehen, die der Europäischen Union immer mehr Macht verleihen, oder durch kleine Gesetzesänderungen, von denen die meisten Menschen nicht einmal wissen, dass sie stattfinden. Einige Wissenschaftler haben dies auch als „heimliche Integration” oder „verdeckte Integration” bezeichnet. Das ist eine Integration, die nicht durch demokratische Willensbildung oder Vertragsänderungen erfolgt. Es ist etwas, das hinter den Kulissen und vor neugierigen Blicken verborgen geschieht und dessen sich die meisten Menschen nicht einmal bewusst sind. Es handelt sich also um eine sehr hinterhältige Form der Integration, denn ursprünglich wurden der Europäischen Union nur begrenzte Befugnisse übertragen, aber im Laufe der Jahre wurden diese Befugnisse massiv erweitert.
Aber es gibt noch eine andere Art und Weise, wie die Kommission ihre Befugnisse ausgeweitet hat, und zwar durch das, was ich in meinem Bericht „Integration durch Putsch” (oder Putsche) nenne. In Krisenzeiten, wenn die Menschen verängstigt, desorientiert oder verwirrt sind, ist es viel einfacher, schnelle und sogar radikale institutionelle Veränderungen durchzusetzen. Es wird viel einfacher, Institutionen und sogar Gesellschaften umzugestalten.
Im Gegensatz zu diesem langsamen, schleichenden Kompetenzzuwachs, der immer stattfindet, kommt es in Krisenzeiten fast zu Quantensprüngen, bei denen die Kommission die Gelegenheit nutzt, um ihre Befugnisse plötzlich zu erweitern – fast so, wie man es bei einem Staatsstreich erwarten würde, ein Begriff, den ich in diesem Papier häufig verwende, weil er meiner Meinung nach die Art dieser Machtergreifung recht gut beschreibt. Es handelt sich nicht um einen gewaltsamen Staatsstreich, an ihm ist weder das Militär noch die Polizei beteiligt sind. Aber dennoch ist es etwas, das insofern ein Staatsstreich ist, als Momente der öffentlichen Desorientierung genutzt werden, um plötzlich die Macht zu ergreifen – oft auf eine Art und Weise, die sogar gegen die europäischen Verträge und das europäische Recht selbst verstößt, ohne jegliche demokratische Verhandlungen. Unter Ursula von der Leyen hat dieser Prozess eine massive Beschleunigung erfahren.
Titelbild: Thomas Fazi
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