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Titel: Christoph Werth: Die Wahrnehmung der Bürger ist im realen Leben eine völlig andere, als die, welche sie von den etablierten Medien präsentiert bekommt.

Datum: 25. April 2006 um 16:08 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Erosion der Demokratie, Medien und Medienanalyse, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich:

Der Medienwissenschaftler Christoph Werth über Mainstreamjournalismus, die Tendenz zur Meinungsmache, über das Entstehen einer Oligarchie aus Staat, Wirtschaft, Verbänden und etablierten Medien und über sich dabei entwickelnden Verflechtungen, die sich von demokratischen Grundprinzipien zunehmend entfernen.

Christoph Werth lehrt die Fächer Medienpolitik und Politische Wissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er hat den NachDenkSeiten das nachfolgende Interview mit der In Regensburg erscheinenden Zeitschrift „Der Leserbrief“ zur Verfügung gestellt.

Kroll: Herr Dr. Werth, in zwei Stunden werden Sie im Evangelischen Bildungswerk einen Vortrag mit dem Titel „Journalismus auf dem Schoß von Politik und Wirtschaft“ halten. Sind unsere Medien zu einem Schoßhündchen verkommen?

Werth: Die Demokratie lebt wesentlich von Öffentlichkeit. Die Medien haben die zentrale Aufgabe, Transparenz der res publica zu ermöglichen und eine öffentliche Debatte herzustellen. Tun sie das nicht, dann bilden sich geschlossene Systeme, und es bestimmen abgeschottete Staatsapparate, Zentralkomitees oder oligarchische Verflechtungen aus Wirtschaft, Verbänden und Parteien die Gesellschaft. Wir erleben gerade einen Trend zu oligarchischen Systemen: Im großen Stil sehen Sie das in Italien – Stichwort Berlusconi. Aber auch im Lokalen ist dies zu beobachten. Wenn – wie in Regensburg – der Herausgeber der Tageszeitung gleichzeitig der Präsident einer Wirtschaftskammer ist, dann entstehen oligarchische Verflechtungen, die sich von demokratischen Grundprinzipien zunehmend entfernen.

Gewaltenteilung ist eines dieser Grundprinzipien. Offiziell unterscheidet man drei Gewalten. Man spricht aber auch oft von den Medien als der „vierten Gewalt“, oder wie es Thomas Leif in seinem neuesten Buch tut, von den Lobbyisten als der „fünften Gewalt“.

In Deutschland liegt der Sonderfall vor, dass die Exekutive mit einem Teil der Legislative verbunden ist. Denn im Deutschen Bundestag ist es so, dass die Regierung aus der Mehrheitsfraktion des Parlaments hervorgeht. Die Gewalten sind daher schon stärker verflochten als etwa in den USA. Hinzu kommt in Deutschland noch eine politische Kultur, die weiterhin vom Obrigkeitsdenken geprägt ist. Das führt zu der Grundhaltung: Der Bürger darf nichts wissen. Der Datenschutz wird dabei gerne als vorgeschobenes Argument benutzt, um Informations- und Transparenzdefizite zu legitimieren. Andererseits liegen dem Staat alle Informationen über den Bürger vor: Der deutsche Staat weiß alles – der Bürger nichts. In den USA hat man dagegen eine viel offenere Tradition. Sie haben in den USA die Zivilgesellschaft sozusagen als zusätzliche Gewalt. Der Freedom of Information Act sorgt schon lange für das, was hier mit dem Informationsfreiheitsgesetz erreicht werden sollte und nun durch die massive Verwässerung und eine restriktive Anwendungspraxis faktisch nur sehr ungenügend erreicht werden kann.

Kroll: Grund genug für die Presse, ihren verfassungsmäßigen Auftrag, über Zustände und Missstände des öffentlichen Lebens zu berichten, ernst zu nehmen. Tun sich lokale Medien dabei schwerer, und werden daher die lokalen Verfilzungen und Korruptionskartelle weniger stark durchleuchtet?

Werth: Lokale Medien tun sich ungleich schwerer, wenn sie einem geschlossenen Herrschaftsblock gegenüberstehen. Dieser Block kann sich aus der, oder den dominierenden politischen Parteien bilden. Er kann aber auch aus Parteien, Wirtschaft und Verbänden bestehen. Wenn es in solchen Konstellationen noch Schneisen gibt, aus denen die unabhängigen Medien Informationen bekommen, dann können sie diese publik machen und die nötige Öffentlichkeit herstellen. Ist dieser Herrschaftsblock allerdings geschlossen, dann dringen auch keine Informationen mehr über Zustände oder Missstände aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft an die Öffentlichkeit. Transparenz ist dann nicht mehr herzustellen, und man kann nur noch Beobachtungen von außen anstellen. Man kommt sozusagen nicht an „Innen-Wahrheiten“ heran, weil diese dem Herrschaftswissen unterworfen sind! Man kann dann nur noch darauf warten, dass es irgendwo „knallt“, dass Insider bestimmte Dinge endlich öffentlich machen wollen, und dass sich gleichsam der Deckel über der brodelnden Korruptionsbrühe nicht mehr schließen lässt.

Kroll: Wird die kritische Berichterstattung durch die zunehmende Privatisierung öffentlicher Aufgaben noch erschwert?

Werth: Die Wirtschaft an sich funktioniert nicht nach demokratischen, transparenten und öffentlichen Regeln. Sie ist hierarchisch strukturiert und intransparent. Die Auslagerung von öffentlichen Aufgaben in private Unternehmen entzieht sich der Kontrolle durch demokratisch legitimierte Einrichtungen. Allerdings bringen die neuen Medien – ich denke hier an die Blogger-Szene oder den Graswurzel-Journalismus – neue Chancen, um Gegenöffentlichkeit herzustellen und dadurch ein Gegengewicht zu erzeugen.

Kroll: Der deutsche Blätterwald unterscheidet sich in seiner Berichterstattung und auch in der Kommentierung von wirtschaftspolitischen Fragen nicht grundsätzlich. Gibt es einen Mainstream-Journalismus auf diesem Sektor?

Werth: Die Arbeitgeber sind da sehr straff und in Bezug auf die Pressearbeit sehr professionell organisiert. Das ist bei der sog. Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) deutlich zu erkennen. In den etablierten Medien gibt es zudem eine Tendenz, in eine bestimmte Richtung zu argumentieren: Die Löhne müssen runter, die Lohnnebenkosten sind zu hoch, der Kündigungsschutz muss gelockert werden, Bürokratieabbau ist nötig. Bei Sabine Christiansens Talk-Sendung wird das schon an der Auswahl der Gäste offensichtlich: Wer sitzt da, und vor allem: wer sitzt da nicht? Walter van Rossum beschreibt diese Tendenz zur Meinungsmache als „Argumentation mit der Geschlossenheit eines Zentralkomitees“.

Durch diese Art von Mainstream-Argumentation entsteht das Problem des doppelten Meinungsklimas. Die Wahrnehmung der Bürger ist im realen, sozialen Leben eine völlig andere, als die, welche sie von den etablierten Medien präsentiert bekommen. Dies führt dann zu einer wachsenden Entfremdung und Distanz und letztlich zu einer Politik- und Demokratieverdrossenheit – wobei sich die Verdrossenheit auf die Art bezieht, mit der die Demokratie real praktiziert wird, und nicht auf die Demokratie als Staatsform an sich.

Mehrere Faktoren ermöglichen diese Meinungsbildung zugunsten der Wirtschaft:
Die Interessenverbände transportieren ihre Botschaften teils auf dem Wege der Korruption. Journalisten orientieren sich allzu gern an der Macht. Kurt Tucholsky sagte schon: „Ein deutscher Journalist braucht nicht bestochen, er braucht nur eingeladen zu werden.“ Zudem liegt oft auch noch ein Mangel an politischer oder wirtschaftlicher Bildung bei den Journalisten vor. Überdies spielt auch der Zeit- und Kostendruck in den Redaktionen eine Rolle: Häufig werden deshalb vorgefertigte PR-Beiträge, die von wirtschaftlichen Interessensgruppen oft mit großem Aufwand erstellt werden, ungeprüft übernommen.

Kroll: Sie sprachen gerade von einem „doppelten Meinungsklima“. Man könnte es auch als „Schizophrenie“ bezeichnen. Welche Auswirkungen werden diese Differenzen zwischen persönlicher Wahrnehmung und medialer Präsentation auf die Zivilgesellschaft haben?

Es wird ähnliche Auswirkungen wie im Ostblock vor 1989 haben. Dort gab es die zensierten Medien der Partei, die alles schön gezeichnet haben. Und dann gab es das, was in den Medien nicht vorkam, was die Bürger aber am eigenen Leibe erlebt haben. Bitterfeld in der ehemaligen DDR beispielsweise. Darüber hatte Monika Maron ihren Roman „Flugasche“ verfasst und daraufhin erhebliche Schwierigkeiten mit der Staatsmacht bekommen, denn offiziell gab es ja kein Umweltschutzproblem in der DDR.

Und das gleiche werden wir jetzt auch erleben: Seit Jahren werden die Reformen gepredigt, wird die „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ als Lösung verkauft. Gleichzeitig verlieren zunehmend Menschen aus der Mittelschicht ihre Beschäftigung und müssen ihre Wohnungen verlassen, die ihnen dann (nach den Maßstäben von Hartz IV) nicht mehr zugestanden werden. Das führt zu einem stärker werdenden Misstrauen gegenüber der Oligarchie aus Staat, Wirtschaft, Verbänden und etablierten Medien. Daraus kann sich ein Protestwählertum ergeben…

Kroll: …oder auch völlige Resignation.

Werth: Es kann sich auch in Protest- oder Unmutsäußerungen, in Demonstrationen oder im Schreiben von Leserbriefen äußern. Oder darin, dass Nicht-Regierungs-Organisationen wie attac vermehrt Unterstützung erfahren. Es kann sich im Aufschwung der Linkspartei äußern oder darin, dass die Leute überhaupt nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie keine reale Wahl-Möglichkeit sehen und in den „Wahlen“ letztlich eine undemokratische Farce.

Kroll: Welche Rolle spielt das Agenda-Setting in regionalen und überregionalen Medien?

Werth: Das spielt eine zentrale Rolle, denn wir leben ja in einer Mediengesellschaft. Und was nicht in den Medien vorkommt, existiert quasi auch nicht. Die ausgelassenen Themen sind daher auch ein Untersuchungsobjekt von Prof. Horst Pöttker von der Universität Dortmund. Auf www.nachrichtenaufklaerung.de werden diejenigen Themen behandelt, die von den etablierten Medien ausgeblendet werden. Die taz hatte für sich die gute Praxis eingeführt, zumindest das zu erwähnen, worüber sie selbst nicht schreibt.

Viele Sachverhalte werden verschwiegen, kommen also in der öffentlichen Debatte gar nicht vor. Bestimmte Themen werden auch gar nicht vermisst, denn der deutsche Zeitungsleser liest sein Blatt oft nur, um in seiner Meinung bestätigt zu werden. Der Journalist Hans Leyendecker hat die Erfahrung gemacht, dass ihn wütende Leserbriefe erreicht haben, wenn er der erwarteten Lesermeinung nicht entsprochen hatte. Das deutet darauf hin, dass auch die Leute durchaus selektiv wahrnehmen, dass unangenehme Themen einfach ausgeblendet werden.

Das ist nun auf lokaler wie überregionaler Ebene so. Allerdings hat man auf der lokalen Ebene oft nur Einzeitungskreise und nicht die Möglichkeit, in anderen Publikationen nachzusehen, was jetzt eigentlich fehlt. Wenn Zeitungsmonopolisten die lokale Politik ständig schön schreiben, werden die Schattenseiten nicht beleuchtet. Diesem Informationsdefizit wäre nur durch Herstellung von Gegenöffentlichkeit zu begegnen.

Kroll: Ist die Neigung zur Verdrängung ein typisch deutsches Phänomen?

Werth: In Deutschland überwiegt der Meinungs- oder Bekenntnisjournalismus. Diese Tradition wollten nach dem zweiten Weltkrieg die Alliierten – insbesondere die Briten – korrigieren. Im klassischen englischen Journalismus gehörte es zum guten Ton, zwischen Fakten und Meinungen zu trennen: Ein Beitrag bringt zunächst alle Seiten einer Sache, im Kommentar werden dann Aspekte entweder positiv gewürdigt oder negativ kritisiert. Es ist eine deutsche Unsitte, schon in der Faktendarstellung bestimmte Aspekte ausblenden zu wollen und alles meinungsmäßig einzufärben.

Kroll: Kommen wir noch zum Thema Korruption: Kavaliersdelikt oder kriminelle Handlung? Welche Rolle spielen die Medien hier?

Werth: Die wirtschaftswissenschaftliche Definition lautet: Tausch, bei dem einer der Beteiligten durch Missbrauch einer Vertrauensstellung eine nicht erlaubte Handlung als Leistung erbringt. Ich betrachte Korruption nicht als Kavaliersdelikt, weil sie ein Außer-Kraft-Setzen der rechtlichen oder der geordneten politischen Verfahren ist. Für den Außenstehenden ist die Verflechtung und Verfilzung schwer zu durchschauen. Der deutsche Bundestag hat durch die Vorgabe, Nebentätigkeiten offenlegen zu müssen, versucht, mehr Transparenz in die Abläufe zu bringen. Wenn sich Politiker aber ganz offen als Vertreter von bestimmten Interessen ausgeben, dann ist das aus demokratie-theoretischer Sicht schon sehr bedenklich, weil sie ja eigentlich “das Volk“ vertreten und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sein sollen.

Von Politikern praktizierter Lobbyismus ist derzeit aber nicht justiziabel. Die Medien können allerdings über solche Verflechtungen aufklären und somit im Sinne der Demokratie konstruktiv tätig sein. Sie können einerseits Korruption aufklären und Korruption bekämpfen. Sie können aber auch Geschäftspartner der Korruption sein.

Franziska Augstein hat erst kürzlich gegen das früher von ihrem Vater Rudolf herausgegebene Magazin Der Spiegel schwere Vorwürfe erhoben. Unter der Überschrift „Der Fisch stinkt vom Kopf her“ hat sie dem jetzigen Herausgeber vorgeworfen, das Magazin sei zu unkritisch und nehme zusehends Rücksicht auf Unternehmerinteressen. Wenn ein Blatt einseitig dem Neoliberalismus das Wort redet, so ist dies offenkundig kein qualitätvoller Journalismus mehr. Es gibt zwar grundsätzlich durch das Prinzip des Außenpluralismus in der Presselandschaft ein Anrecht auf Meinungsjournalismus. Wenn aber ein Blatt quasi als Zentralorgan des BDI funktioniert, dann ist das für mich schon Korruption.

Kroll: Die Eigentümerrechte des Artikel 14 Grundgesetz berechtigen einen Verleger also dazu, eine gewisse Grundhaltung seiner angestellten Redakteure einzufordern. Kann man nicht andererseits aus der Sozialbindung des Eigentums auch eine Verpflichtung zum Dienst an der Allgemeinheit ableiten?

Werth: Die Systematik der Grundrechte Artikel 1 bis 19 im Grundgesetzt lässt kaum ein Grundrecht völlig uneingeschränkt. Alle Grundrechte stoßen an Grenzen, spätestens dann, wenn die Grundrechte des anderen betroffen sind. Das gilt für die Religionsfreiheit genauso, wie für den Artikel zum Eigentum und zur Sozialbindung des Eigentums. Der klassische Satz von Alphonse Karr lautet:
Die Freiheit eines jeden hat als logische Grenzen die Freiheit der anderen.

Aus der Sozialbindung des Eigentums und der katholischen Soziallehre leitet sich ja das deutsche Sozialstaatsprinzips ab. Es ist die wesentliche Grundlage des rheinischen Kapitalismus. Die Gemeinwohlorientierung schützte uns bisher vor einem ungezähmten Räuberkapitalismus. Es muss immer eine Balance zwischen den Einzelinteressen und den Interessen der Allgemeinheit geben.

Kroll: Ist Kritik an der herrschenden Wirtschaftsvorstellung nicht schon deshalb schwierig, weil immer noch das Dogma gilt: „Was der Wirtschaft nützt, nützt auch der Allgemeinheit“?

Derjenige, der am nachdrücklichsten für Lohnsenkungen und Erhöhungen der Wochenarbeitszeit plädiert, ist der Münchner Ökonomieprofessor Hans-Werner Sinn. Er bleibt allerdings den Beleg schuldig, wie durch ein sinkendes Lohnniveau die lahmende Binnennachfrage angekurbelt werden kann. Sinn polemisiert auch weiter gegen höhere Löhne, obwohl Wirtschaftminister Glos und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers erklärt haben, man solle im Interesse der Binnennachfrage zu höheren Lohnabschlüssen kommen.

Die Weltsicht: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, ist auch alles andere in Ordnung“ ist ja gerade ein Bestandteil der PR-Arbeit von Wirtschaftsinteressenverbänden wie der INSM oder der dubiosen Kampagne „Du bist Deutschland“. Und diese Weltsicht hat sich in der Öffentlichkeit so breit gemacht, dass die Leute tatsächlich glauben, dies sei die einzige Wahrheit. Das ist ebenso eingeprägt wie das sog. „TINA-Prinzip“, also Margaret Thatchers „There is no alternative“, mit dem der Neoliberalismus in Großbritannien begründet wurde. Die Öffentlichkeit wird durch solche Parolen derart benebelt, dass dadurch auch der Primat der Politik ausgehebelt wird. Entscheidungen werden nicht mehr politisch getroffen, man fragt sich nicht mehr, „was wollen wir eigentlich?“, „in welcher Gesellschaft wollen wir leben?“, “„welche soziale Ordnung wollen wir?“ – man fragt nur noch „was ist das Interesse der Wirtschaft?“.

Nehmen Sie das Buch „Mattscheibe“ von Jürgen Bertram, der nach Jahren als Auslandskorrespondent wieder nach Deutschland kam und sich wundern musste, was in der Zwischenzeit mit den öffentlich-rechtlichen Sendern passiert war. Er stellte neben anderem fest, dass zu den Nachrichtensendungen immer ausführliche Börsenberichte ausgestrahlt werden. Das zeigt, welchen Stellenwert die Wirtschaft hat, wie stark wirtschaftliche Interessen die öffentliche Diskussion bestimmen. Wenn nun alles auf „die“ Wirtschaft zugespitzt ist, dann verengt sich natürlich das Beurteilungsspektrum. Und das führt wiederum dazu, dass sich die Bevölkerung mit ihren Anliegen nicht ernstgenommen und nicht verstanden fühlt.

Der Wahlkampf für die letzten Bundestagswahlen 2002 und 2005 hat das auch ganz deutlich gemacht. Im Nachhinein waren sich die Analytiker einig, dass man zu stark auf Wirtschaftsthemen und zu wenig auf die eigentlichen Themen der Bevölkerung gesetzt hatte.

Kroll: Zeitungsmacher haben ja nicht nur die Verantwortung zu umfassender Aufklärung. Die Presse- und Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen vor allem da, wo Persönlichkeitsrechte berührt sind. Wie beurteilen Sie den Karikaturenstreit?

Werth: Verleger, Herausgeber und Redakteure sind zu verantwortungsvollem Umgang mit Nachrichten und journalistischen Stoffen verpflichtet. Im Englischen gibt es den Ausdruck des gatekeepers, und das heißt, es wird darauf geachtet, welche Inhalte wie veröffentlicht werden. Bei der ganzen Diskussion ist zu bedenken, dass in der europäischen Entwicklung die Meinungsfreiheit im wesentlichen den Herrschaftsansprüchen der Kirche abgetrotzt wurde. Eine freiheitliche Gesellschaft muss es ermöglichen, dass Religion ausgeübt werden kann, aber auch, dass sich über Religion kritisch geäußert werden kann. Sowohl in Saudi-Arabien, als auch in Islamischen Ländern des Nahen Ostens gibt es haufenweise bösartige Karikaturen über Juden oder Christen. Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum ein allmächtiger Gott „Allah“ – vor Zeichnungen aus Dänemark geschützt werden muss. Insofern finde ich die Hysterie gegen die Karikaturen nicht berechtigt und politisch instrumentalisiert und gesteuert. Man kann allerdings kritisch gegen diese Reaktionen argumentieren, ohne dass man damit den amerikanischen Herrschaftsanspruch und den Irak-Krieg gutheißt.

Es gibt in der öffentlichen Debatte auch einen grundlegenden Irrtum: Es geht hier nicht um einen „Kampf der Kulturen“, sondern um verschiedene Vorstellungen von Zivilisation. Samuel Huntingtons Titel “The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order” wird da zu verkürzt verwendet. Die europäische Zivilisation gründet auf Meinungs- und Religionsfreiheit und auf einer Übereinkunft, dass Konflikte nicht im Affekt gelöst werden und dass man sich nicht gegenseitig ermordet. Das bedeutet, man respektiert die verschiedenen Meinungen und trägt Konflikte argumentativ aus. Für die europäische Entwicklung war die Pressefreiheit eine wesentliche zivilisatorische Errungenschaft, ein Gut, das wir auf jeden Fall verteidigen müssen.

Zur Person:
Dr. phil. Christoph H. Werth, M.A., Historiker und Publizist, lehrt seit dem Jahr 2000 Medienpolitik und Politische Wissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er war Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Bonn, Büroleiter eines Parlamentarischen Staatssekretärs mit besonderer Zuständigkeit für Medienpolitik (1990 – 1996), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien“ „Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ des Deutschen Bundestages (1996 – 1998), Dozent für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn (1996 – 2000) und Geschäftsführer des „Forums Informations-Gesellschaft“ der Bundesregierung (1998 – 2000).

Seine Dissertation „Sozialismus und Nation“ – ein Werk von 400 Seiten – liegt bereits in 2. Auflage vor (Weimar 2001) und hat inzwischen den Rang eines Standardwerkes zur politischen Ideengeschichte. Weitere Veröffentlichungen: Konrad Adenauer, Strategie und Weltsicht (Frankfurt a.M. 1991); Medienethik – die Frage der Verantwortung (Hrsg., Bonn 1999), zudem zahlreiche Artikel und Aufsätze, Vorträge und Interviews zur Europapolitik, Medienpolitik, Medienethik, Informationsgesellschaft, Zeitgeschichte, Demokratietheorie und Zivilgesellschaft. Dr. Christoph Werth ist Mitglied des Netzwerks Medienethik, der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).


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