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Titel: Die ukrainische Bevölkerung schrumpft dramatisch
Datum: 16. September 2024 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demografische Entwicklung, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Bereits vor dem Einmarsch Russlands befand sich die Ukraine in einer schweren demografischen Krise. Die rasant sinkende Geburtenrate sowie die Auswanderung gaben den Trend vor, und der bald seit drei Jahren anhaltende Krieg hat Hunderttausende von Opfern gefordert, mindestens zehn Millionen Menschen haben das Land verlassen. Die UNO sagt voraus, dass die ukrainische Bevölkerung, die im August 1991 bei der Unabhängigkeitserklärung 50 Millionen betrug, bis zum Jahr 2100 auf etwa 15 Millionen zurückgehen wird. Diese Situation, ohne die anderen Folgen des Krieges, ist eine nationale Katastrophe für sich und wird die Zukunft der Ukraine grundlegend bestimmen. Ein Beitrag von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die Ukraine steht am Rande eines demografischen Abgrunds. Die Behörden haben die Dramatik der Situation erkannt und ein neues Ministerium eingerichtet, das sich mit der Rekordabwanderung befassen soll. „Millionen von Ukrainern leben in anderen Ländern. Nie zuvor hat die Auswanderung ein solches Ausmaß angenommen. Die Aufgabe der neuen Institution wird es sein, ihre Beziehungen zur Ukraine zu pflegen und die Interessen unseres Landes zu schützen“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Die Ukraine hat bereits eine große Auswanderungswelle erlebt, aber nach offiziellen Angaben versuchen immer noch jeden Tag etwa 200 Männer im wehrfähigen Alter, das Land zu verlassen. In den ersten acht Monaten des Jahres 2024 haben etwa 400.000 Menschen die Ukraine verlassen, obwohl die europäischen Vergünstigungen gesunken sind.
Nach Angaben der Nationalbank der Ukraine beläuft sich die Gesamtzahl der ukrainischen Migranten im Ausland damit auf 6,7 Millionen. Aber in der Tat sollen während des Krieges noch viel mehr Menschen die Ukraine verlassen haben. Nach den oben genannten Statistiken gibt es 1,1 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Deutschland, fast eine Million in Polen, 360.000 in der Tschechischen Republik und etwa 60.000 in Ungarn. Nicht mitgezählt sind die Flüchtlinge in Russland, deren Zahl von der UNO auf drei Millionen und von den russischen Behörden auf fünf Millionen geschätzt wird.
Und das alles, während es Männern zwischen 18 und 60 Jahren verboten ist, die Ukraine während des Kriegszustands zu verlassen. Wer sich während der Mobilisierung dem Militärdienst entzieht, kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
Falscher Ansatz für das Problem
Die Herausforderung ist in der Tat enorm, aber das neue Ministerium kann die Aufgabe kaum bewältigen, wenn es nicht versucht, die Ursachen des Problems zu finden und, wenn möglich, zu beseitigen. Aber auch hier sieht der Präsident die Handschrift des Kremls. Wie er auf einer Mitarbeiterversammlung des Außenministeriums sagte, stehen die Bürger, die das Land verlassen haben, unter dem Einfluss der russischen Propaganda, und Moskau versuche, ihnen die kulturelle Bindung an ihre Heimat zu nehmen. Die Hauptaufgabe des Ministeriums wird es daher sein, dem russischen Einfluss auf ukrainische Bürger, die das Land verlassen, entgegenzuwirken – so die Leitlinien des Präsidenten, was ein falscher Ansatz für das Problem ist.
Die Behörden gehen davon aus, dass sie in der Lage sein werden, die Hälfte der Ausreisenden zu repatriieren, sodass die Zahl der ukrainischen Bürger bis 2033 auf 35 Millionen ansteigen wird. Das ist ein recht optimistisches Ziel angesichts der UN-Projektion für das Jahr 2100, die eine Bevölkerung von 15,3 Millionen in der Ukraine voraussagt.
Die Probleme begannen nicht mit dem Krieg, er beschleunigte nur eine sich bereits dramatisch verschlechternde demografische Entwicklung. Bereits vor 2022 gehörte die Ukraine zu den 23 Ländern, für die nach UN-Angaben bis 2050 ein Bevölkerungsrückgang von 20 Prozent und bis zum Ende des Jahrhunderts von 50 Prozent prognostiziert wurde.
Während in der ersten Zeit der Unabhängigkeit jedes Jahr mehr als eine halbe Million Kinder in der Ukraine geboren wurden, sank diese Zahl auf 364.000 im Jahr 2017 und auf 187.000 in den frühen 2020er-Jahren – ein Trend, der unaufhaltsam zu sein scheint. Nach Angaben von Opendatabot (ein Dienst, der die Überwachung der Registrierungsdaten ukrainischer Unternehmen und des Gerichtsregisters ermöglicht) wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2024 in der Ukraine 87.655 Kinder geboren, ein Rückgang von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Derzeit kommen auf jede Geburt in der Ukraine laut den verfügbaren Daten drei Todesfälle, aber schon zwischen 2018 und 2020 kamen auf jede Geburt zwei Todesfälle.
Nach den Statistiken des ukrainischen Gesundheitsministeriums sinkt die Zahl der Geburten im Land seit 2013 um rund sieben Prozent pro Jahr. Die demografische Krise wird durch den Verlust von Menschenleben im Krieg, der je nach Quelle auf 150.000 bis eine halbe Million Menschen geschätzt wird, noch verschärft. Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Todesopfer sich schätzungsweise um die 200.000 bewegt.
Darüber hinaus haben in den bisherigen fast drei Jahren des Krieges nach UN-Angaben etwa zehn Millionen Ukrainer ihren Wohnort verlassen, die meisten von ihnen auch das Land. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissars gibt es keine Anzeichen dafür, dass Flüchtlinge im Ausland massenhaft über eine Rückkehr nachdenken. Die Folgen der Auswanderung sind noch gravierender, wenn man bedenkt, dass nach Angaben der Weltorganisation 47 Prozent derjenigen, die die Ukraine verlassen, Frauen und 33 Prozent Kinder sind.
Niedrigste Geburtenrate der Welt
Wenn die ins Ausland geflohenen Frauen nicht in die Ukraine zurückkehren, wird die Bevölkerungswachstumsrate des Landes – die Zahl der Geburten pro Frau – bereits auf 0,71 sinken – die niedrigste in der Welt, so Ila Libanova, Direktorin des Forschungsinstituts für demografische und soziale Angelegenheiten der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Die demografischen Schäden werden sich auch deshalb langfristig auf die ukrainische Gesellschaft auswirken, weil die Alterspyramide von der Altersgruppe der 35- bis 50-Jährigen dominiert wird. Doch damit sich die demografische Situation verbessert, sollte die Schicht der 25- bis 35-Jährigen gestärkt werden, derjenigen also, die sich in der aktiven Fortpflanzungsphase befinden. Diese Verzerrung wird sich sehr stark auf die ukrainischen demografischen Indikatoren auswirken, und die Verlängerung des Krieges wird diese Trends dauerhaft machen. Die Ukraine steht also vor einer Entvölkerung.
Die dramatische Verschlechterung der demografischen Indikatoren wirkt sich bereits direkt auf den Verlauf des Krieges aus, da das Mobilisierungspotenzial des Landes im dritten Kriegsjahr stetig abnimmt.
Nach einer Analyse der ungarischen Oeconomus-Stiftung für Wirtschaftsforschung wird die männliche Bevölkerung der Ukraine im Alter von 18 bis 59 Jahren im Jahr 2021 etwa 10,4 Millionen betragen, ohne die Krim und die Donbass-Regionen. Werden jedoch die verschiedenen Kategorien von Männern abgezogen, die nicht für eine Mobilisierung in Frage kommen – Flüchtlinge, Beschäftigte des kritischen Sektors, Lehrer, 18- bis 24-Jährige, kinderreiche Familien, diejenigen, die sich in den besetzten Gebieten aufhalten, diejenigen, die derzeit in der Armee dienen, unter anderen –, kommen wir auf etwa 5,1 Millionen Männer, die noch für eine Mobilisierung in Frage kommen.
Derzeit liegt die Altersgrenze für die Einberufung in der Ukraine ab März dieses Jahres zwischen 25 und 60 Jahren, früher lag die untere Grenze bei 27 Jahren. Fast 660.000 Männer dieser Altersgruppe haben die Ukraine verlassen, was eine sehr hohe Zahl ist. Während die Ukraine nach den derzeitigen Trends jährlich Hunderttausende von Soldaten mobilisieren kann, was formal die Auffüllung der Armee für bis zu zehn Jahre gewährleisten könnte, glauben westliche Analytiker, dass das Land diesen Krieg höchstens zwei Jahre lang führen kann, während Russland mindestens dreimal so lange kämpfen kann.
Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Zwischenzeit der Staat und die Wirtschaft funktionieren müssen. Vereinfacht gesagt, müssen die ukrainischen Behörden zwischen dem Betrieb der Fabriken und dem Halten der Frontlinie abwägen.
Die Financial Times veranschaulicht die Situation am Beispiel eines Eisenunternehmens in der Zentralukraine. Hier betrieben einst vier Männer eine komplexere Maschine. Seitdem ist einer von ihnen in die Armee eingezogen worden und dort gestorben, ein Zweiter ist verschwunden und ein Dritter im Ruhestand. Der Fabrikbesitzer versucht verzweifelt, den Vierten zu halten, einen jungen, in der Armee ausgebildeten Techniker, der jeden Moment einberufen werden könnte. Das Unternehmen ist ein strategisches Unternehmen, was bedeutet, dass die Hälfte der Beschäftigten vom Militärdienst befreit werden kann. Trotzdem sind rund 1.000 Personen von einer Mobilisierung bedroht.
Noch offensichtlicher erschient diese Situation dadurch, dass immer mehr Frauen in den Bergwerken arbeiten, auch unter Tage. Die Männer wurden in den Krieg hineingezogen, und der Arbeitskräftemangel hat solche Ausmaße angenommen, dass das Verbot, Frauen in ukrainischen Bergwerken zu beschäftigen, aufgehoben worden ist.
Was ist wichtiger? Front oder Wirtschaft?
Es gibt eine immer offenere Debatte darüber, ob in der gegenwärtigen Situation die Front oder die Wirtschaft wichtiger ist und wie die Mobilisierung gerecht gestaltet werden kann.
Die Mehrheit der Menschen würde es verständlicherweise vorziehen, an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben, und auch die Unternehmen schützen ihre eigenen Interessen. Die größten ukrainischen Unternehmen haben einen Gesetzesentwurf eingebracht, der es ihnen ermöglichen würde, 20.000 Griwna (487 US-Dollar) pro Mitarbeiter und Monat als Militärgebühr zu zahlen, um ihn von der Wehrpflicht zu befreien. Ein anderer Gesetzesentwurf sieht vor, alle ukrainischen Männer mit einem Gehalt von über 36.500 Griwna von der Wehrpflicht zu befreien. Währenddessen muss die Armee aufgestockt werden, denn es herrscht Krieg.
Es gibt Argumente, die sowohl für die Wirtschaft als auch für die Armee sprechen. Der Staat muss am Laufen gehalten werden, und wenn die Wirtschaft zusammenbricht, wird die Ukraine am Ende auf ausländische Hilfe angewiesen sein, um ihre Streitkräfte zu finanzieren. Die Armee wird unwirksam, wenn die Wirtschaft zusammenbricht.
Seit Ausbruch des Krieges haben die Unternehmen bereits durchschnittlich zehn bis 20 Prozent ihrer Mitarbeiter durch Einberufung oder Emigration verloren. Andererseits würden mit der Verabschiedung dieses Gesetzesentwurfs fast eine Million Menschen von der Wehrpflicht befreit, und es würde der Armee rund 200 Milliarden Griwna einbringen. Aber was nützt das, wenn niemand zu den Waffen greift?
Darüber hinaus wird geschätzt, dass die Ukrainer jährlich zwischen 700 Millionen und zwei Milliarden Griwna für den Kauf von Befreiungsdokumenten ausgeben. Etwa 800.000 bis 900.000 Menschen sind „untergetaucht“, indem sie ihre Adresse geändert und Schwarzarbeit angenommen haben, um der Wehrpflicht zu entkommen. Es gibt keine gerechte Lösung für diese Situation. In Kriegszeiten treten Fairness und Rationalität immer in den Hintergrund. Eine Beendigung des Krieges würde dieses Dilemma lösen und die Wirtschaft etwas entlasten, aber es würde die zunehmend dramatische demografische Situation nicht mehr ändern. Es ist sehr schwierig, diesen Trend umzukehren, sodass viele der Probleme der Ukraine auch nach dem Krieg bestehen bleiben werden. Deshalb können wir feststellen, dass die Ukraine bereits verloren hat, unabhängig vom Ausgang des Krieges.
Dieser Artikel erschien auf Ungarisch zunächst in der Wochenzeitung Demokrata.
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