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Titel: „Der Kanzler lügt“ – Der hilflose Versuch des Regierungssprechers, Wagenknecht-Vorwurf zu entkräften
Datum: 12. September 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte
Verantwortlich: Florian Warweg
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bei seiner Sommerpressekonferenz erklärt, Russland sei es gewesen, das einseitig aus den zentralen Rüstungskontrollverträgen ausgestiegen sei. Daraufhin hatte ihm die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht vorgeworfen, er würde lügen. Denn in der Realität, so Wagenknecht, seien es nachweislich die USA gewesen, die einseitig die wichtigsten Abkommen (ABM-, INF- und Open-Skies-Vertrag) aufgekündigt hätten. Da dazu bisher kein Widerspruch oder Dementi aus dem Kanzleramt kam, wollten die NachDenkSeiten wissen, ob dies ein stillschweigendes Eingeständnis darstelle, dass der Kanzler die Unwahrheit gesagt habe. Die Antwort des Regierungssprechers geriet zu einem wohl unfreiwilligen Offenbarungseid. Von Florian Warweg.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Faktencheck:
Kanzlersprecher Hebestreit weiß sehr wohl, wieso er der Frage, wer den ABM-, INF- und Open-Skies-Vertrag aufgekündigt hat, auch nach mehrmaligem Nachfragen, ausweicht. Denn die Faktenlage ist eindeutig:
Es waren nachweislich die USA unter George W. Bush, die im Dezember 2001 den Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missile Treaty – ABM) aufkündigten. „Zum Wohle des Friedens“ müsse Washington sich über den ABM-Vertrag hinwegsetzen, der „in einer anderen Ära für einen anderen Feind“ geschrieben worden sei, erklärte Bush damals und führte dann in seiner Begründung weiter aus:
„Wir müssen Amerika und unsere Freunde gegen alle Formen des Terrors schützen, einschließlich des Terrorismus, der mit einer Rakete ankommen könnte.“
Weiter ging es im Februar 2019 mit der ebenfalls nachweislich einseitig von den USA vorgenommenen Aufkündigung des Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag („Intermediate Range Nuclear Forces Treaty – INF). Das Abkommen war 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion unterzeichnet worden und verbot landgestützte Raketen sowie Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometer, die Atomsprengköpfe tragen können. Besonders für Europa galt der INF-Vertrag als eine der zentralsten Sicherheitsgarantien, um nicht zum Schauplatz eines nuklearen Schlagabtauschs zu werden.
Im Gegensatz zur Darstellung von Hebestreit ist die Darlegung, dass Russland diesen Vertrag zuvor gebrochen hat, mitnichten so eindeutig. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, den Vertrag mit der Entwicklung von landgestützten Marschflugkörpern gebrochen zu haben. Russland mit der Entwicklung des Marschflugkörpers 9M729 (NATO-Codename: SS-C-8 Screwdriver) für das nuklear bestückbare Trägersystem Iskander-K und die USA mit der dualen Verwendungsmöglichkeit der Abschussvorrichtungen MK-41, von denen, so der russische Vorwurf, „jederzeit“ Marschflugkörper mit nuklearem Gefechtskopf abgefeuert werden könnten. Diese Anlagen waren beispielsweise ab 2016 auf dem rumänischen NATO-Militärflugplatz Deveselu stationiert worden. Zudem hatte Russland mehrmals erklärt, dass Washington den Vorschlag, über technische Konsultationen das Problem zu lösen, abgelehnt hatte.
Im Mai 2021 hatten die USA dann erneut einseitig das dritte Abkommen zur Rüstungskontrolle aufgekündigt, den sogenannten Open-Skies-Vertrag:
Dazu schrieb die ZEIT im Juni 2021:
„Die US-Regierung hatte Russland Ende Mai darüber informiert, zu dem Abkommen nicht zurückkehren zu wollen. Damit soll das Thema nach russischen Angaben auch beim Gipfeltreffen Putins mit US-Präsident Joe Biden am 16. Juni in Genf keine Rolle spielen. Russland hatte sich immer wieder für eine Rettung des Abkommens ausgesprochen.“
Fazit: Der Kanzler hat nachweislich die Unwahrheit gesagt
Es bleibt festzuhalten, von den vier zentralen Rüstungskontrollverträgen zwischen den USA und Russland hat Washington proaktiv drei einseitig aufgekündigt. Lediglich der letzte verbliebene, der „Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen“, besser bekannt unter der Abkürzung START (Strategic Arms Reduction Treaty), wurde im Februar 2023 durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgesetzt. Das heißt, 75 Prozent der Aufkündigungen der Rüstungskontrollverträge gehen auf das Konto des deutschen NATO-Partners USA. Wenn der Kanzler vor diesem Hintergrund öffentlich in der Bundespressekonferenz erklärt, „Ich bedaure sehr, dass Russland sich so massiv über all die Rüstungskontrollvereinbarungen der letzten Jahrzehnte hinweggesetzt hat und aus der Politik der Rüstungskontrolle ausgestiegen ist“, dann ist dies nachweislich in dieser Form und Darstellung falsch.
Da man davon ausgehen sollte, dass der Kanzler weiß, wer den ABM-, INF- und Open-Skies-Vertrag in Wirklichkeit zuerst aufgekündigt hat, ist eine unwissentliche Falschdarstellung mit großer Sicherheit auszuschließen. Das heißt im Umkehrschluss: Der Kanzler hat in der Bundespressekonferenz am 24. Juli tatsächlich, wie von Wagenknecht kritisiert, gelogen. Und kein einziger der anwesenden Journalisten (der Autor dieser Zeilen war zu dem Zeitpunkt leider schon im Urlaub) hatte der damaligen Falschdarstellung von Olaf Scholz widersprochen.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 11. September 2024
Frage Warweg
Die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht hat dem Kanzler Lügen vorgeworfen, als er hier in der Sommerpressekonferenz in der BPK erklärt habe, Russland sei einseitig aus den zentralen Rüstungskontrollverträgen ausgestiegen. Tatsächlich seien es die USA gewesen, so Wagenknecht, die aus dem ABM-, INF- und Open-Sky-Vertrag ausgetreten seien. Da es dazu bisher kein Dementi oder keinen Widerspruch gab, wollte ich fragen, ob man davon ausgehen kann, dass dies sozusagen ein stillschweigendes Eingeständnis des Kanzleramtes ist, dass der Kanzler in dem konkreten Fall die Unwahrheit gesagt hat.
Regierungssprecher Hebestreit
Herr Warweg, wenn ich jetzt all das, was Sie in Ihrer Frage so wunderbar verpacken, einfach einmal weglasse, sage ich einmal ganz grundsätzlich: Wenn wir alles dementieren würden, was den Tag über an Schwachsinn auf solchen Kanälen gesendet wird, wie Sie sie gerade angeführt haben, dann hätten wir zu viel zu tun und könnten dann unsere eigene Arbeit nicht tun. Insofern sollte Sie niemals davon ausgehen, wenn wir da nicht dementieren, dass das Zustimmung bedeutet.
Ansonsten schlage ich Ihnen vor, in den Geschichtsbüchern nachzuschauen. Das ist noch gar nicht so lange her. Es gibt das Internet. Dann können Sie sich selbst schlaumachen.
Zusatzfrage Warweg
Jetzt ist Frau Wagenknecht meines Wissens keinen Kanal, sondern Politikerin, und sie hat dargelegt, dass die USA aus den erwähnten Verträgen ausgestiegen seien. Dazu haben Sie ja eine andere Meinung. Da würde mich dann interessieren, ob Herr Hebestreit – – –
Hebestreit
Herr Warweg, ich habe – – –
Zusatz Warweg
Kurz ausreden lassen, dann dürfen Sie auch antworten! – Die Frage ginge an Sie und das AA: Welcher Staat hat aus Sicht des Auswärtigen Amts und des Kanzlers den ABM-, den INF- und den Open-Sky-Vertrag einseitig aufgekündigt?
Hebestreit
Herr Warweg, wir sind ja hier nicht in einer Geschichtsstunde. Ich habe gerade darauf verwiesen, dass Sie sich selbst schlaumachen können. Sie sind ja Journalist. Dann können Sie das ja selbst recherchieren. Sie haben die Worte des Bundeskanzlers gehört, und ich habe auf das Internet und die Geschichte verwiesen. Machen Sie sich selbst schlau, anstatt Dinge zu verbreiten, die hier nicht hingehören.
Wagner (AA)
Vielleicht darf ich etwas ergänzen, weil Ihre Frage ja suggeriert, dass das Fehlverhalten sozusagen auf unserer Seite läge. Vielleicht noch einmal klargestellt: Russland rüstet seit Jahren auf, hat den INF-Vertrag gebrochen und führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Europa.
Zusatzfrage Warweg
Zumindest eine Antwort auf eine relativ einfache Frage hätte ich schon ganz gerne: Wer hat aus Sicht der Bundesregierung den ABM-, den INF- und den Open-Sky-Vertrag einseitig aufgekündigt, die USA oder Russland?
Hebestreit
Ich überlege jetzt, wie ich möglichst freundlich noch einmal versuche, auf Ihre Frage zu antworten. Deshalb verweise ich auf die Worte des Sprechers des Auswärtigen Amtes, der Ihnen ja einen Hinweis darauf gibt, wer den Vertrag gebrochen hat. Durch den Bruch eines Vertrages ist das eine Kündigung. Wenn wir beide etwas miteinander vereinbaren und ich mich an die Vereinbarung nicht halte, dann habe ich damit den Vertrag nicht eingehalten, sondern ihn gebrochen. So ist das.
Das gesamte Videostatement, in welchem die BSW-Vorsitzende ihren Vorwurf, der Kanzler habe in der BPK gelogen, vorträgt und untermauert, ist hier einsehbar:
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 11.09.2024
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