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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: “Sozialeres Frankreich”
Datum: 9. August 2005 um 16:21 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Länderberichte, Sozialstaat, Wettbewerbsfähigkeit
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Frankreich – Deutschland: Ähnlichkeiten und Unterschiede. Von Joachim Jahnke.
Frankreich und Deutschland sind die größten Wirtschaftszentren der EU und – wenn er funktioniert – der Motor der Integration. Sie sind in beide Richtungen jeweils die Haupthandelspartner. Historische und kulturelle Verbindungen bestehen wie kaum zwischen anderen Ländern. Sie haben heute ähnliche Probleme mit dem Wirtschaftswachstum, dem Arbeitsmarkt, den öffentlichen Haushalten und den Rentensystemen in alternden Bevölkerungen, wenn auch etwas weniger in Frankreich.
Daneben gibt es viele Unterschiede. Frankreich ist – erheblich früher als Deutschland – durch seine fördernde Politik des Zentralstaats, den sehr aktiven Kapitalmarkt und sein ausgedehntes Kolonialreich sowie später die Force de Frappe zu einem globalen Spieler geworden. Viele der großen internationalen Projekte, wie der Panama- oder der Suez-Kanal wurden schon im 19. Jahrhundert primär von französischen Anlegern über die Pariser Börse finanziert. In den letzten Jahrzehnten ist Frankreich zunehmend und mehr als Deutschland zum Hauptgegner des angelsächsischen Systems einer neoliberalen Globalisierung der Weltwirtschaft geworden. Das EU-Verfassungsreferendum hat dies erneut und zur Überraschung vieler Beobachter in Deutschland nachhaltig bestätigt.
Angesichts der enormen Bedeutung der deutsch-französischen Achse für die Entwicklung nicht nur der Europäischen Union, sondern des internationalen Wirtschaftssystems überhaupt sollen hier einzelne Elemente der Wirtschafts- und Sozialverfassung beider Länder im Vergleich analysiert werden.
I. Allgemeine Wirtschaftsleistung
Frankreich hat seit 1995 ein höheres Pro-Kopf-Wachstum des BIP’s als Deutschland und liegt im BIP pro Kopf seit 1999 mit zunehmendem Abstand vor Deutschland (Abb. 12046). Der Grund dafür ist die wesentliche bessere Entwicklung der Binnennachfrage, bei der Frankreich 2004 die deutsche um 14 % übertroffen hat, zumal die deutsche von der schlechteren Entwicklung in den neuen Bundesländern zusätzlich gedrückt wird (Abb. 12047). Diese Werte sind in Kaufkrafteinheiten ausgedrückt, um den unterschiedlichen Inflationsraten Rechnung zu tragen.
Im Gefolge der besseren BIP-Entwicklung hat sich auch die Produktivität – gemessen in Euro BIP pro Beschäftigten – in Frankreich erheblich besser als in Deutschland entwickelt (Abb. 12048); dies gilt besonders, wenn Produktivität pro Arbeitsstunde gemessen wird (Abb. 12049), da die durchschnittliche Arbeitszeit in Frankreich erheblich unter der deutschen liegt; der französische Wert ist dann um 12 % besser als der deutsche.
Im internationalen Vergleich belegt Frankreich einen eindrucksvollen Spitzenwert, weit vor den USA, besonders wenn man den Dollar-Kurs von 2005 berücksichtigt (Abb. 12050). Das französische Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie sich kürzere Arbeitszeiten in höherer Produktivität auszahlen und umgekehrt längere Arbeitszeiten durchaus nicht mehr Wirtschaftsleistung bedeuten müssen. Die bessere französische Entwicklung des BIP’s und der Produktivität erklärt sich auch aus dem Umstand, daß die Bruttoanlageninvestitionen in Frankreich seit 2000 real um 3 % gestiegen sind, während sie in Deutschland einen Fall um über 13 % verzeichnen (Abb. 12060).
II. Staatsquote
Frankreich hat mit rund 46 % eine relativ hohe Staatsquote (Abb. 12052). Dementsprechend ist der Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer mit 49,6 % gegenüber 42 % in Deutschland oder 39 % nach dem Programm der CDU/CSU wesentlich höher (Abb. 12053). Die effektive Belastung mit der durchschnittlichen Einkommens- und Körperschaftssteuer ist seit der deutschen Steuerreform in Frankreich höher als in Deutschland (Abb. 12054). Ebenso hat Frankreich mit 19,6 % traditionell einen höheren Mehrwertsteuersatz als Deutschland.
Bei einer höheren Staatsquote nehmen in Frankreich die staatlichen Ausgaben auch einen wesentlichen größeren Anteil des BIP’s ein als in Deutschland (Abb. 12055). Die öffentliche Verschuldung hat mit 65,6 % des BIP’s daher fast genau den gleichen Wert wie in Deutschland erreicht, obwohl Frankreich nicht mit den deutschen Lasten aus der Wiedervereinigung zu kämpfen hat.
III. Öffentliche Infrastuktur und Bildung
Die hohen Staatsausgaben erklären sich nicht zuletzt durch erhebliche Ausgaben für die Infrastruktur, die in Frankreich im internationalen Maßstab vorbildlich ist, besonders im Verkehrsbereich.
Die Ausgaben für die Bildung sind mit 5,8 % des BIP’s höher als in Deutschland mit 4,5 % (Eurostat für 2001). Vorschulische Bildungsinstitutionen erfassen einen viel größeren Anteil der Kinder als in Deutschland und entlasten damit die Mütter. Der Anteil der Studenten an der Bevölkerung ist um fast ein Drittel höher, Frauen sind mehr als ein Zentel häufiger unter den Studenten vertreten, und im Durchschnitt sind die Studenten wesentlich jünger oder – anders ausgedrückt – früher fertig. Anders als in Deutschland hat es Frankreich geschafft, über die Grands Ecoles eine Elitebildung mit der Breitenbildung zu verbinden. Die zweite Pisa-Studie von 2004 belegt, daß in Frankreich der Schulerfolg weit weniger abhängig vom Familieneinkommen und der Vorbildung der Eltern ist als in Deutschland.
IV. Arbeitsmarkt
Frankreich leidet ebenso wie Deutschland und schon länger unter hoher Arbeitslosigkeit. Allerdings hat Deutschland in den letzten Jahren mit einem stärkeren Anstieg das französische Niveau ziemlich genau erreicht (Abb. 12056). Im Vergleich zu Deutschland hat Frankreich den Vorteil eines geringen Anteils an Langzeitarbeitslosigkeit, bei der Deutschland in Europa den Spitzenreiter abgibt.
V. Löhne und Gehälter, soziale Gerechtigkeit
Die französischen Löhne und Gehälter haben sich wesentlich besser entwickelt als die deutschen (Abb. 03023) und liegen heute im Durchschnitt um 20 % über den deutschen, die seit Jahren stagnieren.
Dementsprechend ist die Ungleichheit in der Einkommensverteilung deutlich geringer als in Deutschland (Abb. 12051). Während der Anteil des oberen Fünftels im Verhältnis zum untersten in Frankreich an Gewicht verloren hat, ist die Entwicklung in Deutschland umgekehrt gelaufen, wobei auch die Wiedervereinigung eine Rolle gespielt hat.
VI. Altersversorgung
Frankreich hat zwar im Vergleich mit Deutschland eine um 40 % höhere Kinderzahl pro Frau (Abb. 12057), muß aber trotzdem mit den Problemen einer alternden Gesellschaft fertigwerden. Immerhin ist es Frankreich – anders als Deutschland – gelungen, den Anstiegswinkel des Altenanteils an der Bevölkerung abzuschwächen (Abb. 12058), zumal sich die Fruchtbarkeitsrate über die letzten Jahre wesentlich besser als in Deutschland entwickelt hat (Abb. 12061).
Die französische Sozialversicherung wird aus drei Quellen gespeist: den allgemeinen Beiträgen zur Sozialversicherung, die in Anlehnung an die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung eingeführt wurden und von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erbracht werden (zusammen 66,5 %), eine 1990 eingeführte Steuer zur Finanzierung der Sozialversicherung (20 %) und einem Rest in der Form von Staatszuschüssen. Der Anteil der allgemeinen Beiträge wurde über die Jahre gesenkt, um die Belastung der Arbeit durch Lohnnebenkosten zu begrenzen.
Allerdings leidet das französische System, wie das deutsche, unter Defiziten. Im Jahr 2003 kam es mit 11,5 Mrd Euro zum stärksten finanziellen Ungleichgewicht in der ganzen Geschichte der französischen Sozialversicherung.
VII. Aussenwirtschaft – Wettbewerbsfähigkeit
Während Deutschland seit dem Jahr 2000 ständig wachsende Handelsbilanzüberschüsse aufbauen konnte (zum größten Teil im Verhältnis zu den Partnern der Eurozone, die nicht mehr abwerten können, darunter auch Frankreich), ist die französische Handelsbilanz ziemlich ausgeglichen (Abb. 12059). Damit ist Frankreich auch längst nicht so vom Export abhängig wie Deutschland; die Abhängigkeitsraten betragen 38 % für Deutschland und nur 26 % für Frankreich.
Frankreich hat 45 % mehr an international tätigen Großunternehmen als Deutschland unter den TOP 100 der jährlich von der Financial Times weltweit nach Marktkapitalisierung gelisteten Unternehmen. Die französische Regierung unterstützt die französischen Großunternehmen sehr nachdrücklich im internationalen Wettbewerb.
VIII. Fazit
Auch wenn Frankreich ebenfalls mit Arbeitslosigkeit und Wachstumsproblemen ringt, kann Deutschland eine Menge von jenseits des Rheines lernen. Insbesondere die Einkommen haben sich dort wesentlich günstiger entwickelt, mit weniger Ungleichheit und daher auch besserer Binnenkonjunktur. Im Unterschied zu Deutschland wurde nachhaltig zu Hause investiert. Die staatlichen Transferleistungen sind bei einer höheren Staats- und Steuerquote stärker entwickelt. Das Bildungssytem im Vorschulalter (und damit die Unterstützung der Mütter) ist besser ausgebaut, die Studentenquote viel höher. Die wesentlich höhere Kinderzahl pro Frau verrät mehr Risikobereitschaft, Familienfreude oder Unterstützung für Frauen als in Deutschland.
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