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Titel: Ein neues ökonomisches Standardwerk von Heiner Flassbeck

Datum: 2. September 2024 um 15:00 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Neoliberalismus und Monetarismus, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Lesenswerte ökonomische Standardwerke sind rar. Im volkswirtschaftlichen Bereich dominieren hier immer noch Werke, die im Geiste ökonomischer Schulen, wie der des Monetarismus, geschrieben sind und heute nicht nur empirisch unhaltbar sind. Diese Lücke will nun Heiner Flassbeck mit seinem Buch „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ schließen, der vielen NachDenkSeiten-Lesern durch seine Texte, Vorträge und Zwischenrufe bekannt sein dürfte. Für die NachDenkSeiten und ihre Leser hat Flassbeck die acht wichtigsten inhaltlichen Aussagen, die auch die Kapitel des Buches bilden, näher erläutert.

  • Die Große Depression ist auch nach hundert Jahren noch unverstanden

    Die Erklärungsversuche zum einschneidendsten ökonomischen Ereignis der vergangenen hundert Jahre sind zahlreich, aber völlig unzureichend. Eine ungeeignete Theorie stand und steht der Mehrheit der Ökonomen bis heute im Wege. Mit großem Aufwand haben wir für die Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Lohndaten verschiedener Länder zusammengetragen. Sie liefern die empirische Basis für eine stichhaltige Erklärung, die Logik und Evidenz vereint. Das bietet die Chance, aus der Geschichte zu lernen und die folgenschweren Fehler von damals nicht zu wiederholen.

    Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wurde – wie übrigens auch in den Jahren 2008/2009 – vom Platzen einer Finanzblase verursacht. Es lässt sich nachweisen, dass er in der industrialisierten Welt zu einer Lohnsenkung führte – und zwar in der Größenordnung von 20 bis 30 Prozent. Offenbar waren sich Gewerkschaften, Arbeitgeber und Staat einig, dass genau das eine angemessene Reaktion sei, um die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Genau das Gegenteil ist richtig.

    Darüber hinaus bringt das Kapitel eine detaillierte Geschichte der ökonomischen und wirtschaftspolitischen Entwicklung der letzten 75 Jahre mit empirischen Belegen, die in dieser Form neu sind. Es zeigt sich, dass nur während des Währungssystems von Bretton Woods optimale Bedingungen für die Investitionstätigkeit herrschten.

  • Schumpeter ist wichtiger als Keynes

    Ich wollte in diesem Buch keine umfassende Auseinandersetzung mit der ökonomischen Literatur abliefern, aber nach reiflicher Überlegung schien es mir doch wichtig, die aus meiner Sicht zentralen Fortschritte des bisherigen ökonomischen Denkens zu skizzieren. Es gab nur einen ernsthaften Versuch in den vergangenen 200 Jahren, das statische Gleichgewichtsdenken zu überwinden. Das ist die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von Joseph Schumpeter vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts: Unternehmen konkurrieren bei gegebenen Löhnen um die höchste Produktivität, also um absolute Vorteile, was zu einem permanenten Entwicklungsprozess führt. Er wird nicht aus Ersparnissen finanziert, sondern mit Geld, das aus dem Nichts geschöpft wird. Doch diese Theorie ist in ihrer Bedeutung nie vollständig verstanden und für die wirtschaftspolitische Praxis nutzbar gemacht worden.

    Damit ist das Standardmodell einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion theoretisch hinfällig. Denn eine rückwärtsgewandte Substitution von Kapital durch Arbeit ist ausgeschlossen. Mit anderen Worten, es gibt kein Marktsignal, das einen Unternehmer dazu bringen könnte, einen einmal erreichten Stand der Technik aufzugeben und sich rückwärts zu bewegen, nämlich hin zu einer Technik, die weniger produktiv, weil arbeitsintensiver ist. Die für alle gängigen makroökonomischen Modelle grundlegende Idee, das Arbeitsplatzangebot in einer Volkswirtschaft werde wesentlich durch das Lohn-Zins-Verhältnis gesteuert, ist somit obsolet.

  • Es gibt keine durch einen Marktzins gesteuerte Umwandlung von Sparen in Investieren

    Das Einkommen des Unternehmenssektors, der Gewinn, ist in einer Marktwirtschaft besonders exponiert. Es ist das Residualeinkommen, also das Einkommen, das übrig bleibt, wenn alle vertraglich vereinbarten Einkommen bezahlt worden sind. Daraus folgt, dass jeder Versuch eines anderen Sektors, die Einkommen, die er von den Unternehmen (und dem Staat als Arbeitgeber und Transferleister) gezahlt bekommen hat, nicht vollständig wieder auszugeben, für die Unternehmen einen Verlust bedeutet. Sparen ist gesamtwirtschaftlich betrachtet folglich keine Tugend, sondern eine schwere Belastung für die Volkswirtschaft. Sparen die einen, muss es einen anderen Sektor geben, der in gleicher Höhe Schulden macht, wenn die Einkommen der Unternehmen auch nur unverändert bleiben sollen.

    Der Versuch der Neoklassik, mit Hilfe eines Marktzinses einen Ausgleich zwischen Sparen und Investieren (Verschulden) herzustellen, ignoriert diesen zwingenden Zusammenhang und ist schon deswegen unhaltbar. Die Überlegung, der Wettbewerb drücke auf Dauer jegliche Gewinne auf null und deshalb könnten sie bei der Erklärung marktwirtschaftlicher Prozesse außen vor gelassen werden, ist einer der fatalen Fehler dieser Theorie. Gewinne sind der zentrale Motor jeder marktwirtschaftlichen Entwicklung. Sie entstehen aber nicht durch Ersparnisbildung. Ganz im Gegenteil: Sparen senkt die Gewinne und behindert damit eine positive marktwirtschaftliche Dynamik. Kapital entsteht nicht durch den Versuch, mehr zu sparen, sondern durch einen Prozess, in dem – finanziert durch Geld – alle Einkommen steigen können, weil die Produktivität steigt.

  • Es gibt keine durch den Lohn gesteuerte Substitution zwischen Arbeit und Kapital

    Die Neoklassik und damit der Neoliberalismus basieren zwingend auf der Vorstellung eines gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkts, auf dem der Lohn für ein Gleichgewicht zwischen Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage sorgt. Das funktioniert im Fall von Arbeitslosigkeit aber nur, wenn eine Lohnsenkung alle Unternehmen eines Landes in gleicher Weise veranlassen würde, ihre Technik ohne jede Zeitverzögerung rückwärts zu entwickeln. Das ist wie oben bereits angemerkt in einer sich wegen des Wettbewerbsdrucks ständig verändernden Marktwirtschaft ausgeschlossen. Man sieht unmittelbar: Die Neoklassiker und die Neoliberalen haben den dynamischen Kern einer Marktwirtschaft niemals verstanden.

    Anders als von der Neoklassik behauptet führt jede Lohnsenkung dazu, dass die Nachfrage und die Kapazitätsauslastung der Unternehmen sinken. Daraufhin entlassen die Unternehmen Arbeitskräfte, obwohl deren Lohn gesunken ist. Auf dieses theoretisch erklärbare und empirisch belegte Phänomen finden die Anhänger der neoklassischen Theorie keine überzeugende Antwort, weil es ihr gesamtes Theoriegebäude zum Einsturz bringt.

  • Geld ist wichtig, aber Inflation ist immer und überall ein Lohnphänomen

    Die Neoklassik hat keine Theorie der Inflation. Als Notlösung hat man den Monetarismus genommen, also die Idee, mit der Steuerung einer Geldmenge könne man auch die Inflation steuern. Das ist gescheitert. Es gibt weder die Steuerung einer Geldmenge noch eine effiziente Kontrolle der Inflation durch die Notenbank.

    Weil nur ein mit Geld aus dem Nichts finanzierter Prozess eine positive ökonomische Entwicklung ermöglicht, ist es unabdingbar, die Kontrolle des Preisniveaus einem anderen Politikbereich zuzuordnen. Das ist aufgrund der Bedeutung der Löhne für die Kosten der Unternehmen die Einkommenspolitik. Nur wenn der Staat in der Lage ist, einen allgemeinen Konsens über einen angemessenen Pfad der Löhne herzustellen (bei dem die Inflation gering bleibt und die Reallöhne immer im Tempo der Produktivitätszunahme steigen), kann sich die Geldpolitik mit niedrigen Zinsen auf die Förderung der Investitionen konzentrieren. China ist das Land, dem es gelungen ist, über viele Jahrzehnte optimale Investitionsbedingungen herzustellen, während die meisten Entwicklungsregionen, fehlgeleitet durch eine ungeeignete ökonomische Theorie, daran gescheitert sind.

  • Der internationale Handel wird von absoluten Vor- und Nachteilen bestimmt; es gibt keine komparativen Vorteile, die von den Entwicklungsländern genutzt werden könnten

    Unternehmen kämpfen immer um absolute Vorteile. Deshalb ist die Vorstellung abwegig, es könnten für Entwicklungsländer Nischen entstehen, in denen die Industrieländer zwar absolute Vorteile haben, aber aus Mangel an Kapazitäten nicht in der Lage sind, diese zu nutzen. Man hat sich bei der Verteidigung dieser sogenannten Theorie der komparativen Vorteile wiederum auf Annahmen gestützt, die mit der realen Welt nichts zu tun haben.

    Die Folgen sind für die Entwicklungsländer verheerend. Wer die Migration begrenzen will, muss ganz neu über die Fragen nachdenken, wie eine wirkliche Integration der ärmeren Länder in die Weltwirtschaft gelingen kann, noch dazu unter der Bedingung, dass die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen gestoppt werden muss.

  • Kapitalmärkte, einschließlich der grenzüberschreitenden Finanzmärkte, sind niemals effizient, sondern destabilisierend

    Nicht minder verheerend sind die Folgen der vom Mainstream propagierten offenen Kapitalmärkte für alle weniger etablierten Länder. Es lässt sich eindeutig zeigen, dass die internationalen Kapitalmärkte vor der Aufgabe versagen, für eine angemessene Verteilung und eine angemessene Stabilität der Finanzströme zu sorgen. Herdenbildung der „Investoren“ führt regelmäßig zu falschen Preisen und darauffolgend zu großen Krisen. Im Ergebnis richten die falschen Preise und die Fehlkalkulationen großer Massen von Investoren enormen Schaden an. Insbesondere an den Währungsmärkten sind staatliche Eingriffe unabdingbar.

    Doch ohne internationale Kooperation in diesem Bereich geht es nicht. Letztlich ist daher ein multilaterales System notwendig, um im internationalen Handel für Geldwertstabilität zu sorgen und den Entwicklungsländern eine echte Chance zur Integration zu geben. Stabile reale Wechselkurse müssen das Ziel sein.

  • Der Staat muss die drei makroökonomischen Preise, Zins, Lohn und Wechselkurse, unter Kooperation der Länder steuern; gleichsam sollte der Preis für fossile Energie in Übereinstimmung mit einem sinkenden Angebot von der Staatengemeinschaft systematisch nach oben geschleust werden

    Der Staat hat eine genuin makroökonomische Steuerungsaufgabe in der Marktwirtschaft. Weil die entscheidenden makroökonomischen Preise, der Lohn, der Zins und die Wechselkurse, niemals effizient auf der Basis eines mikroökomischen Kalküls gebildet werden können, muss ein aufgeklärter Staat (bzw. eine Staatengemeinschaft) dafür sorgen, dass es nicht zu großen Verzerrungen dieser Preise kommt.

    Darüber hinaus muss die Staatengemeinschaft sich dazu durchringen, mit einer Reduktion des Angebots an fossilen Energieträgern dafür zu sorgen, dass eine globale Reduktion des Verbrauchs dieser Stoffe endlich in Gang kommt.


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