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Titel: Eine Welt-Anschauung: Fast drei Wochen durch Sibirien

Datum: 1. September 2024 um 13:00 Uhr
Rubrik: Länderberichte
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Vor Kurzem berichtete Ulrich Heyden von der Reise einer kleinen Gruppe durch einige russische Städte, gerne erweitere ich die von ihm geschilderten Eindrücke. Ich bin im Juli/August fast drei Wochen lang durch Südsibirien gereist und möchte alle ermutigen, dieses große und großartige Land zu erkunden. Von Bettina Schmidt.

Berichtete Ulrich Heyden von sehr langwierigen russischen Grenzkontrollen, so machte ich andere Erfahrungen. Ich bin per Zug über Ulan Bator in den buddhistischen Teil Russlands, nach Burjatien, eingereist. Es wurde genau kontrolliert, aber keineswegs übermäßig detailversessen und darüber hinaus auch sehr freundlich im Ton. Als allein reisende Deutsche ist man inzwischen in russischen Landen sowieso eine Exotin. Die Hauptstadt der Republik Burjatien ist Ulan Ude, eine Stadt am Fluss Uda, die flächenmäßig fast halb so groß wie Moskau ist, aber grob gerundet nur 450.000 Einwohner zählt. Die größte Bevölkerungsgruppe bilden Menschen mit mongolischen Wurzeln, der buddhistische Glaube ist tief verwurzelt. Bedeutsame buddhistische Tempelanlagen wie auch russisch-orthodoxe Kirchen bereichern das Stadtbild. Alle öffentlichen Schilder, auf Straßen wie auch in Gebäuden, sind zweisprachig gehalten – burjatisch und russisch. In Museen und anderen öffentlichen Institutionen sind wichtige Hinweise auch noch in Blindenschrift angebracht. Auch im später bereisten Irkutsk ist mir die häufig verwendete Blindenschrift aufgefallen.

Ulan Ude ist eine grüne, junge Stadt, die einen hohen Anteil an kleinen Eigentumsgrundstücken aufweist, worin die Ursache für die relativ große Flächenausdehnung begründet liegt. Das Zentrum ist großzügig mit vielen Wasserspielen, die auch alle in Betrieb sind (!), im architektonischen Stil der Kriegs-und Nachkriegszeit konzipiert. Das Theater – ein interessantes Gebäude – ist sogar durch japanische Kriegsgefangene miterbaut worden. Viele Häuser greifen die burjatisch-mongolische Tradition auf, sei es in der Verwendung der Nationalfarben oder durch sehr spezielle Dach- oder Wandgestaltungen. Auch auf Jurten trifft man ab und an. Die Plätze und Straßenzüge sind großenteils modern gehalten. Einkaufszentren unterscheiden sich kaum von denen großer deutscher Städte, sie sind eher noch edler gestaltet, als das bei uns der Fall ist.

Überrascht war ich von der immer noch breiten Angebotspalette deutscher Produkte; ganz gleich, ob es sich um Mode, Kosmetik, Lebensmittel oder technisches Gerät handelt. Insbesondere die junge Generation frequentiert die schicken Konsumtempel, die Universitätsstadt Ulan Ude wirkt aber auch insgesamt von überwiegend jungen Menschen bewohnt. Es ergab sich, dass ich noch einen Deutschen und einen Schweizer sprechen konnte, die beide – unabhängig voneinander – Ulan Ude zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt gemacht haben. Die Motivation zu diesem einschneidenden Schritt war jeweils völlig anders gelagert, aber zurück in ihre Heimat wollen beide nicht mehr.

Von der Hauptstadt Burjatiens führte mich der Weg dann an den legendären Baikalsee, den tiefsten See unserer Erde. Immer noch ist sein Wasser glasklar, sodass man viele Meter hinabsehen kann. Entgegen allen Erwartungen hatte er eine Wassertemperatur von 20 Grad Celsius. Man musste also nicht überaus abgehärtet sein, um das Baden genießen zu können. Da die Menschen aufgrund der Sanktionen derzeit nur äußerst eingeschränkt die weite Welt bereisen dürfen, macht man an den schönen Plätzen des Landes Urlaub, und der Baikalsee gehört definitiv zu den gefragtesten Zielen. Entsprechend voll sind die Strände, Zeltplätze, Pensionen und Hotels. Überwältigend waren Herzlichkeit und Offenheit, die vollkommen selbstverständlich daherkommen. Oft habe ich mich an meine DDR-Sozialisation erinnert gefühlt, wenn beispielsweise ohne Scheu beim Zusammensitzen gefragt wurde, was ich derzeit monatlich an Geld bekomme (erst mit der Wiedervereinigung lernte ich, dass man über das Gehalt nicht spricht) oder was ich von den Sanktionen halte. Meine Russischkenntnisse sind durchaus begrenzt, aber irgendwie versteht man sich; außerdem hilft zur Not die Übersetzungs-App des Handys. Man wird sofort integriert, bekommt immer mal eine warme Suppe vorgesetzt („Mädchen, Du hast doch sicher noch nichts gegessen.“) oder kann Geld tauschen, obwohl es im Ort keine Wechselstube gibt. Irgendwie geht immer alles, und immer alles ganz einfach.

Ich bin häufig gefragt worden, warum ich gerade jetzt nach Russland fahre. Wenn ich dann meine Gründe nannte, schlug mir ehrliche Sympathie entgegen. Vom Taxifahrer bis zur Pensionsmutter – alle bedauerten, mehr oder minder im Land eingesperrt zu sein, denn nur wenige Länder sind derzeit für russische Menschen offen. Dieses unangenehme Gefühl des Eingesperrt-Seins kann ich als DDRlerin nur allzu gut nachempfinden. In Erinnerung ist mir auch das Gespräch bei einer längeren Bootsfahrt mit zwei Frauen aus der Gegend von St. Petersburg. Im perfekten Englisch fragten sie mich unter anderem, wem denn nach meiner Meinung der größte Verdienst bei Deutschlands Befreiung vom Faschismus zukäme. Die Frage, von zwei jungen Frauen gestellt, hat mich erstaunt. Als ich dann die Sowjetunion nannte, reagierten die beiden sichtlich erleichtert. Aber sofort schloss sich die Frage an, warum man dann in Deutschland den Tag der Befreiung ohne Russlands Teilnahme feiern würde. Das konnten sie nicht verstehen, und es ist ja auch kaum zu verstehen und noch viel schwerer zu erklären. Sie fragten mich auch, ob man in Deutschland immer noch annehme, dass „die Russen immer nur saufen“ würden. Das konnte ich natürlich nicht beantworten. Aber ich kann nur sagen, dass ich während meines Aufenthaltes nirgendwo einen betrunkenen oder wohnungslosen Menschen gesehen habe. Sicher wird es die auch geben, aber in unseren Breiten stolpert man beinahe tagtäglich über sozial verarmte Mitmenschen.

Obwohl Deutschland sich seit einigen Jahren geradezu schoflig gegenüber den Menschen in Russland verhält, ist man mir sehr herzlich und ohne Aversion begegnet. Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen und bin dankbar dafür, dass ich sie machen durfte.

Vom dörflich geprägten Baikal bin ich dann mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk gefahren – eine herrliche Fahrt, rund drei Stunden lang direkt entlang des Baikalsees. Die für Russland mittelgroße Stadt ist ein Faszinosum: an fast jeder Straßenecke gepflegte Grünanlagen, Parks und Bänke, alles super sauber, wunderschöne alte russische Holzhäuser, aber auch ästhetisch anspruchsvolle Neubauten; modernes Flair, Weltoffenheit in Kultur und Gastronomie, wieder viele Wasserspiele in Aktion, eine herausragende Museumslandschaft (nach Petersburg und Moskau soll Irkutsk die drittgrößte Gemäldesammlung besitzen). Großartig fand ich die Idee, bedeutende Originale (u.a. ein Bild von Repin) in der Gemäldegalerie auch als dreidimensionale Kopie auszustellen, damit sehbehinderte Menschen sich das Bild ertasten können.

Und auch in Irkutsk bin ich wieder überaus hilfreichen und freundlichen Zeitgenossen begegnet. Wenn ich mal etwas nicht gefunden hatte, wurde mit mir gemeinsam der Ort gesucht, wenn ich mal ein Taxi brauchte (das funktioniert in Russland nur mit einer russischen App), riefen mir völlig unbekannte Menschen mit ihrer App sofort ein Taxi und legten Wert darauf, mit mir noch bis zum Eintreffen des Taxis zu warten. Manchmal wollten sie sogar das Taxi für mich bezahlen. Ich bin mir nicht sicher, ob ausländische Touristen hier in Deutschland derartige Erfahrungen mit uns machen. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, Besuchern unseres Landes gegenüber noch freundlicher zu sein; weiß ich doch nun, wie wertvoll dieses Verhalten ist. Irkutsk ist ein angenehmer Platz zum Leben, die Stadt ist für mich attraktiver als die allermeisten Städte Europas. Sie hat eine lebendige Szene, was Kultur und Kunst betrifft, sowie eine vielfältige internationale Restaurant-Landschaft. Beispielsweise verzeichnet ein kleiner Stadtplan die verschiedenen Gaststätten mitsamt den jeweiligen Spezialitäten. Man kann sich also schlemmend die Stadt erobern oder auf der ebenfalls glasklaren und breiten Angara (der einzige Abfluss des Baikalsees) herumschippern und das beeindruckende Stadtpanorama bestaunen – eine hinreißende Stadt, die ich gerne irgendwann nochmal besuchen möchte.

Bierangebot im Supermarkt

Für mich waren die knapp drei Wochen in Sibirien überaus beeindruckend. Und auch wenn die Reisebedingungen für uns etwas kompliziert und die Flüge preisintensiv sind, so bin ich froh, das gewagt zu haben. Und keine Bange: Man erhält immer Hilfe und Unterstützung, auch sprachlich kann man sich irgendwie verständigen. Und gerade dieser Dialog von Mensch zu Mensch ist enorm wichtig, um wenigstens auf persönlicher Ebene der grassierenden Russophobie die Stirn zu bieten.

Ach übrigens, noch eine Frage: Wer ist der dritte Herr auf der russischen Bierflasche? Fidel Castro und Leonid Breschnew kenne ich, aber den Dritten in der Runde kann ich nicht dingfest machen. Sollte es unter den NDS-Lesern einen Bierflaschensammler geben, dann schicke ich ihm gerne diese Flasche zu.

Über die Autorin: Bettina Schmidt, Musikwissenschaftlerin, von 1985 bis Ende 2022 als Redakteurin für Ernste Musik beim ÖRR tätig, zuerst bei Stimme der DDR, dann bei Nachfolge-Sendern, ab 1994 bei Deutschlandfunk Kultur. Frühpensionierung auf eigenen Wunsch aufgrund der Entwicklungen im ÖRR und der „Zeitenwende“; gehört zu den Erstunterzeichnern des „Manifestes für einen neuen ÖRR“.


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