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Titel: Michael Meyen: „Jede Dressur braucht Futter und einen Käfig“

Datum: 28. August 2024 um 11:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Interviews, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Dressiert jemand unsere Jugend? Ja, sagt der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen in seinem neuen Buch Der dressierte Nachwuchs – Was ist mit der Jugend los?. Aber wer dressiert hier die Jugend? Eine für ein paar Jahre ins Amt gewählte Regierung? Lehrer? Eltern? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn sie führt zu Machtstrukturen, langfristigen Prozessen, aber auch zu den Leitmedien, wie Meyen im Interview mit den NachDenkSeiten verdeutlicht. Ein Gespräch über die Beeinflussung der Jugend und die Frage: Wo ist eigentlich das Rebellentum der jungen Leute? „Es ist ja nicht weg, sondern dorthin gelenkt worden, wo es denen ganz oben nicht wehtut“, sagt Meyen. Das Interview führte Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Herr Meyen, der Focus hat vor Kurzem ein interessantes Interview veröffentlicht. Ein Psychiater war dort „sehr besorgt“ und warnte, dass Kindern heute eine „wichtige Fähigkeit“ fehlt. Wenn ich Sie jetzt frage, was da los ist, werden sich einige Leser wundern. Schließlich sind Sie Medienforscher. Kinder und Jugendliche? Das ist nicht Ihr Gebiet. Dennoch, Sie haben gerade ein Büchlein veröffentlicht: „Der dressierte Nachwuchs – Was ist mit der Jugend los?“ Können Sie also vielleicht doch etwas zur angeblich fehlenden Empathiefähigkeit bei immer mehr Kindern sagen?

Michael Meyen: Kinder und Jugendliche wachsen längst mit den Digitalplattformen auf. Eine Studie der Postbank kam im letzten Jahr bei 16- bis 18-Jährigen auf knapp 64 Internetstunden pro Woche. Das Smartphone ist da, wenn morgens die Augen aufgehen, und kommt abends mit ins Bett, um noch einmal zu checken, was gerade so passiert. Inzwischen hat jeder zweite Zehnjährige so ein Gerät. Selbst im Vorschulalter ist das gar nicht mehr so selten. Also ja: Das ist ein Thema für die Medienforschung, zumal der Kollege aus der Psychologie in diesem langen Interview mit keinem Wort darauf eingeht und stattdessen den Kitas die Hauptschuld gibt und ein bisschen auch den Eltern, die angeblich abends zu erschöpft sind, um das aufzuholen, was tagsüber schiefläuft.

Wie meinen Sie das?

Die Frage ist ja: Was haben Kinder früher in all den Stunden gemacht, in denen heute gescrollt wird? Jeder, der etwas älter ist, wird sofort sagen: Wir haben gespielt – draußen, ohne Aufsicht und vor allem ohne Erzieher, die extra von einem Psychiater geschult worden sind. Bei uns im Dorf ging es auf einen alten Schießplatz zum Fußball, fast jeden Tag – ein Bombenkrater aus dem Zweiten Weltkrieg, wo inzwischen Gras wuchs. Die großen Jungs haben gesagt, wie es läuft. Drei Ecken, ein Tor. Und du, Knirps, kommst erst rein, wenn wir 3:0 vorn liegen. An so einem Ort lernt man alles, was man im Leben braucht. Hierarchie, Regeln aushandeln, sich in andere hineinversetzen. Was hilft mir, in einer Gruppe klarzukommen und anerkannt zu werden? Diesen Schießplatz gibt es nicht mehr. Heute bleiben die Kinder zu Hause, treffen sich auf TikTok, WhatsApp oder Instagram und schauen Videos. Wenn sie hochgucken, sehen sie Eltern, die auf einen Bildschirm starren und Stöpsel im Ohr haben. Und der Psychiater wundert sich, dass den Kindern Empathie fehlt.

Das müssen Sie erklären. Diese Plattformen arbeiten doch genau damit, mit Likes, Followern, Views. Mehr Rückmeldung geht gar nicht.

Die Plattformen nutzen aus, dass der Mensch ein Vergleichstier ist. Wir müssen wissen, was andere von uns halten. Im Internet läuft das aber völlig anders als damals auf dem Schießplatz. Dort hat jeder gesehen, wie die anderen gerade drauf sind, an den Klamotten, im Gesicht, an den Bewegungen. Jeder wusste außerdem, dass morgen alle wieder da sind. Da lässt sich keiner grundlos hängen oder redet irgendwelchen Blödsinn. Im Netz bin ich oft anonym und in mehreren Chats gleichzeitig. Ich sehe keine Körper, sondern Wörter oder Bilder, die immer häufiger künstlich sind, und bin mit einem Klick raus, ohne dass das irgendwelche Folgen hat. Außerdem sind die Programme so angelegt, dass sie süchtig machen. Wir Älteren können leichter aufhören, weil es diese Geräte nicht gab, als wir jung waren. Wir haben in einer analogen Welt gelernt, wie man miteinander umgeht, und wissen zum Beispiel, dass jedes Piepen stört, wenn wir mit anderen am Tisch sitzen. Wer mit dem Smartphone groß wird, hat eine völlig andere Vorstellung von Verbindlichkeit und Loyalität.

Lassen Sie uns auf Ihr Buch eingehen. Ich glaube, ein guter Ansatz ist hier der Titel. Wer dressiert die Jugend?

Beim Internet und bei den Plattformen ist das nicht so schwer. Wir wissen, wer die Geburtshelfer waren. Die Geheimdienste, das US-Militär, das State Department. Wir wissen auch, dass das alles in den 1960ern auf den Weg gebracht wurde. Im Buch spreche ich von einer Sattelzeit. In diesen Jahren entstehen all die Instrumente, die uns heute einen dressierten Nachwuchs bescheren. Bei manchen hat es ein wenig gedauert, bis sie nach Europa kamen, bei den Schulen und bei den Universitäten etwa, die hier erst ab den 1990ern umgebaut wurden. Andere haben einfach Zeit gebraucht. Eine Ideologie setzt sich ja genau wie ein Kommunikationskanal nicht von heute auf morgen durch.

Sie weichen meiner Frage aus. Also noch einmal: Wer dressiert die Jugend?

Wenn Sie das so formulieren, zielen Sie auf konkrete Personen und auf einen überschaubaren Zeitraum – Eltern, Lehrer, eine Regierung, die ein paar Jahre im Amt ist. In meinem Buch geht es um Machtstrukturen und um langfristige Prozesse, um Menschen, denen die halbe Welt gehört und die nur ein Ziel haben: immer reicher zu werden und die vielen, vielen anderen draußen zu halten. In den 1960ern und 1970ern war die Bedrohung für diese Leute ganz real. In den USA die Studenten, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, der Marsch auf Washington, Martin Luther King; in Frankreich und in Italien die Kommunisten, die dort bei Wahlen lange zweistellig waren; und im ganzen Westen Intellektuelle, die den Sozialismus attraktiv fanden, selbst nach dem XX. KPdSU-Parteitag noch. Für den Machtblock hieß das: Wir müssen etwas tun. Wir müssen uns die Leitmedien vornehmen, die Universitäten und überhaupt alle Kanäle, über die ein Umsturz wachsen könnte. Vor allem aber dürfen wir nicht riskieren, dass die Jugend auf dumme Gedanken kommt, womöglich sogar in Richtung Sowjetunion schielt und die Eigentumsfrage stellt. Die Jugend ist der Schlüssel für jede Zukunft. Also hat man dort angesetzt.

War das nicht schon immer so? Kinder und Jugendliche durchlaufen eine Sozialisation und verinnerlichen Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsmuster, Normen. Dass das nicht ohne Interessen passiert, leuchtet schnell ein. Das Elternhaus will, dass die Kinder sich „anständig“ und „gut“ verhalten, was auch immer dann damit gemeint ist. Und der Staat hat ebenfalls ein Interesse, „gute“ Staatsbürger heranzuziehen. Nun sprechen Sie aber von „Dressur“. Das ist ein Begriff, der normalerweise eher im Umgang mit Tieren verwendet wird. Wenn ein Mensch dressiert wird, dann stimmt etwas nicht, oder?

So ein Buchtitel soll ja zunächst für Aufmerksamkeit sorgen und stutzig machen. Was passiert hier gerade? Wie kommt es, dass Eltern und Großeltern für Frieden demonstrieren oder gegen die Coronapolitik und ihre Kinder und Enkel auf der anderen Seite stehen? Warum gendert die Tochter plötzlich, wenn sie mit Mama spricht, und warum will sie Oma ausreden, ihre geliebte Kreuzfahrt zu machen? Die Frage ist ja: Woher wissen wir, was „anständig“ und „gut“ ist? Und warum unterscheiden sich die Antworten von Jung und Alt selbst innerhalb einer Familie oft so sehr, dass man sich voneinander abwendet?

Der Jugend hat man lange nachgesagt, dass sie einen rebellischen Geist mit sich bringt. Kinder und Jugendliche entwickeln im Laufe der Zeit einen eigenen Willen und wollen sich von nichts und niemandem etwas sagen lassen – schon gar nicht von Eltern oder irgendwelchen Autoritäten. Wo ist das Rebellische geblieben?

Es ist ja nicht weg, sondern dorthin gelenkt worden, wo es denen ganz oben nicht wehtut. Man muss sich nur die Themen anschauen. Umwelt, Gleichheit der Geschlechter, Antirassismus, koloniale Befreiung, sexuelle Vielfalt: Das sind alles alte Hüte. Für all diese Anliegen gibt es längst Standards, durchgesetzt von den älteren Generationen. Wer das heute im Mund führt, kann sich einreden, rebellisch zu sein, obwohl er die Besitz- und damit die Machtverhältnisse ausblendet. Er muss auch selbst gar nichts mehr tun. Für Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe kann niemand etwas. Also preise ich weiter das Lastenfahrrad, verteufele die Pendler und glaube, so für eine gerechte Gesellschaft zu sorgen, obwohl ich de facto die Gräben zwischen den Klassen vertiefe. Das ist schon gut gemacht. Viele Köpfe der Klimabewegung zum Beispiel sind ja Akademikerkinder und haben gar nicht so selten steinreiche Eltern.

Mir ist das fehlende Rebellentum der Jugend insbesondere in der Coronazeit klar geworden. Sie haben bestimmt auch diese Schilder gesehen, zum Beispiel auf großen Parkplätzen: „Ab hier gilt Maskenpflicht“. Irgendwann hat mir eine innere Stimme gesagt: „Irgendetwas ist hier eigenartig.“ Und dann habe ich an meine Jugend gedacht. So ein Schild hätte damals keinen Tag überlebt. Viele hätten sich sogar darum geprügelt, wer den Schwachsinn nun entfernt, ganz egal, was da überhaupt steht. Jede Anweisung „von oben“ wäre für viele ein rotes Tuch gewesen!

Die Jugend von heute ist artig, ja. Sie säuft kaum noch und randaliert viel weniger. Auch Partys sind so gut wie kein Thema mehr. Das führt wieder zu den Plattformen, die ja Konformitätsmaschinen sind. Manche sagen: die besten aller Zeiten. Wir wissen beide, was passiert, wenn man dort nur ein wenig abweicht oder gar wider den Stachel löckt. Sie stehen sofort am Pranger und bleiben dort, überall und für jeden sichtbar. Jugendliche lernen sehr schnell, wie man den digitalen Tod vermeidet, und versuchen dann auch in der analogen Welt, eher nicht aufzufallen oder anzuecken. Die Pandemie-Erzählung hat ihnen erlaubt, mit dem Segen von oben den ganzen Tag das zu tun, was sie ohnehin am liebsten machen: online sein. Vater Staat und Mutter Tagesschau werden schon wissen, was gut und richtig ist, genau wie vorher Eltern, Lehrer, Dozenten. Wer nach 1995 geboren wurde, war viel eher für härtere Maßnahmen als etwa die Babyboomer und hat Corona auch eher als Chance für die Menschheit gesehen und nicht so sehr als den Anfang vom Ende jeder Freiheit.

Nun können wir gewiss darüber diskutieren, wie so ein Verhalten zu bewerten ist, aber ich möchte auf etwas anderes hinaus: Das Rebellentum der Jugend scheint verschwunden oder nur noch sehr schwach ausgeprägt zu sein. Hat das etwas mit der Dressur zu tun?

Wenn wir im Bild bleiben wollen: Jede Dressur braucht Futter und einen Käfig. Schauen Sie sich Kinder- und Lehrbücher an, schauen Sie, was an den Schulen und Universitäten läuft oder bei Netflix, beim Gaming, in den Leitmedien. Überall die gleichen Denkmuster und überall die gleichen Schlagworte, die wie Gitterstäbe funktionieren. Verschwörungstheorie, Fake News, Hass und Hetze, Populismus, irgendwas mit „rechts“. Rutsch, Ruck, Extremismus. Bloß nicht anfassen, igittigitt. Sonst gibt es etwas auf die Finger und weder Stipendien und Projekte noch Karriereaussichten im Beauftragten-Apparat, der ja in den letzten Jahren zu einem zweiten öffentlichen Dienst aufgeblasen wurde und die Ideologie flankiert. Man darf nicht vergessen, dass die Politik die Hochschulquote mit aller Macht nach oben gedrückt hat. Heute studiert jeder Zweite. In den 1980ern lag diese Zahl in der alten Bundesrepublik unter 20 Prozent. Die Akademikerschwemme führt zu Stellenknappheit in der Sinnproduktion und damit zu einer Konkurrenz, die den Einzelnen zwingt, an die offiziellen Narrative anzudocken.

Es wäre aber doch zu kurz gegriffen, wenn wir sagen würden: Die Jugend – das sind alles begeisterte rot-grüne, mülltrennende, autohassende, stark dem juste milieu zugeneigte Leute. Sie verweisen in Ihrem Buch zum einen darauf, dass es „die“ Jugend eigentlich gar nicht gibt, zum anderen auch auf das Vorhaben der Grünen, das Wahlalter auf 16 zu senken, und darauf, dass es sich bei den jungen Leuten eben mitnichten nur um potenzielle Grünenwähler handelt.

Die Europawahl im Juni hat das ja genauso gezeigt wie die Juniorwahl, ein Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung, das ab Klasse sieben greift und wo die Grünen seit 2021 im Sinkflug sind. Gerade der Erdrutsch ab 2023 lässt sich gut mit den drei Ampeljahren begründen. Die Coronaschule, die Aussicht auf Wehrdienst und Krieg, das ständige Gerede vom Verzichten, dazu das Vorbild der etwas Älteren, die auch dann nicht wirklich auf einen grünen Zweig kommen, wenn sie sich perfekt anpassen. In den teuren Medienstädten braucht man dafür ja mehr als einen Zeitvertrag oder ein paar Schreibaufträge hier und da. Dazu kommen die Bruchlinien, die ja mittlerweile nach jeder Wahl auf den Landkarten zu sehen sind und auch für den Nachwuchs gelten: Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, Akademiker und Nichtakademiker, Ost und West. Die jungen Leute hier bei mir auf dem Land sind ganz anders als in München. Im Buch konzentriere ich mich auf die, die jetzt schon das Sagen haben oder in Kürze an die Schaltstellen kommen werden.

Wenn wir über die Jugend im Allgemeinen reden, sollten wir natürlich auch nicht unterschlagen, dass 2024 nicht 2000 ist und auch nicht 1980 oder 1960. Sprich: Jede Jugendzeit ist eingebettet in einen bestimmten zeithistorischen Kontext. Die Entwicklung und das Verhalten der Jugend von heute haben mit der Zeit von heute zu tun. Wo liegen aus Ihrer Sicht die, sagen wir es zurückhaltend: Herausforderungen?

Oft vergessen wird das schiere Gewicht der Generationen in der Bevölkerungspyramide. Die Babyboomer treten gerade ab – die Geburtsjahrgänge ab 1950, die teilweise fast doppelt so groß waren wie ihre Pendants ab 1995. Damit das konkret wird: über 1,3 Millionen Geburten pro Jahr zwischen 1961 und 1966 und unter 700.000 zwischen 2005 und 2013. Lehrlinge wissen genau wie Schüler und Studenten, dass wir auf sie warten, und verhalten sich entsprechend. Wo es weniger Kinder gibt und mehr Wohlstand, wachsen außerdem Aufmerksamkeit und Zuwendung. Ich habe das selbst erlebt. Meine Tochter und mein Sohn hatten vier Großeltern, die genau zwei Enkel päppeln mussten. Beide kennen die Welt nur im Krisenmodus. Terror und Migration, Euro und Corona, jetzt Klima und Krieg. Die Jugend von heute hat aber gelernt, dass sich jemand um sie kümmern wird – in der Familie, aber vor allem darüber hinaus. Erziehung ist ja zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Neulich hat mir gerade ein junger Vater sein Leid geklagt über die Dauerbeobachtung, die Eltern bis in Gaststätten, Züge und Hotels verfolgt. Überall trifft er jemanden, der es besser weiß. Die aktuelle Debatte um Kinderrechte zielt ja genau darauf. Dazu fällt mir gerade noch ein Beispiel ein. Darf ich?

Bitte.

Als Sozialwissenschaftler weiß ich natürlich, dass man mit Einzelfällen nicht weiterkommt. Trotzdem: Diese Mutter wurde in die Kita zitiert, weil ihr Sohn in der Morgenrunde vom Schlachten erzählt hat. Gänse und Hühner, die letzten Federn mit der Pinzette ziehen – was man so macht, wenn man gerade fünf geworden ist und die Eltern eine Landwirtschaft haben. Die Erzieherin fand das überhaupt nicht toll. Da Sie nach Herausforderungen gefragt haben: Wir haben auf der einen Seite einen Staat, der sich in die Familien hineindrängt und dort seine Ideologie durchsetzen will. Und auf der anderen Seite haben wir Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die sich um sich selbst drehen, weil das der Modus der Plattformen ist, auf denen sie sich bewegen, und weil ihnen überall der rote Teppich ausgerollt wird.

Im Buch sprechen Sie auch von der „Abschaffung der Urteilskraft“. Gestatten Sie mir an dieser Stelle, auf Albrecht Müllers Titel „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“ hinzuweisen. Das Buch zielt ja darauf, dass Menschen, Bürger eine politische Mündigkeit entwickeln, also auf ihr eigenes, fundiertes Urteil setzen können. Wie sieht Ihre Beobachtung mit jungen Leuten im Universitätsbetrieb aus?

Ich habe dafür eine schöne Formulierung gefunden bei Jonathan Haidt, einem Sozialpsychologen aus New York, der gerade ein Buch veröffentlicht hat über die „Generation Angst“. Haidt sagt: Seine Studenten sind vom Entdeckungs- in den Verteidigungsmodus gewechselt, irgendwann in den frühen 2010ern schon, als das losging mit dem Display in der Hosentasche. Die Neugier ist weg, die Lust auf Unbekanntes, zu der ja immer auch die Möglichkeit des Scheiterns gehört. Das hat hier in Deutschland sicher auch mit Bologna zu tun. Für solche politischen Weichenstellungen interessiert sich Haidt nicht. Er lässt auch das Schwarz-Weiß-Denken aus, das in die Digitallogik eingeschrieben ist: eins und null und nichts dazwischen. Viele Studenten haben keine Lust mehr, die Gegenseite zu hören. Sie wissen, was „gut“ und „richtig“ ist, und diskutieren selbst dann nicht mehr, wenn man vom Seminarraum in den Biergarten geht.

Lassen Sie mich nochmal auf den Begriff Dressur zu sprechen kommen. Dressur hat mit Unterwerfung zu tun, braucht aber doch ein wenig Bereitschaft. Wahrscheinlich würde ein großer Teil der Studenten widersprechen, wenn man ihnen vorhielte, sie seien dressiert. Neutraler gesprochen: Viele haben einfach die Regeln und Normen einverleibt, glauben an sie – und haben überhaupt kein Problem, sich ihnen zu „unterwerfen“. Aus ihrer Sicht verhalten sie sich völlig „normal“. So „macht man das eben“, wenn man weiterkommen will. Liegt hier der Knackpunkt? Und ist das vielleicht auch der Grund, warum bei vielen ein Denken „outside the box“, ein Denken, das sich gegen den Mainstream richtet, so verpönt ist? Wenn dem so sein sollte: Was würde das für das wissenschaftliche Feld, aber auch für die Gesellschaft bedeuten?

Das ist genau mein Ansatz, ja. Im Buch beschreibe ich das Zusammenspiel von Ideologie, Kommunikationskanälen, Bildungsreformen, Anreizsystemen und Soziodemografie. Damit das alles als „normal“ empfunden werden konnte, musste Zeit vergehen. Ich glaube zwar nicht, dass man solche Prozesse im Detail planen kann. Gesellschaft ist komplex und der Mensch kreativ und nicht berechenbar. Man darf aber trotzdem nicht ausblenden, dass es immer um Herrschaft und Kontrolle geht und dass es Apparate gibt, die über schier unerschöpfliche Ressourcen verfügen und damit nicht nur die Richtung vorgeben, sondern auch permanent nachsteuern können. Wenn die Diagnose stimmt, dass das Übel mit der Ideologie beginnt, mit der Rechtfertigungslehre und ihren Begriffen, dann liegt ein langer Weg vor uns, der mit Lesen, Lesen, Lesen verbunden ist und mit einem klaren Blick auf Machtverhältnisse. Rainer Mausfeld hat das ja gerade vorgeführt in seinem Wälzer „Hybris und Nemesis“ – über 500 Seiten zur Demokratie-Illusion. Es braucht mehr von solchen Büchern, und es braucht eine Debatte über solche Bücher. Ich dachte mir: Lass es bei 80 Seiten. Das passt zum Tempo dieser Zeit und kann vielleicht trotzdem einen Anstoß liefern.

Lesetipp: Michael Meyen: Der dressierte Nachwuchs – Was ist mit der Jugend los? 80 Seiten, Verlag Hintergrund, Buchreihe WISSEN KOMPAKT, 10 Euro, erscheint am 11. September 2024


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