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Titel: Stimmen aus Kolumbien: „Jetzt ist die Chance, Frieden und Versöhnung zu erreichen”
Datum: 25. August 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Innere Sicherheit, Länderberichte, Terrorismus
Verantwortlich: Redaktion
Der Rechtsanwalt, Menschenrechtsverteidiger und Präsident der Stiftung Lazos de Dignidad, Gustavo Gallardo, verteidigt ehemalige Farc-Guerilleros, sogenannte Friedensunterzeichner, vor der JEP, der Sonderjustiz für den Frieden (Jurisdicción Especial para la Paz). Diese Gerichtsbarkeit ist aus dem Friedensvertrag von 2016 zwischen der Guerilla Farc-EP und der damaligen Regierung von Juan Manuel Santos hervorgegangen. Mit Gallardo sprechen wir darüber, wie sie funktioniert, welche Ziele sie verfolgt, mit welchen Problemen sie konfrontiert ist und welche Vorwürfe die Friedensunterzeichner gegen sie richten. Das Interview führte Christine Siebert.
Nicht nur die Ex-Guerilleros erscheinen vor der JEP, sondern auch Ordnungskräfte, Polizisten und Soldaten.
Wir sprechen auch über den ehemaligen Paramilitärchef Salvatore Mancuso: Als von Präsident Gustavo Petro ernannter Friedensvermittler ist er heute auf freiem Fuß. Mancuso hatte ebenfalls beantragt, der JEP unterstellt zu werden, obwohl für ihn eigentlich das Sondergesetz „Justicia y Paz” (Gerechtigkeit und Frieden) gilt, das der frühere Präsident Álvaro Uribe zur Demobilisierung der paramilitärischen Gruppen eingeführt hatte. Am 8. August 2024 fiel die Entscheidung des Verfassungsgerichts: „Justicia y Paz” ist sehr wohl für Mancuso zuständig und nicht die JEP.
Und wir befassen uns mit dem Skandal der sogenannten „Falsos Positivos“, Opfer von schweren Menschenrechtsverbrechen: Zwischen 2002 und 2008 wurden mehr als 6.400 Zivilpersonen von der kolumbianischen Armee verschleppt und ermordet, um sie als im Kampf gefallene Guerilleros zu präsentieren.
Christine Siebert: Guten Morgen, Gustavo Gallardo. Können Sie uns beschreiben, wo wir hier sind?
Gustavo Gallardo: Wir sind hier im Süden von La Guajira, genauer gesagt im Dorf und im Territorium von Pondores, in Fonseca, an dem Ort, an dem die Friedensunterzeichner der ehemaligen Farc-EP ihren individuellen, familiären und kollektiven Wiedereingliederungsprozess durchführen. Hier an diesem Ort fordern sie die Erfüllung des Friedensabkommens. Was wir um uns herum sehen, ist das Produkt von mehr als sieben Jahren ihrer Arbeit: In dieser Zeit haben sie gesät und gepflanzt, und sie halten auch Tiere. Sie müssen hier in Häusern leben, in denen man es kaum aushalten kann. Hier ist es sehr heiß, zwischen 30 bis 37 Grad tagsüber. Aber gut, wir freuen uns jedenfalls, mit Ihnen über die juristische Begleitung der Friedensunterzeichner und ihren Wiedereingliederungsprozess sprechen zu können.
Also erst einmal: Wie funktioniert die JEP, die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden?
Sie ist zunächst einmal Teil einer größeren Instanz, und zwar des Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung. Dieses System wurde während der Friedensverhandlungen in Havanna vereinbart, und es umfasst mehrere Instanzen: außergerichtliche und humanitäre Instanzen und eine gerichtliche Instanz. Die Wahrheitskommission beinhaltet die außergerichtlichen Instanzen. Sie war ungefähr vier Jahre lang tätig. Ihre Aufgabe war es, mit den Akteuren und auch mit den Opfern des Konflikts zu sprechen, mit den ethnischen, bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften, mit den Gemeinschaften in den Städten, mit den akademischen Gemeinschaften, kurz: mit allen lebendigen Kräften der kolumbianischen Gesellschaft. Aber auch mit der kolumbianischen Diaspora, denn es gibt eine ziemlich große Zahl von Kolumbianern, die aufgrund des internen Konflikts ins Exil gegangen sind.
Nachdem die Mitglieder der Wahrheitskommission all diese Informationen zusammengetragen hatten, erstellten sie einen Bericht, den sogenannten „Wahrheitsbericht“. Der beschreibt den Konflikt, seine Opfer, die Gründe, warum er derartige Ausmaße annahm, und natürlich die Herausforderungen, denen sich Kolumbien stellen muss, um ihn zu überwinden. In diesem Bericht steht zum Beispiel auch die Zahl der verschwundenen Personen: über 120.000 Kolumbianer. Wir wissen nicht, wo sie sind, sie werden noch immer gesucht.
In Havanna wurde im Zuge des Friedensabkommens die Einheit für die Suche nach vermissten Personen (Unidad de Búsqueda de Personas dadas por Desaparecidas, UBPD) geschaffen. Es geht dabei nicht darum, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Es geht darum, den Schmerz der Opfer zu lindern – sei es, weil sie ihre Angehörigen lebend vorfinden. Und andernfalls hilft das Auffinden der sterblichen Überreste immerhin dabei, den Kummer zu verarbeiten.
Und schließlich ist da die rechtliche oder gerichtliche Komponente, und zwar die JEP, die Sonderjustiz für den Frieden. Dabei handelt es sich um ein nationales Gericht, das dafür zuständig ist, die während des Konflikts begangenen schweren Verbrechen zu untersuchen, ob es sich nun um Menschenrechtsverletzungen, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht oder Kriegsverbrechen handelt, und die Verantwortlichen zu bestrafen. Die Gerichtsbarkeit ist jedoch auch dafür verantwortlich, die Rechtssicherheit der Friedensunterzeichner und der Bevölkerung in ihrem Zuständigkeitsbereich zu garantieren. Dies gilt sowohl für Mitglieder der Farc als auch für Angehörige der Sicherheitskräfte und für Personen, die sonst in irgendeiner Weise entscheidend am Konflikt beteiligt waren. Die JEP hat insgesamt 15 Jahre Zeit, um alles zu erledigen. Aber davon sind schon fast sieben Jahre vergangen.
Was steht bei der JEP auf der Tagesordnung, welche Termine stehen an?
Die JEP hat eine Methodologie entwickelt, um eine Auswahl der schwerwiegendsten Fälle zu treffen. Auf dieser Grundlage wurde beschlossen, sogenannte Makrofälle zu bearbeiten, das heißt Fälle, in denen viele Fakten des Konflikts untersucht werden. Insgesamt wurden elf dieser Makroverfahren eingeleitet, einige davon für die Farc, andere für die Sicherheitskräfte. Und dann gibt es noch Einzelfälle, in denen Anträge auf Vergünstigungen und Amnestie gestellt werden. Es ist also eine ganze Menge Arbeit.
Ich selbst bin Anwalt, ich verteidige also diejenigen, die vor Gericht stehen. Für mich geht es darum: Wie begleite ich die Friedensunterzeichner, die ehemaligen Mitglieder der Farc, in ihrem Prozess? Ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit zu sagen, den Opfern Antworten zu geben: alle notwendigen Erklärungen in historischer, politischer und soziologischer Hinsicht abzugeben, damit klar wird, unter welchen Umständen die Taten begangen wurden oder nicht. Auf diese Weise kann die JEP als Gericht den Opfern eine juristische Antwort geben, für Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung sorgen und die Nichtwiederholung garantieren.
Wie sieht es mit den eigentlichen Gerichtsverhandlungen aus? Die Prozesse haben noch gar nicht begonnen …
Die Verfahren sind in zwei große Blöcke unterteilt. Zuerst geht es darum, dass die Opfer die Täter um die Anerkennung der Wahrheit bitten. Die Täter entscheiden dann, ob sie die Version der Opfer akzeptieren und ob sie bereit sind, die vollständige Wahrheit zu sagen. Wenn ja, dann kommt es gar nicht zum Prozess. Die JEP verhängt dann direkt eine Strafe.
Eine Gerichtsverhandlung findet nur dann statt, wenn das Opfer um Anerkennung einer Tat bittet und der Täter diese Tat nicht anerkennt. Wenn der Täter sich weigert, das zuzugeben, was tatsächlich geschehen ist, wenn er also seine Verantwortung ablehnt und nicht die Wahrheit sagt, dann wird ein Prozess eröffnet.
Im Moment werden jedoch nur wenige Verfahren eröffnet: vor allem gegen die Sicherheitskräfte, also gegen Polizisten und Soldaten, die das ablehnen, was die Opfer von ihnen einfordern. Die Opfer der Sicherheitskräfte fordern, dass die militärischen und polizeilichen Strukturen Verbrechen zugeben, die sie insbesondere im Skandal um die Falsos Positivos begangen haben. Es geht unter anderem um Folter, grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung, gewaltsames Verschwindenlassen, Zwangsvertreibung. Unzählige Polizisten und Militärs haben diese Verbrechen nicht zugegeben, und darum werden mehrere Verfahren eröffnet, und zwar vor allem innerhalb des Makrofalls 03, der die Falsos Positivos betrifft.
Wenn sich alle einig sind, kommt es also nicht zum Prozess und die Strafen werden direkt ausgesprochen. Sind denn schon Strafen verhängt worden?
Was die Farc betrifft, ist der Makrofall 01 am weitesten fortgeschritten. Dabei geht es um Entführungen von Militärpolizisten und Zivilisten, die von den Farc im Zuge des Konflikts begangen wurden. Und in diesem Makrofall wurde das ehemalige Farc-Sekretariat bereits angeklagt. Es hat die Fakten anerkannt und einen ausführlichen Beitrag zur Wahrheit geliefert. Auf dieser Grundlage kann das Friedenstribunal die entsprechende Strafe aussprechen. Ich denke, dass die ersten Strafen bald ausgesprochen werden, sowohl gegen die Farc als auch gegen die Sicherheitskräfte. Darauf warten wir alle, denn diese Urteile werden Aufschluss darüber geben, wie das Gericht mit den für den Konflikt verantwortlichen Personen umgeht – wie diese Strafen konkret aussehen werden. Es werden jedenfalls keine Freiheitsstrafen sein. Die JEP sieht soziale Arbeit als Strafe vor: Aktionen, die reparieren und wiedergutmachen. Wir werden also erfahren, wer bestraft wird, für wie lange und worin die jeweilige Strafe genau besteht.
Es gibt Leute wie den General Mario Montoya und andere, die für die Falsos Positivos, für furchtbare Verbrechen verantwortlich sind. Wird auch für solche Leute diese Art von Strafen ausgesprochen, also: gemeinnützige Arbeit wie der Bau von Schulen, die Reparatur von Straßen?
Die Philosophie des Friedensabkommens von Havanna ist es, auf die nationale Versöhnung hinzuarbeiten, die sozialen Bindungen wiederherzustellen. In der Tat handelt es sich bei den Falsos Positivos um grausame Verbrechen: unter welchem Gesichtspunkt man sie auch betrachtet, sie sind absolut verwerflich. Aber es geht darum, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Es geht darum, dass die für diese Verbrechen Verantwortlichen zur Wahrheitsfindung und zur Wiedergutmachung beitragen. Doch das wollten Montoya und auch andere nicht. Für all jene, die nicht zur Wahrheit und zur Wiederherstellung der sozialen Bindungen beitragen, kommt diese Art von Strafen auch nicht infrage. Sie kommen vor Gericht, damit im Rahmen eines Prozesses festgestellt werden kann, ob sie für die jeweiligen Verbrechen verantwortlich sind oder nicht. Wenn ja, dann drohen ihnen bis zu 20 Jahre Gefängnis.
Im Moment gibt es zwischen ehemaligen Farc-Guerilleros und der JEP eine Krise. Können Sie uns erklären, was da genau los ist?
Wir haben eine gewisse Haltung der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, ihrer Richter und ihrer Beamten beobachtet: Sie entfernen sich allmählich von dem, was ursprünglich vereinbart wurde. Heute sitzen zum Beispiel immer noch Farc-Mitglieder im Gefängnis, und die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden hat keine Garantien dafür geliefert, dass diese Personen amnestiert oder auf Bewährung entlassen werden. Darüberhinaus gibt es eine ganze Reihe von Ex-Farc-Guerilleros, denen ebenfalls keine Amnestie gewährt wurde. Diese Friedensunterzeichner riskieren, von der Polizei festgenommen zu werden, weil weiterhin Haftbefehle gegen sie vorliegen. Das ist die direkte Folge davon, dass ihnen keine Amnestie gewährt wurde.
Die JEP ist nicht gewillt, dem in Havanna vereinbarten Prinzip zu folgen: das der größtmöglichen Amnestie, in Übereinstimmung mit den internationalen Normen. Das bedeutet konkret, dass die in Havanna vereinbarte Rechtssicherheit nicht gegeben ist.
Auch in den Makrofällen hat sich die JEP vom Friedensabkommen entfernt. Im Abkommen hieß es, dass die Farc klar und deutlich sagen würden, wer die Hauptverantwortlichen sind, und dass diese Kommandostrukturen dann auch die Strafen auf sich nehmen würden. Aber auch diese Vereinbarung hat die JEP zurechtgebogen. Sie ruft inzwischen Basis-Guerilleros zur Verantwortung, obwohl diese in der Organisation keineswegs das Sagen hatten. Sie sollen sich für Taten verantworten, von denen sie gar keine Kenntnis haben. Denn die Basis-Guerilleros haben einzig und allein Befehle ausgeführt. Die Haltung der JEP führt zu Rechtsunsicherheit. Und die macht den ehemaligen Guerilleros große Sorgen. Sie haben ein wenig das Vertrauen verloren.
Dazu kommt: In Kolumbien ist der Konflikt infolge des Friedensabkommens von Havanna leider nicht überwunden worden. Wir befinden uns immer noch in einem Konflikt. Aus zwei bewaffneten Konflikten in Kolumbien sind unzählige interne bewaffnete Konflikte geworden. Diese Menschen, die der JEP und dem Friedensabkommen misstrauen, sind also zwangsläufig eine einfache Beute für die heutigen bewaffneten Gruppen: Die überreden sie oft ohne große Schwierigkeiten, zu ihnen zu stoßen.
Und noch etwas: Die Morde an den Unterzeichnern des Friedensabkommens hören nicht auf. Über 400 von ihnen wurden umgebracht, ohne dass irgendetwas passiert. All das bringt große Schwierigkeiten bei der Gewährleistung der Rechtssicherheit und der physischen Sicherheit mit sich und führt zum Verlust des Vertrauens und der Hoffnung auf Frieden. Um diese Dinge geht es in den Debatten, die wir mit der JEP geführt haben. Wir haben darauf bestanden, dass sie nicht nur ein Gericht ist, das über die Täter richtet, sondern auch eine Gerichtsbarkeit mit dem Ziel, Frieden und Versöhnung im gesamten kolumbianischen Volk zu schaffen – nicht nur zwischen Tätern und Opfern.
Und was antworten Ihre Ansprechpartner in der JEP?
Leider haben sie sich gegenüber unseren Argumenten taub gestellt. Sie sagen, dass sie ein unabhängiges Gericht sind, was auch der Fall ist. Sie sagen, dass sie ein Tribunal sind, das die Verantwortlichen schwerer Verbrechen wie Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Menschenrechtsverletzungen bestraft. Aber Tatsache ist, dass sie ein politisches und soziales Abkommen respektieren müssen, das in Havanna unterzeichnet wurde. Sie können nicht einfach davon abweichen und nur das pure internationale Recht anwenden, ohne die Wurzeln des kolumbianischen Konflikts zu berücksichtigen.
Und was wird nun passieren?
Ich habe einige Arbeitsgruppen gebildet, damit beide Seiten im Detail überprüfen können, wie der Friedensprozess verläuft. Frieden kann nicht verordnet werden, er wird nach und nach geschaffen, und zwar von den Beteiligten, den Opfern, der JEP, der nationalen und internationalen Gemeinschaft. Auch die Medien und die großen Wirtschaftskonzerne spielen dabei eine Rolle, kurz: alle Akteure der kolumbianischen Gesellschaft. Und auch die Unterstützung auf internationaler Ebene trägt zum Frieden bei. Der Frieden wird nicht nur dadurch erreicht, dass Täter verurteilt werden. Eine Verurteilung trägt nicht zwangsläufig zu Frieden und Demokratie bei. Eine Verurteilung kann unter Umständen weniger friedensfördernd sein, als wenn sich beide Parteien auf etwas einigen.
Kommen wir auf die Amnestien und die politischen Gefangenen zurück. Wie viele Anträge auf Amnestie gibt es, wie viele der Ex-Guerilleros sind bis jetzt amnestiert worden? Wie viele Unterzeichner des Friedensabkommens sind immer noch inhaftiert?
Der Antrag auf Amnestie gilt für alle Unterzeichner des Friedensabkommens, also für 16.000 Personen. Was die Zahl der inhaftierten Farc-Mitglieder betrifft: das waren 3.800 Personen. Etwa 400 warten immer noch auf ihre Freilassung. Und was die Gewährung von Amnestien angeht: Nach Angaben der JEP wurden nur 9.600 Amnestien gewährt.
Ich betone an dieser Stelle: Wir fordern keinesfalls ein „Gesetz des Verzeihens und Vergessens”. Was wir fordern, ist eine effektive Rechtssicherheit für die Unterzeichner, damit sich der Konflikt nicht wiederholt. Und wir betonen es noch einmal: Das nachlässige und gleichgültige Auftreten der JEP und ihr mangelnder Respekt des Friedensabkommens erzeugen Risiken bezüglich einer Wiederholung des Konflikts in Kolumbien.
Vor der JEP verantworten sich also Unterzeichner des Friedens und auch staatliche Akteure. Und was ist mit den Unternehmen, die die Paramilitärs finanziert haben? Und was ist mit den Politikern, die die Befehle gegeben haben?
Leider gibt es zwei Versionen des Friedensabkommens. Das Erste wurde in Cartagena unterzeichnet. In diesem Abkommen wurde festgelegt, dass die sogenannten „dritten Parteien” vor der JEP erscheinen würden. Bei diesen „Dritten” handelt es sich um Politiker, um Privatpersonen und Mitglieder des Staates, die sich vor der JEP für die Verbrechen verantworten sollten, die sie durch ihr Handeln, durch das Unterlassen ihrer Handlung oder durch effektive Zusammenarbeit begangen haben. Dieses erste Abkommen wurde jedoch bei der Volksabstimmung abgelehnt. Und so wurde das Friedensabkommen neu formuliert. In dem danach im Theater Colón unterzeichneten Friedensabkommen wurde dann unter anderem festgelegt, dass die Geschäftsleute, die Zivilpersonen, also die Dritten nicht verpflichtet sind, vor der JEP zu erscheinen. Wenn, dann erscheinen sie freiwillig.
Die JEP kann also einen Geschäftsmann, eine dritte Partei, eine Zivilperson, einen Gouverneur oder einen Politiker nicht vorladen. Einige, aber nur sehr wenige sind dann auch aus freien Stücken gekommen. Aber die JEP hat nicht die Kompetenz, sie vor das Gericht zu laden. So wird die Wahrheit natürlich ziemlich geschmälert, weil diese Leute ein sehr hohes Maß an Verantwortung tragen.
Wie soll man beispielsweise über den kolumbianischen Konflikt sprechen, ohne die transnationalen Unternehmen zu erwähnen? Wie soll man über den kolumbianischen Konflikt sprechen, ohne die großen Bergbauunternehmen zu erwähnen, die in ihrer Mehrheit auch multinationale Unternehmen sind? Wie sollen wir über den kolumbianischen Konflikt sprechen, ohne über die paramilitärische Politik zu sprechen? Oft erteilen Bürgermeister, Gouverneure und andere staatliche Stellen den Befehl, Menschen anzugreifen. All das lähmt also die Wahrheitsfindung.
Deshalb haben wir auch große Erwartungen in die Politik des totalen Friedens der derzeitigen Regierung. Wir hoffen, dass sie damit weiterkommt und dass diese Politik auch all die Akteure einschließt, die im Abkommen von Havanna nicht berücksichtigt wurden. Und das sind enorm viele! Das ist unbedingt nötig, damit es einen echten Versöhnungsprozess geben kann.
Aber werden diese Akteure denn freiwillig kommen? Wenn sie doch ganz genau wissen, dass niemand sie vorladen wird, dass niemand sie für ihre Verbrechen zur Verantwortung ziehen wird?
Das ist richtig, und das hat die Opfer sehr hart getroffen. Sie waren natürlich ganz und gar nicht damit einverstanden, dass diese entscheidenden Akteure nicht gezwungen werden, sondern freiwillig erscheinen sollen. Das ist wirklich eine Schwachstelle des Friedensabkommens: Wie soll so ein echter Versöhnungsprozess stattfinden? Der Staat tritt ausschließlich in Form von Polizisten und Soldaten vor die JEP. Hochrangige Staatsbeamte erscheinen dort jedoch nicht. Weder Präsidenten erscheinen vor der JEP noch Minister, Gouverneure oder Bürgermeister, und auch andere hochrangige Personen erscheinen dort nicht.
Die hochrangigen Kommandeure der Farc erscheinen also vor der JEP, nicht aber die Befehlshaber der gegnerischen Seite.
Genau. Das ist eines der großen Probleme: dass weder hochrangige Staatsbeamte erscheinen noch all die großen multinationalen Firmen, die in Kolumbien präsent waren und die viele Menschenrechtsverletzungen begangen und viele Opfer verursacht haben. Zum Beispiel wurde bewiesen, dass der multinationale Konzern Chiquita Brands in Kolumbien Paramilitärs bezahlte, um seine riesigen Bananenplantagen zu überwachen. Die Firma wurde auf internationaler Ebene verurteilt. Die JEP kann jedoch dieses Unternehmen nicht vorladen: Das Friedensabkommen sieht das nicht vor.
Und was die Paramilitärs betrifft: Kann jeder den Antrag stellen, vor die JEP zu kommen? Wie sieht es mit dem ehemaligen Paramilitärchef Salvatore Mancuso aus?
Paramilitärs, die vor die JEP kommen wollen, müssen zuerst einmal klarstellen, dass sie nicht mehr „Justicia y Paz“, sondern der JEP unterstehen wollen, und sie müssen sagen, zu welchen Tatbeständen sie zur Wahrheit beitragen wollen. Und die JEP prüft den Antrag des Paramilitärs und entscheidet, ob sie ihn annimmt oder nicht.
Was Mancuso betrifft, gab es lange Anhörungen. Die JEP hat geprüft, ob er als staatlicher Akteur, als Bindeglied zwischen paramilitärischen Gruppen einerseits und Sicherheitskräften und hohen Staatsbeamten andererseits akzeptiert werden konnte.
Die Sache ist die: Mancuso wollte zur JEP, weil er in den USA im Gefängnis saß – weil er einen Ausweg, eine juristische Lösung brauchte. Er wachte nicht eines Tages auf und sagte: Ab jetzt werde ich zum Frieden beitragen. Nein, er wollte einfach eine Lösung für seine rechtlichen Probleme. Mancuso hat unzählige Massenmorde auf dem Gewissen.
Andererseits ist genau das auch Teil des Friedens: Wir müssen diesen Frieden in Kolumbien sowohl mit den Opfern als auch mit den Tätern und dem Rest der kolumbianischen Gesellschaft aufbauen. Ich hoffe, dass Mancuso dem Land beweisen wird, dass er einen echten Willen zum Frieden hat, dass er sich wirklich für die Versöhnung einsetzen will. Hoffentlich bittet er die Opfer aufrichtig um Vergebung und setzt sich ernsthaft für diesen Aufbau des Friedens, für all diese Prozesse ein. Und hier wird es kompliziert: Mancuso will zur Wahrheit beitragen. Teil der Wahrheit ist sicher, dass die Aufträge sehr oft von Ex-Präsident Álvaro Uribe kamen. In vielen Fällen stimmte er sich mit Uribe und anderen Politikern ab. Aber das Problem ist, dass diese Leute in Kolumbien nicht behelligt werden, da kann Mancuso aussagen, was er will. Diese wichtigen Politiker, diese Präsidenten genießen nach wie vor bestimmte Privilegien und kommen ohne Strafen davon.
Halten Sie es für eine gute Idee von Gustavo Petro, Mancuso zum Friedensvermittler zu ernennen?
Ja. Die kolumbianische Gesellschaft gibt ihm nun die Möglichkeit, den Schaden, den er angerichtet hat, wiedergutzumachen, die Opfer zu entschädigen, zur Wahrheitsfindung beizutragen, nach den Verschwundenen zu suchen und um Vergebung zu bitten. Er muss zum Frieden beitragen, er muss mit anderen Paramilitärs sprechen, damit auch sie sich zu diesem Prozess der Versöhnung und Wahrheitsfindung verpflichten. Nur so wird es am Ende möglich sein, diesen endlosen kolumbianischen Konflikt zu überwinden.
Wie sehen Sie die Chancen für Petros Projekt des vollkommenen Friedens?
Es geht recht langsam voran, da gibt es unzählige Probleme. In Kolumbien gibt es immer noch viele Kräfte, die den Krieg wollen: Sie wollen nicht, dass eine friedliche Lösung ausgehandelt wird. Sie profitieren vom Krieg. Und natürlich wollen diese Akteure nicht, dass die Wahrheit über den kolumbianischen Konflikt ans Licht kommt, und stellen sich dem vollständigen Frieden entgegen. Aber ich hoffe, dass all jene, die derzeit mit der Regierung verhandeln, auch wirklich diese Gelegenheit nutzen: Sie haben es mit einer progressiven Regierung zu tun. Jetzt ist die Chance, Frieden und Versöhnung für Kolumbien zu erreichen.
Dieses Interview erschien zuerst auf Amerika21 .
Titelbild: Der Rechtsanwalt, Menschenrechtsverteidiger und Präsident der Stiftung Lazos de Dignidad, Gustavo Gallardo – Quelle: Christine Siebert
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