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Titel: Es gibt auch noch gute Nachrichten – die Quick-Commerce-Blase der Dienstbotengesellschaft ist geplatzt
Datum: 22. August 2024 um 11:19 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Ökonomie
Verantwortlich: Jens Berger
In der Corona-Zeit schossen sie in den Besserverdiener-Vierteln der deutschen Großstädte wie Pilze aus dem Boden – Bringdienste mit Namen wie Getir, Gorillas oder Flink, die mit dem Versprechen angetreten sind, über eine App zusammengeklickte Supermarkt-Artikel in weniger als 10 Minuten mit Fahrradkurieren bis zur Haustür zu liefern. Dieses Geschäftsmodell, das trotz der gnadenlosen Ausbeutung der oft migrantischen Mitarbeiter nicht profitabel und schon gar nicht nachhaltig war, nähert sich nun dem Ende. Getir, Gorillas und viele kleinere Startups sind bereits vom Markt verschwunden, einzig Flink kämpft noch ums Überleben. Das ist eine gute Nachricht. Für Dienstboten gibt es in diesen Vierteln zwar immer noch einen Markt, doch der wird künftig von Unternehmen bedient, deren Geschäftsmodell ein wenig nachhaltiger klingt, die ihre Mitarbeiter jedoch offenbar auch nicht besser behandeln. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Im Kaiserreich war es üblich, dass jeder Kolonialwarenladen in einem besseren Stadtviertel einen oder mehrere Boten beschäftigte. Dies waren oft Kinder oder Jugendliche, die den feinen Herrschaften dann für ein paar Pfennige die schweren Einkaufstaschen bis vor die Haustür trugen, wo sie vom Hauspersonal entgegengenommen wurden. Mit der Zeit änderten sich die Rahmenbedingungen. Kinderarbeit ist seit langem verpönt und in einer Gesellschaft mit einer breiten Mittelschicht galten Geschäftsmodelle, die sich derart eindeutig auf die Ausbeutung prekärer Niedriglöhner gründeten, als unanständig. So trugen selbst die Besserverdiener jahrzehntelang ihre Einkaufstüten selbst.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Um 2020 herum tauchten in städtischen Besserverdiener-Vierteln Dienstleister auf, bei denen man seine Einkäufe bequem per App zusammenstellen und sie sich in weniger als zehn Minuten von einem Niedriglöhner auf dem Fahrrad bis zur Haustür liefern lassen konnte. Und dies noch nicht einmal sonderlich teuer. Beim ehemaligen Branchenprimus Gorilla war man bereits mit einer festen Liefergebühr von 1,80 Euro dabei. So wurde das Ausbeuten noch nicht einmal ein Privileg der Oberschicht. Jeder konnte mitmachen und das zeitgemäß per Klick und ohne Gewissensbisse.
Doch wie funktioniert eigentlich ein solches Geschäftsmodell? Das Supermärkte auch einen Lieferservice anbieten und man seit einigen Jahren seine Einkäufe dort sogar im Netz tätigen kann, ist ja nicht neu. Doch dieses Angebot, das in Deutschland bislang vor allem von den Einzelhandels-Platzhirschen und dem eCommerce-Giganten Amazon mit seinem Angebot Amazon fresh beherrscht wurde, unterscheidet sich vom „Quick Commerce“ – hier wird auf eine vorhandene Infrastruktur zurückgegriffen und die Einkäufe werden logistisch durchdacht von Kurierfahrern ausgeliefert; nicht in 10 Minuten, sondern möglichst zeitnah im Rahmen der üblichen Touren. Das „Quick Commerce“-Konzept kann indes nur funktionieren, wenn die Anbieter lokal in den Besserverdiener-Vierteln möglichst viele kundennahe Auslieferungslager betreiben und ein Heer von schlecht bezahlten Fahrradkurieren, sogenannten Ridern, haben, die Bestellungen in der Regel einzeln ausfahren. Das bringt jedoch hohe Kosten mit sich.
Nachhaltig kann ein solches Geschäftsmodell trotz Dumpinglöhnen nicht sein. Wenn ein Rider einen Stundenlohn von 10,80 Euro bekommt, müsste er sechs Kunden pro Stunde beliefern, um nur seinen Lohn über die Liefergebühren von 1,80 Euro pro Bestellung zu erwirtschaften. Schon das ist nicht möglich. Hinzu kommen indirekte Kosten (z.B. die Sozialabgaben) der Beschäftigten, die Kosten für die Logistik und Mieten – die lokalen Auslieferungslager sind geschäftsmodell-bedingt natürlich auch in den „besseren“ und somit teuren Stadtteilen untergebracht, in denen die Kundschaft lebt. Brancheninsider gehen davon aus, dass der ehemalige Branchenprimus Gorillas bei einer Durchschnittsbestellung im Wert von 27,20 Euro unterm Strich ein Minus von 5,30 Euro gemacht hat. Mit anderen Worten: Die vor allem während der Corona-Pandemie so gehypten Lieferdienste haben im Grunde nur Geld verbrannt.
Paradoxerweise ist „Geld Verbrennen“ jedoch in solch hippen „Wachstumsmärkten“ für Investoren kein Ausschlusskriterium. Heutige Giganten wie Alphabet (Google), Meta (Facebook) oder Amazon haben jahrelang sehr, sehr viel Geld verbrannt – dafür wuchsen sie jedoch auch in einem atemberaubenden Tempo, hatten irgendwann ein Monopol und konnten nun an der Preisschraube drehen und sehr, sehr viel Geld verdienen. Das Konzept ist denkbar einfach. Man sammelt einen dreistelligen Millionenbetrag von Investoren ein und expandiert trotz roter Zahlen in einem atemberaubenden Tempo mit dem Ziel, das Unternehmen später für einen Milliardenbetrag an einen multinationalen Konzern zu verkaufen oder selbst an die Börse zu gehen und weitere Milliarden Investorengelder einzusammeln. Real wird zwar Geld verbrannt, was aber nicht interessiert, solange der Unternehmenswert losgelöst von der Realität bewertet wird. Dazu müssen jedoch das Unternehmen selbst und der Markt wachsen.
Genau an dieser Stelle hatte der Quick Commerce jedoch ein elementares Problem. Sein Geschäftsmodell profitierte nun einmal massiv von den Corona-Maßnahmen. Wer Angst vor dem Virus oder keine Lust hatte, sich mit Maske in den Supermarkt zu begeben, konnte sich von den Fahrradkurieren zeitnah und ohne großen Aufpreis die Waren nach Hause liefern lassen. Während der Lockdowns und Maßnahmen wuchsen diese Dienste dann auch in einem atemberaubenden Tempo und wurden aufgrund ihres Wachstums von Investoren teils auf mehrere Milliarden Euro taxiert. Doch irgendwann hatte man sich mit dem Virus arrangiert und dann wurde bei vielen Kunden das Geld knapp, da die Bundesregierung ja Sanktionen gegen Russland verhängte und so zunächst die Energiekosten und dann die allgemeinen Kosten in die Höhe trieb. So mancher musste nun besser mit seinem Budget kalkulieren und ging lieber zum Discounter, als sich die Einkäufe zum Supermarktpreis liefern zu lassen.
Unprofitabel war das Geschäft der Quick-Commerce-Dienste schon immer, doch nun schrumpfte der Markt, die realitätsferne Bewertung der Unternehmen kollabierte, erst wurden kleinere Anbieter von größeren geschluckt, dann fusionierten die Großen und am Ende verloren auch die Investoren der Großen die Geduld und zogen die Reißleine. Das Berliner Startup Gorillas, das zum Höhepunkt in 17 deutschen Städten aktiv war, wurde vom türkischen Quick-Commerce-Riesen Getir geschluckt, an dem maßgeblich der Staatsfonds von Abu Dhabi beteiligt ist. Im April 2024 zog der jedoch die Reißleine und Getir zog sich in einer Hauruckaktion von sämtlichen europäischen Märkten zurück – in Deutschland „natürlich“ ohne Abfindungen oder einen Sozialplan für die Mitarbeiter. Nur Konkurrent Flink ist noch auf dem deutschen Markt aktiv – Branchenexperten gehen jedoch davon aus, dass auch der letzte Vertreter dieses schädlichen Geschäftsmodells schon sehr bald den Betrieb einstellen muss.
Für die Gesellschaft ist dies eine gute Nachricht. Die eigentlichen Verlierer des Quick Commerce waren neben den ausgebeuteten Niedriglöhnern die meist als Familien- oder Kleinbetrieb geführten Konkurrenten aus der Realwirtschaft. Während klassische Lebensmittellieferdienste eher mit den großen Supermarktketten konkurrieren oder von diesen selbst betrieben werden, waren Gorillas und Co. eine Kampfansage an die kleinen Kioske, Büdchen und Spätis, die in der Großstadt der erste Anlaufpunkt sind, wenn man noch eine kleine Besorgung zu erledigen hat. Hat Amazon den klassischen Einzelhandel in den Städten ruiniert, drohten Gorillas und Co., den kleinen Geschäften im großstädtischen Bereich den Boden unter den Füßen wegzureißen.
Den Kunden war dies offenbar egal. Dem privilegierten Großstädter ist es nun mal wichtiger, dass die Niedriglöhner umweltschonend mit dem Fahrrad unterwegs sind und die Einkäufe dem Kunden in einer Tüte aus recyceltem Papier überreichen; schließlich will man die Welt retten und wenn dabei eine neue Schicht von Dienstboten entsteht, die einem für wenig Geld unliebsame Aufgaben abnimmt, wird dies eher als Kollateralnutzen wahrgenommen. Man lebt in seiner kleinen Blase und stört sich nicht an den Arbeitsbedingungen der Dienstbotenschicht, sondern höchstens daran, dass im schönen Kiez nun Lastwagen unterwegs sind, die die Auslieferungslager morgens beliefern. Auch diese grüne Blase ist nun geplatzt – sie wird nicht die letzte sein. Wenn Ideologie und Ökonomie derart aufeinanderprallen, siegt am Ende nun mal immer die Ökonomie.
Dienstboten, die dem Großstädter die Einkäufe ins Haus bringen, wird es jedoch auch weiterhin geben – einen Bedarf nach dieser Dienstleistung gibt es ja. Die neuen Geschäftsmodelle wirken jedoch entschleunigt und bei näherer Betrachtung auch nicht sonderlich innovativ. So plant nun der tschechische Online-Supermarkt Knuspr den Markt in den deutschen Metropolen zu erobern. Anders als die Quick-Commerce-Anbieter beliefert Knuspr seine Kunden jedoch traditionell mit motorisierten Transporten, die die Ware auf riesigen, automatisierten Zentrallagern ihren Kunden auf fest geplanten Lieferrouten bringen. Das dauert dann nicht zehn Minuten, sondern je nach Wohnlage mehrere Stunden bis Tage – also im Grund das, was viele Supermarktketten ohnehin schon anbieten. Hinzu kommen höhere Liefergebühren und ein Mindestbestellwert; sich mal eben eine Tüte Chips von einem radelnden Niedriglöhner bringen zu lassen, gehört also – hoffentlich – der Vergangenheit an. Gut so.
Aber es ist auch nicht besser, sich den Großeinkauf nun vom transporterfahrenden Niedriglöhner bringen zu lassen. Was sich verschoben hat, ist jedoch die Einkommensschwelle, ab der man nun das zweifelhafte Privileg genießt, Niedriglöhner auszubeuten. Waren Gorillas und Co. auch städtischen Gering- und Normalverdienern zugänglich, konzentrieren sich Dienste wie Knuspr mit ihrem höherpreisigen Sortiment an hippen, regionalen und Bio-Artikeln eher an die wohlhabendere Klientel; die darf dann weiter ihrem Lifestyle auf dem Rücken prekärer Niedriglöhner frönen – wie schon zu Kaisers Zeiten.
Titelbild: Antonello Marangi/shutterstock.com
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