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Titel: Erschreckendes und zugleich Ermutigendes über Margret Thatcher
Datum: 20. Januar 2012 um 15:39 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Länderberichte, Neoliberalismus und Monetarismus
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Für mich der interessanteste Beitrag in dieser Woche war ein Artikel im englischen Guardian zum Thema, „wie sich Großbritannien unter Margret Thatcher veränderte“. Die dort dargestellten Grafiken zu einigen wichtigen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Indikatoren, waren für mich erschreckend und letztlich ermutigend zugleich.
Erschreckend deshalb, weil nahezu alle Daten zeigen, wie durch die politische Wende zum „Thatcherismus“ ein Land ökonomisch, demografisch und kulturell dramatisch heruntergewirtschaftet werden konnte. Ermutigend deshalb, weil die damalige Wende belegt, dass sich durch eine andere und bessere Politik eine Gesellschaft auch zum Positiven verändern ließe, wenn die Politik das nur wollte und wenn sie das ideologische Brett vor dem Kopf wegnehmen könnte. Von Wolfgang Lieb.
Mit der Regierungsübernahme Thatchers im Jahre 1979 verließen über ein Jahrzehnt mehr Menschen das UK als in das Land kamen. In einem Land in dem es nach Margret Thatchers Auffassung „no such thing as society“, also keine Gesellschaft mehr gab, schoss die Arbeitslosenquote bis knapp 12 Prozent hoch – dem höchsten Stand seit der Großen Depression. Eine Politik, die den Staat zurückdrängte (die Staatsausgaben sanken von 48 Prozent am BIP um 10 Prozentpunkte) und die dogmatisch den Marktkräften höchste Effizienz und eine Tendenz zum ökonomischen Gleichgewicht zuschrieb, führte zweimal in eine tiefe Depression und erzielte zwischendurch allenfalls zu recht bescheidenen Wachstumsraten (von maximal 2,2 Prozent). Die verarbeitende Industrie verlor mehr und mehr Anteile am Bruttosozialprodukt und sie konnte sich seither von diesem Kahlschlag nie wieder erholen. Dafür wuchs die von Thatcher gehätschelte Finanzindustrie – mit katastrophalen Auswirkungen, wie wir heute zu spüren bekommen. Die Zinssätze stiegen bis auf 17 Prozent und lagen erst nach Abwahl der „eisernen Lady“ wieder auf „normaler“ Höhe um die 5 Prozent. Nach Thatchers unerbittlichem Kampf gegen die Gewerkschaften stürzte der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer von über 13 Millionen Mitglieder auf knapp 10 Millionen und die Entmachtung der Gewerkschaften war bis heute nicht mehr aufzuhalten. Die Armut im Lande stieg rapide an – lebten zu Beginn von Thatchers Regierungszeit 13,4 Prozent der Bevölkerung unter 60 Prozent des Medianeinkommens, so waren es 1990 über 22 Prozent oder über 12 Millionen Menschen. Die Spaltung der Gesellschaft und die Ungleichheit nahmen dramatisch zu.
Das ist die bedrückende „Erfolgsbilanz“ der „Eisernen Lady“.
Nun war Margret Thatcher keine Diktatorin, sondern sie war bestenfalls Exekutorin einer Wirtschafts- und Gesellschaftsdoktrin die wie eine Pandemie um sich greifend vor allem von den neoliberalen ökonomischen Lehren und Schock-Strategien der Chicago Boys ausging. Mit dem 1981 gewählten amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan fanden sich „Thatcherismus“ und „Reaganomics“ als Schwester und Bruder im ideologischen Geiste zusammen.
Nicht zufällig veröffentlichte der damalige Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff kurz nach der Regierungsübernahme von Thatcher und Reagan im Jahre 1982 das sog. „Lambsdorff-Papier“ – den „Scheidebrief“ für die damalige sozialliberale Koalition. Diese Aufkündigung der bisherigen Politik führte dann schließlich zur „geistig moralischen Wende“ mit der Regierungsübernahme von Helmut Kohl auch in Deutschland. Endgültig zur politisch-geistigen Vorherrschaft des neoliberalen Denkens bei uns führte dann der Schwenk der Sozialdemokratie im Jahre 2003 durch Gerhard Schröders Verkündung der „Agenda 2010“. Schon zuvor wurde von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf einem Sondergipfel im Jahre 2000 die sog. „Lissabon-Strategie“ festgeschrieben, mit der sich der Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus über ganz Europa fortsetzte.
Was kann uns dieser knappe geschichtliche Rückblick zeigen?
Die schlimmste Krisensituation seit der Großen Depression Ende der 30iger Jahre des letzten Jahrhunderts, in der wir uns derzeit befinden, brach weder durch einen Schicksalsschlag noch durch unausweichliche kapitalistische Gesetzmäßigkeiten über uns herein, sondern durch eine Ideologie, die u.a. mit dem Aushungern des Staates, mit Privatisierung, Deregulierung und vor allem mit der Ausschaltung gesamtwirtschaftlichen Denkens politisch herbeigeführt wurde.
Wenn es aber der Politik möglich war, den Karren in den Dreck zu fahren, dann müsste es ihr genauso gut auch möglich sein, wieder einen Weg daraus herauszufinden. Voraussetzung wäre, dass endlich überhaupt wahrgenommen würde, auf welchem Irrweg wir uns befinden. Darüber hinaus wäre es notwendig, dass politische Konzepte und Kräfte wieder die Oberhand gewönnen, die den Dogmen der zurückliegenden gut dreißig Jahren den Schleier ihrer angeblichen „Alternativlosigkeit“ wegziehen könnten und Konsequenzen aus deren permanentem Scheitern ziehen würden.
Als ein Beispiel einer solchen positiven Entwicklung kann die Periode von 1936 bis Ende der 1970er Jahre in den USA gesehen werden. Nachdem die Einkommens- und Vermögensschere mit Spitzensteuersätzen von mehr als 79 Prozent wieder einigermaßen geschlossen wurde, gab es dort eine lange Phase der Prosperität, in der es weder obszönen Reichtum noch massenhaft verbreitete Armut gab. Von 1944 bis 1964 lagen die Spitzensteuersätze in den „erzkapitalistischen“ USA durchweg bei über 90 Prozent – bis zur Wahl von Ronald Reagan lagen sie bei mehr als 70 Prozent. Diese Tatsachen sind heute kaum noch bekannt. Der Nobelpreisträger Paul Krugman beschreibt diese Periode als das „Mittelschicht-Amerika“. Eine Zeit, in der es ein klares politisches Bekenntnis zu mehr Gleichheit und mehr sozialer Gerechtigkeit gab, die im Rückblick sicher nicht zu den schlechtesten Zeiten der amerikanischen Geschichte gehörte.
Es gäbe genügend Alternativen zum herrschenden Kurs, wenn es nur die Bereitschaft gäbe, darüber ernsthaft in eine Debatte einzutreten und alternative Konzepte nicht von vorneherein ausgegrenzt oder gar verteufelt würden.
Leider ist es in der Geschichte oft so gewesen, dass erst eine fürchterliche Katastrophe zu einem Umdenken und zu einem Neuanfang geführt hat. Hoffentlich bleibt unserem Land, Europa, ja der Welt ein weiteres Desaster erspart. Margret Thatcher könnte ein Mahnmal sein, mit den seit über dreißig Jahren aufgebauten Dogmen zu brechen.
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