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Titel: Peter Scholl-Latour – ein weltoffener kritischer Journalist mit politischem Weitblick

Datum: 16. August 2024 um 14:04 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Gedenktage/Jahrestage, Medien und Medienanalyse
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In diesem Jahr wäre Peter Scholl-Latour hundert Jahre alt geworden. Auch zu seinem 100. Geburtstag hätte er für manche seiner früheren Einsichten zu weltpolitischen Ereignissen, für seine Mahnungen zu den Chancen in der Weltpolitik, mehr vertanen als genutzten, gewürdigt werden können. Von Felix Duček.

Peter Roman Scholl galt zwar – aufgrund seiner Mutter – den Nazis als sogenannter Halbjude, wurde jedoch – für ihn ein Glück – erzkatholisch erzogen, zunächst in der Schweiz und notgedrungen später weiter in Nazideutschland. Auch so wurde er gewiss kein Hitler-Anhänger, sondern vielmehr bereits 1944 von der Gestapo inhaftiert. Denn im Jahr 1944 wurde er – nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten – auch bei seinem zweiten Versuch, über Jugoslawien nach Frankreich zu entkommen, um sich der französischen Armee anzuschließen, bereits in der Steiermark wiederum geschnappt. Die danach bei der Gestapo und insbesondere durch den SD der Nazis erlebten Abgründe und Erniedrigungen prägten ihn zweifellos entscheidend, auch wenn er sie seelisch robust verarbeiten konnte. Dennoch verspürte er nach dem Ende der Nazi-Herrschaft keine Lust, Jahre im nunmehr zerstörten Europa zu verbringen. Scholl-Latour verspürte seit seiner Kindheit und Jugend einen wachsenden Drang, die Welt zu erkunden – weniger aus Abenteuerlust als vielmehr wie einer der historischen Entdecker.

Familiär sowohl ein Deutscher als auch mit Frankreich engstens verbunden, konnte er seine Entdeckerlust unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nun als französischer Fallschirmjäger in der durch Frankreich nun zurückgewonnenen Kolonie „Indochina“ ausleben. Nach etwa zwei Jahren wurde er Student – anfangs in Mainz, später an der Sorbonne – und promovierte 1954 schließlich ebenfalls in Paris. Bald nutzte er in Beirut auch noch die Chance für ein Studium der Arabistik und Islamkunde, was er ebenfalls mit einem Diplom abschloss. So wuchs aus seiner Weltoffenheit in wenigen Jahren ein reicher Schatz an kulturellen und sozialen Erfahrungen, auch im Umgang mit Menschen der fremden Kulturen, die ihm überall begegneten.

Auch dieses Bemühen um das Kennenlernen und Verstehen zunächst ihm völlig fremder Kulturen war zweifellos prägend und am Ende kennzeichnend für sein ganzes Leben als ein unbestechlicher Berichterstatter und kritischer Journalist. Dafür wollte und musste er keineswegs selbst ein Anhänger der antikolonialen Befreiungsbewegungen sein – oder gar ein mit sozialistischen Ideen liebäugelnder Revolutionär. Nein, das war er nicht. Scholl-Latour galt manchen als traditioneller Gaullist, forderte einerseits die gemeinsame (west-)europäische Verteidigung anstelle einer permanenten Abhängigkeit und Unterordnung unter die USA. Er befürwortete zeitweise sogar eine nukleare Bewaffnung der deutschen Bundeswehr. Als Bundesbürger und französischer Staatsbürger war er zweifellos ein glühender (West-)Europäer.

Der Spiegel würdigte Scholl-Latour einst (in besseren Zeiten dieses Wochenmagazins) als eine Art „Welterklärer“, und dieser Bezeichnung ist er tatsächlich als ein unbestechlicher Journalist, der zu keinerlei opportuner (Selbst-)Zensur bereit war, stets gerecht geworden. Unzählige Male hat er die kriegerischen Aktionen des Westens anstelle von diplomatischem und auf gegenseitiges Verstehen ausgerichtetem Vorgehen schonungslos enthüllt und kritisiert.

Aber spätestens heutzutage würde Scholl-Latour dafür – sicherlich auch, aber nicht nur vom Spiegel – bestenfalls als Putin-Propagandist verunglimpft werden. Etwa dafür, weil er vor zehn Jahren anlässlich seines 90. Geburtstages in einem denkwürdigen Phoenix-Interview Anfang März 2014 einschätzte:

„Im Moment sieht es wirklich so aus, als sei man darauf aus, die Russen zurückzudrängen. Man spielt ‘Kalter Krieg’ auf einmal, mittels Sanktionen, was für die Europäer völlig blödsinnig ist. Wir werden mehr unter den Sanktionen leiden als die Russen. Es ist wirklich ein Spiel im Gange, was geradezu grotesk ist … dieses ständige Putin-Bashing … Die Europäer verschätzen sich völlig in ihrer Rolle: sie sind keine Weltmacht mehr und haben in der Welt nichts mehr zu sagen. … Man hat ja gar nicht zur Kenntnis genommen, dass die Ukraine kein geeintes Land ist. … In Kiew schaut doch keiner mehr durch, wer da auf dem Maidan wen manifestiert.“

Konkret beziffern konnte er immerhin die auch damals schon gewaltigen, vom US-Kongress selbst veröffentlichten „Investitionen“ in die Ukraine.

Befragt nach seinen Eindrücken vom persönlichen Zusammentreffen mit Putin, merkt er unumwunden an:

„Putin ist im Grunde ein Mann des Geheimdienstes, der weiß, wie weit er gehen kann. Er versteht es auch, seine Kraft auszuspielen, das hat er jetzt in Syrien gezeigt. … Auf der Krim ist es ziemlich eindeutig: die Krim ist überwiegend russisch. … Und dass er die volle Kontrolle über die Krim haben will, verstehe ich durchaus. … Ja, man merkt ihm schon seine Vergangenheit als Geheimdienstoffizier an, aber er ist höflich, er ist gut informiert und beantwortet alle Fragen!“

Dabei belegen auch heute noch viele seiner Reportagen und seine danach schriftlich publizierten Analysen der Weltlage eine atemberaubende Weitsicht – wegen ihrer Treffsicherheit, die bis heute Gültigkeit hat – und auch hinsichtlich der Schonungslosigkeit gegenüber der jeweils herrschenden Politik im Westen, die selten seinen Rat hören, geschweige denn annehmen wollte. Peter Scholl-Latour war allerdings keineswegs ein mystischer Hellseher, sondern ein kühl denkender Analyst, der auch sehr genau die strategischen Einflüsterer der Herrschenden studierte und manche von deren Wunschträumen zu relativieren oder zu widerlegen vermochte.

Bis heute versucht die westliche Propaganda unentwegt, Russlands angeblich paranoide Angst vor einer NATO-Einkreisung allein schon aus geografischer Sicht als Putins Hirngespinst lächerlich zu machen. Scholl-Latour dagegen veröffentlichte bereits im Jahr 2006, also vor 18 Jahren, eine Filmreportage mit dem prägnanten Titel „Russland im Zangengriff“ und schrieb seine Erkenntnisse und Sichtweise in dem gleichnamigen Buch nieder, in dem er vom Umfeld Russlands Region für Region (außer der noch weitgehend unverwundbaren Arktis) nachweist, dass und wie – seit der Auflösung der Sowjetunion und des militärischen Blocks des Warschauer Vertrages – die USA mit ihren westeuropäischen Vasallen und der eigentlich obsolet gewordenen NATO genau dieses Unterfangen unablässig vorantreiben.

Dabei überführt Scholl-Latour die Leugner dieser Tatsache mit ihren eigenen Protagonisten, indem er etwa das 1997 erschienene Buch von Zbigniew Brzeziński „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (besser bekannt oft unter dem noch treffenderen amerikanischen Titel „The Grand Chessboard …“). Sein Seelenverwandter Samuel P. Huntington würdigte das Buch des scharfsinnigen Analytikers polnischer Abstammung und früheren Sicherheitsberaters des US-Präsidenten Jimmy Carter (1977 – 1980) mit den Worten: „Eine meisterhafte Synthese aus historischer, geostrategischer und politischer Analyse. Das ist geostrategisches Denken in der großen Tradition Bismarcks.“

Scholl-Latour dagegen analysierte gründlich und unbefangen ebenfalls diese unverhohlenen Wünsche und strategischen Schachzüge, die Brzeziński empfahl – zitierte manche seiner Passagen, um auch die Vermessenheit solcher US-Berater und deren Strategien zu entlarven. Seine Treffsicherheit konnte Scholl-Latour ein weiteres Mal im Vorwort zur bereits dritten Auflage des Taschenbuchs im November 2007 unter Beweis stellen:

„Im Januar 2006 war es noch eine kühne Vermutung, im belarussischen Minsk von einer ‘Rückkehr zum Kalten Krieg’ zu reden. … In München war im Frühjahr 2007 eine seltsame Aufregung im westlichen Lager aufgekommen, als bei der leider umbenannten ‘Wehrkundetagung’ Wladimir Putin mit der Faust auf den Tisch schlug und die Dinge beim Namen nannte. Hatten Amerikaner und Deutsche denn wirklich geglaubt, der russische Präsident … werde passiv zuschauen, wie Washington und Brüssel eine politische ‘Einkreisung und Isolierung’ seines Landes betrieben, und diese gefügig hinnehmen?“

Von „Russland im Zangengriff“ sind nach den detaillierten Kapiteln über Weißrussland, Tatarstan, Russisch-Fernost, Ussuri, Mandschurei und China insbesondere die etwa 30 Seiten des letzten Kapitels über die Ukraine heute natürlich besonders lesenswert (sehenswert auch in der gleichnamigen Filmreportage, die auf YouTube noch verfügbar ist). In der westlichen Propaganda beginnt bekanntlich „der Ukraine-Krieg“ am 24. Februar 2022 verdeckt als „militärische Sonderoperation Russlands“. Vielen kritischen Zeitgenossen ist zumindest der verbrecherische Putsch auf dem Kiewer Maidan gegen die rechtmäßige ukrainische Regierung im Jahr 2014 noch in Erinnerung, auf den Scholl-Latour auch in seinem genannten, wohl letzten großen Fernsehinterview im März 2014 zu sprechen kommt.

Bereits in seinem Buch von 2006 beleuchtet er sehr aufschlussreich die historische Zerrissenheit dieser Ukraine, die sich seit ihrer Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion fortsetzte, mit den Abschnitten überschrieben als eine Revolution „Verfaulter Orangen“, ein Wanderzirkus der „Demokratie“, über Patriarchen und Oligarchen und abschließend – heute wieder sehr aktuell – ein Abschnitt mahnend überschrieben „Noch 300 Kilometer bis Stalingrad“. In diesem letzten Kapitel greift Scholl-Latour nochmals die zu Jelzins Zeiten strategische US-Vision in Brzezińskis „Die einzige Weltmacht“ (auf Seite 74) auf:

„Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden …“

Was dann bei Brzeziński dort noch folgt, ist – wie von Scholl-Latour vermutet – heute allerdings bereits weitgehend in das Reich der Wunschträume von US-Strategen entschwunden, nämlich ein Russland als asiatisches Reich, „ … das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich erlangten Eigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderen islamischen Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden. Auch China würde sich angesichts seines zunehmenden Interesses an den dortigen neuerdings unabhängigen Staaten voraussichtlich jede Neuauflage einer russischen Vorherrschaft über Zentralasien widersetzen.“ Brzeziński konnte oder wollte nicht vorausahnen, dass die „einzige Weltmacht“ stattdessen bald schon – auch durch eigenes Verschulden – dem Trend einer mittlerweile immer stärker erkennbaren neuen, multipolaren Weltordnung gegenüberstehen wird – sei es durch die Entdollarisierung des Welthandels, durch die vielfältigen und dennoch auf Gemeinsamkeiten beruhenden Interessen der BRICS und zahlreicher neuer Anwärter oder durch die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

Scholl-Latour sah das durchaus aus eigenen Erfahrungen in den verschiedenen Weltregionen, wo er die Allmacht-Überheblichkeit und das bigotte Menschenrechtsgefasel sowohl der USA als auch der Westeuropäer schonungslos anprangerte, übrigens auch Deutschlands gegenüber der Volksrepublik China. Peter Scholl-Latour war bekanntlich auch sehr vertraut mit den inneren politischen und ideologischen Strukturen und Spannungen auch der islamischen Welt, die heute in Europa tagtäglich greifbarer werden. Wie oft bei Begegnungen gelang es ihm auch dort, sich mit Einfühlungsvermögen, Achtung und persönlichem Entgegenkommen ein tiefes Vertrauen zu erarbeiten. So etwa beim politischen und religiösen Führer der Islamischen Revolution von 1979, dem iranischen Ajatollah Ruhollah Musawi Chomeini, in Paris und als dessen Begleiter bei seiner Rückkehr nach Teheran nach dem Sturz vom Schah Mohammad Reza Pahlavi. Daran erinnerte unlängst auch der freie Journalist, Osteuropa-Experte und Iran-Kenner Ramon Schack, anknüpfend an seine „Begegnungen mit Peter Scholl-Latour. Ein persönliches Portrait“.

Seine Liebe und sein Einfühlungsvermögen für die Kulturen Südostasiens zeigten sich auch während des Vietnam-Krieges, den er trotz Zensurbestrebungen in Deutschland – nach wütendem Protest der CIA – auch weiter schonungslos dokumentierte und kritisierte, so dass ihm – wieder einmal und zu Unrecht – Feindschaft gegenüber den USA vorgeworfen wurde. Auf einer Exkursion in das Niemandsland zwischen dem Herrschaftsbereich des südvietnamesischen Marionetten-Regimes und dem Norden der Sozialistischen Republik Vietnam begegnete er mit seinem Kamerateam unvermittelt den Kämpfern der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (NFB; er nennt sie im zeitgemäßen westlichen Jargon „Vietcong“). Die südvietnamesischen Truppen hatten das Team den letzten Kontrollposten ungehindert passieren lassen, weil sie die Fremden – wie so oft im damaligen Südvietnam – für CIA-Leute hielten, denen man ohnehin nichts zu sagen hatte.

Das unerwartete und erstaunlich friedliche, ja zivilisierte Zusammentreffen mit den überraschend aus dem Unterholz hervorstürmenden kommunistischen Militärs des „Vietcong“ hat Scholl-Latour selbstverständlich ebenfalls filmisch dokumentiert. Warum ging das so glimpflich aus – gerade auch für einen westeuropäischen Journalisten mit seinem Team in einem der brutalsten und verheerendsten Kriege der USA nach dem Zweiten Weltkrieg? Er selbst sieht die Antwort nicht nur in der militärischen, sondern auch politischen Exzellenz dieser damaligen Kämpfer aus dem Norden Vietnams: Sie kannten offenbar sehr genau auch die westlichen Berichterstattungen über diesen Krieg und konnten somit bewerten und differenzieren, welch ein Journalist mit seinem Kamerateam ihnen dort ins Netz gegangen war. Und dieses Zusammentreffen hat die gegenseitige Achtung offenbar auf beiden Seiten noch einmal gesteigert.

Es lohnt sich also, aus gegebenem Anlass – heute jährt sich sein Todestag am 16. August 2014 zum zehnten Mal – mit dem Andenken an Peter Scholl-Latour auch ein neuerliches Nachdenken zu verbinden: ganz im Sinne seines ausdrücklichen Engagements gegen die „mediale Massenverblödung“, die auch Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam stets „in memoriam Peter Scholl-Latour“ ihren eigenen Beiträgen als Nachsatz anfügen.

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