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Titel: Die SPD-Führung unterstützt die Raketenrüstung mit Desinformation
Datum: 14. August 2024 um 9:07 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufrüstung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, SPD
Verantwortlich: Redaktion
Der Beschluss des SPD-Präsidiums, die Stationierung von hochpräzisen, weit reichenden und für das gegnerische Radar schwer zu erfassenden US-Mittelstreckenraketen zu unterstützen, fußt auf falschen Begründungen. Von Bernhard Trautvetter.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Das Vorhaben der US-Raketenrüstung steigert die Instabilität Europas im Schatten der nuklearen Gefahr. Folgendermaßen lautet die Begründung der SPD-Spitze für ihre Unterstützung der Raketenstationierung:
„Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, … ist eine Reaktion auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands in der Ukraine und trägt der Bedrohung Europas durch die massive russische Aufrüstung der vergangenen Jahre gerade im Bereich der Raketen mittlerer Reichweite Rechnung. Er stärkt die europäische Sicherheitsarchitektur zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa.“
Diese Darstellung des Grundes für den SPD-Beschluss hält keinem Fakten-Check stand und sie ist aus vielen Gründen brandgefährlich: In einer Situation, in der das von Einstein mitbegründete Mitteilungsblatt atomarer Wissenschaftler die Welt so nahe wie nie seit Hiroshima am nuklearen Abgrund sieht, ist Diplomatie statt Hochrüstung das Gebot des Überlebens. Doch im Zusammenhang mit der Raketenstationierung hat sich die SPD faktisch für die Richtung der Rüstung und nicht der Diplomatie entschieden. Das SPD-Präsidium verteidigt den Beschluss mit „Sicherheit vor Russland“, die Begründung für diese Orientierung reproduziert das NATO-Narrativ:
„Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass Russland nicht nur in den Aufbau neuer Kapazitäten investiert hat, sondern diese auch im Angriffskrieg gegen ein europäisches Land einsetzt.“
Diese Formulierung siedelt die Verantwortung für den Krieg ausschließlich auf Seiten Russlands an. Dazu sagte der SPD-Spitzenpolitiker Klaus von Dohnanyi am 19.03.2022 der NZZ:
„Für den Krieg ist nur Russland verantwortlich. Aber als die Bedrohung eines Krieges für die Menschen in der Ukraine wuchs, waren die USA nicht bereit, über die zentrale Frage, ob die Ukraine in die NATO kommt, auch nur zu verhandeln.“
Dies offenbart, dass der Wahrheitsgehalt der SPD- und der NATO-Position einer Überprüfung bedarf.
Die Begründung des SPD-Präsidiums folgt – was hier zu beweisen ist – der NATO-Des-Information, die man auch getrost ‚Propaganda‘ nennen kann. Und der Beschluss verletzt zudem die Programmatik der SPD – im aktuellen Grundsatzprogramm der SPD heißt es:
„Umfassende Sicherheit lässt sich nur gemeinsam erreichen. Dafür gilt es, eine Weltinnenpolitik mit starken Vereinten Nationen auszubilden und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen.“
Die SPD-Führung übergeht die Tatsache, dass die NATO-Expansion gegen glasklar formulierte Grundlagentexte der europäischen Diplomatie verstößt: Das Prinzip der gemeinsamen – weil gegenseitigen – Sicherheit war und ist Element der Präambel des 2+4-Vertrages zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten, der gleichzeitig europaweit beschlossenen Charta von Paris, selbst den Grundsätzen der NATO-Russland-Grundakte und der OSZE-Sicherheitscharta von 1999. Dagegen zu verstoßen und dann die Hände in Unschuld zu waschen, bedeutet das Ende der eigenen Glaubwürdigkeit. Hier folgt exemplarisch ein Zitat aus den Grundsätzen der NATO-Russland-Grundakte:
„Ausgehend von dem Grundsatz, daß die Sicherheit aller Staaten in der euro-atlantischen Gemeinschaft unteilbar ist, werden die NATO und Rußland zusammenarbeiten, um einen Beitrag dazu zu leisten, daß in Europa gemeinsame und umfassende Sicherheit auf der Grundlage des Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten, Verpflichtungen und Verhaltensnormen im Interesse aller Staaten geschaffen wird. Die NATO und Rußland werden zur Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beitragen, darunter auch zur Weiterentwicklung ihrer Rolle als eines der Hauptinstrumente für präventive Diplomatie, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung, Normalisierungsmaßnahmen nach einem Konflikt und regionale Sicherheitszusammenarbeit, und die Verbesserung ihrer operationellen Fähigkeiten zur Durchführung dieser Aufgaben unterstützen.“
Passend dazu forderte die OSZE-Sicherheits-Charta 1999:
„Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu den Prinzipien der Transparenz und der Vorhersehbarkeit … Rüstungskontrollverpflichtungen, einschließlich Abrüstung, Transparenz … – gewährleisten, dass ihre Mitgliedschaft bei diesen Organisationen und Institutionen auf Offenheit und Freiwilligkeit beruht; – das Konzept der OSZE für eine gemeinsame, umfassende und unteilbare Sicherheit und einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien aktiv unterstützen.“
Dem widerspricht die seit Ende der 1990er-Jahre durchgeführte NATO-Ostexpansion um 16 Staaten. Sie verletzt das Prinzip der gemeinsamen – weil gegenseitigen – Sicherheit ohne Trennlinien mit der Strategie von Militärs, die das westliche Staatenbündnis gegen unterstellte Gefahren aus dem Osten ausrichten.
Michail Gorbatschow, sowjetischer Präsident während der Verhandlungen zur Vereinigung Deutschlands, schrieb 2019 in seinem Buch ›Was jetzt auf dem Spiel steht‹ (Siedler-Verlag):
„Doch das gegenseitige Vertrauen, das mit dem Ende des Kalten Krieges gewachsen war, wurde dann einige Jahre später schwer erschüttert – durch die Entscheidung der NATO, sich nach Osten auszudehnen. Und Russland konnte darauf keine Antwort finden.“ (S. 14)
Die Warnungen vor den Konsequenzen des Bruchs der Verpflichtung zum Aufbau einer Friedensordnung, die das von Gorbatschow und anderen wie Olaf Palme und Willy Brandt entwickelte gemeinsame Europäische Haus von Lissabon bis Wladiwostok verkörpert, haben mehrere US-Präsidenten in den Wind geschlagen und mit ihnen die gesamte NATO samt der sie tragenden Kräfte bis hinein ins Willy-Brandt-Haus der SPD.
Viele hochrangige US-Diplomaten und -Experten warnten bereits lange zeitlich vor den Worten Gorbatschows. Der NATO-Stratege George F. Kennen schrieb am 5.2.1997 in der New York Times:
„Es ist davon auszugehen, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, anti-westlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Gesellschaft anheizen, dass sie sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken wird, die uns nicht gefällt.“ (Übersetz.: B.T.)
Der letzte US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock, erklärte im gleichen Zusammenhang vor 10 Jahren:
„Als wir den Kalten Krieg beendet und politisch dabei geholfen haben, Osteuropa zu befreien, war klar, dass wir Russland für ein freies und vereintes Europa einbeziehen müssen. Wir wussten auch, wenn man ein Instrument des Kalten Krieges – die NATO – in dem Moment vor bewegt, wo die Barrieren fallen, schafft man neue Barrieren in Europa. Und genau das ist jetzt geschehen. Wenn wir Frieden wollen, dann sollten Russland, die Ukraine und die Länder Ost- und Westeuropas in einer einzigen Sicherheitsgemeinschaft sein.“
Der aktuelle CIA-Chef und Ex-Botschafter in Russland schrieb 2008 in seinem ‚Kabel‘ ›Nyet Means Nyet‹:
„Die NATO-Bestrebungen der Ukraine und Georgiens, die nicht nur einen rohen Nerv in Russland berühren, sie erzeugen ernsthafte Bedenken über die Konsequenzen für die Stabilität in der Region. Russland nimmt nicht nur die Einkreisung und die Bemühungen wahr, Russlands Einfluss in der Region zu untergraben, sondern es befürchtet auch … unkontrollierbare Folgen, die die russischen Sicherheitsinteressen ernsthaft berühren würden. Experten sagen …, dass Russland besonders darüber besorgt ist, dass die starken Spaltungen in der Ukraine über die NATO-Mitgliedschaft, mit einem Großteil der ethnisch-russischen Gemeinschaft gegen die Mitgliedschaft, zu einer großen Spaltung führen können, die Gewalt oder im schlimmsten Fall einen Bürgerkrieg bedeutet. In diesem Fall müsste Russland entscheiden, ob es eingreift; eine Entscheidung, vor die Russland nicht gestellt sein will.“ (Übersetz.: B.T.)
Viele Experten erklärten dazu passend in einem Offenen Brief an US-Präsident Clinton vom 26.06.1997:
„Wir … sind der Auffassung, daß die gegenwärtigen, von den USA angeführten Bemühungen, die NATO auszuweiten, …, einen politisch-strategischen Fehler von historischem Ausmaß darstellen. Wir glauben, daß die NATO-Erweiterung die Sicherheit der Alliierten verringern und die europäische Stabilität … gefährden wird:
- In Rußland wird die nach wie vor quer durch das gesamte politische Spektrum abgelehnte NATO-Erweiterung … die Bemühungen derer unterlaufen, die Reformen und eine Kooperation mit dem Westen anstreben. Ferner hat die NATO-Erweiterung zur Folge, daß die Russen die gesamte nach dem Kalten Krieg gefundene Einigung wieder in Frage stellen könnten…
- In Europa wird die NATO-Erweiterung eine neue Demarkationslinie zwischen denen, die dabei, und denen die nicht dabei sind, ziehen. Dies bewirkt wachsende Instabilität und wird das Sicherheitsgefühl jener Länder, die nicht mit eingeschlossen werden, vermindern.“
Angesichts all dieser Zusammenhänge ist es fast schon nachrangig, dass Herr Pistorius davon beschwichtigt ist, dass eine atomare Bewaffnung der US-Raketen, die ab 2026 nach Deutschland kommen sollen, ‚nicht vorgesehen‘ sei. Wie glaubwürdig solche Worte sind, das zeigt die Bekundung von Politikern aus den NATO-Staaten BRD und USA gegenüber der sowjetischen Führung, die NATO werde sich nicht um einen ‚inch‘ nach Osten ausdehnen: Seit 1999 sind 16 Staaten in die Nato aufgenommen worden.
In einer international immer näher in die Richtung eines Atomkriegs und damit des Endes der Menschheit zugespitzten Lage erklärt das SPD-Präsidium seinen Beschluss mit dem Motiv, „dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss.“ Diesem erklärten Ziel setzt sie eine Politik entgegen, die die Spannungen und die Gefahren im Vorfeld sogar eines Atomkrieges erhöht – also eines Krieges, der das Leben eines jeden Menschen, auch der heute geborenen Kinder, beenden kann. Wer dieses Inferno eine Weile noch überleben kann, für den gilt die Warnung des ehemaligen sowjetischen Präsidenten aus der Zeit der Kuba-Krise:
»Die Überlebenden werden die Toten beneiden.«
Titelbild: FOTOGRIN / Shutterstock
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