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Titel: Nauru – vom Paradies zur Kraterlandschaft. Eine Metapher für die moderne Menschheit
Datum: 2. August 2024 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Finanzpolitik, Länderberichte, Ressourcen
Verantwortlich: Jens Berger
Als die NASA 1977 die beiden Voyager-Sonden ins Weltall schoss, bestückte man sie mit goldenen Datenplatten, auf denen Reden damals bedeutender Politiker, Grußbotschaften in zahlreichen Sprachen und ausgewählte Musikstücke der Menschheit verewigt sind. Sollten dereinst in vielleicht vielen Millionen Jahren Außerirdische diese Sonden finden, sollten sie so einen Eindruck davon bekommen, was einmal die Menschheit war. Das war recht philanthropisch gedacht. Wäre man selbstkritischer, hätte man besser die Geschichte des pazifischen Inselstaates Nauru ins Weltall geschossen, ist sie doch durchaus repräsentativ für das, was wir Menschheit nennen. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Wenn man mal sämtliche gute Erziehung beiseitelässt, kann man die Insel Nauru mit Fug und Recht als einen gigantischen Haufen Scheiße bezeichnen. Entstanden ist die Insel in grauer Vorzeit, als Vögel ihren Kot auf ein Korallenriff im Pazifik fallen ließen. Dieser gigantische Haufen aus Vogelkot-Sedimenten wurde vor rund 3.000 Jahren von den ersten Menschen besiedelt, und dieser Teil der Geschichte Naurus ist wohl bis heute der glücklichste. Verwitterter Vogelkot bildet in Kombination mit dem Kalkstein der Korallenriffe das uns als Dünger bekannte Guano. Nauru war in dieser Zeit daher äußert fruchtbar; die weniger als 2.000 Bewohner des Eilands, das rund ein Viertel der Größe der deutschen Insel Sylt hat, lebten vergleichsweise friedlich in zwölf Stämmen von den Früchten und den Fischen in den Riffen vor der Insel. Das änderte sich, als Nauru von der sogenannten Zivilisation entdeckt wurde.
1798 trieb es das britische Handelsschiff Hunter an die Gestade der Insel. Da die Einwohner die Mannschaft freundlich mit Kokosnüssen und Früchten beschenkten, taufte der Kapitän der Hunter die Insel kurzerhand „Pleasure Island“. Doch die paradiesischen Zeiten waren mit der „Entdeckung“ vorbei. Kaum war die „Insel der Freude“ auf den Karten der Briten verzeichnet, kamen die ersten Glücksritter – christliche Missionare und Flüchtlinge der britischen Strafkolonie von der „nahegelegenen“ Norfolkinsel. Einer von ihnen, der irische Sträfling John Jones, erklärte sich sogleich zu „Naurus erstem und letztem Diktator“. Nauru war nun ein verrufenes Piratennest, die Einheimischen lieferten die Lebensmittel und wurden dafür mit Alkohol und Feuerwaffen bezahlt. 1878 brach dann zwischen den zwölf Stämmen ein Bürgerkrieg aus – auf einer Hochzeitsfeier hatte ein besoffener Häuptlingssohn einen anderen besoffenen Häuptlingssohn erschossen.
König Auweyida und Königin Eigamoiya in der Mitte mit treuen nauruischen Untertanen (um 1890). Fotograf unbekannt, Public Domain
Während die Naurer sich gegenseitig abschlachteten, wurde im fernen Europa über sie entschieden. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. wollte einen Platz an der Sonne, und 1886 wurde seinem Kaiserreich in den „Britisch-deutschen Erklärungen über den westlichen Pazifik“ der den Briten offenbar nicht so wichtige Vogelkot-Sedimenthaufen namens Nauru als Protektorat anvertraut. 1888 landeten mit dem Kanonenboot „Eber“ die ersten deutschen Soldaten, kidnappten erst einmal alle zwölf Stammesführer, entwaffneten dann das Volk und riefen einen neuen „König“ aus. Die 900 noch lebenden Insulaner hatten damals übrigens 765 Gewehre. Fortan sollte Nauru am deutschen Wesen genesen, was – wie damals üblich – vor allem bedeutete, den Kolonialherren zu Diensten zu sein.
Dieser Teil der Geschichte Naurus wäre auch recht unspektakulär, hätten die Deutschen nicht entdeckt, dass der gigantische Haufen aus Vogelkot-Sedimenten ja den damals zur Düngemittel- und Sprengstoffproduktion so wichtigen Rohstoff Phosphat enthält – und davon gleich viele Millionen Tonnen, ein Vermögen! Die Pacific Phosphate Company, ein deutsch-britisch-australisches Konglomerat, war geboren. Mit dem naurischen Vogelkot wurden australische Äcker gedüngt, die Profite flossen reichlich – nach Deutschland und nach Großbritannien, natürlich nicht nach Nauru. Die Einheimischen durften dem Spektakel lediglich als miserabel bezahlte Hilfsarbeiter beiwohnen. Ihre Insel war nun de facto Konzernbesitz der PPC, die Kolonialherren aus dem fernen Deutschland hielten die Hand auf und betrieben nebenbei für ein paar Jahre eine Funkstation, bis 1914 im fernen Europa ein Krieg ausbrach und die Briten die Insel übernahmen.
Phosphatbergbau, Nauru, 1919, by unknown photographer, collected by Maslyn Williams, from vintage gelatin silver print, State Library of New South Wales, Public Domain
Nun war Australien die Mandatsmacht, Großbritannien und Neuseeland beteiligten sich, und man gründete die British Phosphate Commission (BPC), die fortan das Land ausbeutete. Die Einheimischen überlebten diese Periode, die durch die eingeschleppten Krankheiten der Australier und Briten geprägt war, nur knapp. Aber das interessierte die Zivilisation wenig. Es wurde – hauptsächlich von chinesischen Hilfsarbeitern – von der BPC mehr Phosphat denn je gefördert und verschifft. Dann kam aus dem fernen Europa der nächste Krieg: Erst bombardierten die Deutschen die Insel, dann übernahmen die Japaner das Kommando und verschifften erst mal fast alle Einheimischen in ein Strafarbeitslager auf der Pazifikinsel Truk. Nach dem Zweiten Krieg wurden die 750 überlebenden Naurer zurückdeportiert, und abermals erteilte die UN Australien, Großbritannien und Neuseeland ein Mandat, die BPC konnte ihren lukrativen Betrieb wieder aufnehmen. Doch nun gährte es unter den Naurern. Weltweit erklärten in den 1960ern ehemalige Kolonien ihre Unabhängigkeit, auch Nauru erlangte schließlich 1968 als damals kleinster Staat der Welt seine Unabhängigkeit und durfte für die stolze Summe von 21 Millionen AUD sogar die BPC übernehmen. Nun war man zwar hoch verschuldet, aber unabhängig und hatte zum ersten Mal seit über 100 Jahren das eigene Schicksal selbst in der Hand.
Bild: Robert Szymanski/shutterstock.com
Und was machten die Naurer? Sie setzten den Abbau des kostbaren Vogelkots fort. Phosphat galt in dieser Zeit als braunes Gold. Nauru wurde reich, steinreich. In den 1970ern war Nauru hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten – gemessen am BIP pro Kopf – das zweitreichste Land der Welt. Doch mit dem Reichtum nahm das Unheil seinen Lauf. Zunächst verteilte die Regierung die sprudelnden Einnahmen an das Volk. Steuern wurden abgeschafft, Bildung und medizinische Versorgung waren kostenlos, jeder Naurer hatte eine Haushaltshilfe, und im Schnitt kamen auf jeden Einwohner drei Autos – und das, obgleich die kleine Insel lediglich über ein Straßennetz von 25 Kilometern verfügt. Und die Naurer fraßen sich zu Tode: 89 Prozent der Bevölkerung galten damals als krankhaft übergewichtig, die reiche Insel hatte eine der kürzesten Lebenserwartungen. Das Nauru der 1970er- und 1980er-Jahre war sinnbildlich für unsere Zivilisation – man lebte in Saus und Braus von endlichen Ressourcen, das jähe Ende stets vor Augen. Schon 1962 – also vor der Unabhängigkeit – prägten die Vereinten Nationen den Begriff „Nauru-Paradox“ – einer ökonomisch extrem erfolgreichen Gesellschaft, die sprichwörtlich die Grundlagen ihres Erfolgs verzehrt und schon bald vor dem Nichts steht.
Teilnehmer einer Wanderung gegen Diabetes und für allgemeine Fitness rund um den Flughafen von Nauru. Lorrie Graham/AusAID, CC 2.0
So kam es dann auch. In den späten 1990ern versiegte der Vogelkot. Die Insel glich nun einer Mondlandschaft mit einem 150 bis 300 Meter breiten, bevölkerten Rand. Hätte man doch zumindest die Einnahmen der reichen Jahre zukunftssicher angelegt, doch davon konnte nicht die Rede sein. Ein Fonds, der die Einnahmen verwalten sollte, hat das Geld stattdessen größtenteils verbrannt. Man tagte regelmäßig zum Golfurlaub auf den Bahamas, Korruption war gang und gäbe. Zwar investierte man auch größere Summen in Luxusimmobilien auf der ganzen Welt, aber das meiste Geld ging in „Projekte“ wie ein Musical über das Liebesleben von Leonardo da Vinci, das nach wenigen Aufführungen in London wegen Erfolglosigkeit abgesetzt wurde. Der Fonds, der das Vermögen des Staates zukunftssicher anlegen sollte, machte horrende Verluste und ging schließlich bankrott, sodass die wertstabilen Luxusimmobilien an das US-Unternehmen General Electrics, das dem Fonds einen Kredit gegeben hatte, überschrieben werden mussten.
Bild: Robert Szymanski/shutterstock.com
Ende der 1990er-Jahre war Nauru also nicht nur eine von Übergewichtigen bewohnte Kraterlandschaft mit mehr Stück für Stück verrostenden Autos als Straßenmetern, sondern auch bankrott. Erinnert Sie das an etwas? Und was machte man? Man entdeckte, dass man auch mit Finanzkriminalität Geld verdienen kann, und hatte nun hinter den Cayman Islands pro Kopf die meisten Banken. Doch während die Cayman Islands sich auf die Steuerflüchtlinge des Westens spezialisiert hatten, wurde Nauru zum Geldwäsche-Dorado für die russische Mafia. Allein 1999 sollen nach Angaben der russischen Zentralbank 80 Milliarden US-Dollar fragwürdiger russischer Provenienz durch die Briefkastenfirmen naurischer Banken geflossen sein. Wieder mal hatten die Naurer ein Geschäftsmodell gefunden, dessen Ende vorprogrammiert war. UNO, OECD und die USA spielten mit den Muskeln und kappten Nauru vom Weltfinanzsystem ab, Nauru lenkte schließlich ein, und die Zeiten als pazifisches Geldwäscheparadies waren nun auch vorbei.
Doch schon hatten die Naurer eine neue Geschäftsidee. Kriege und Armut trieben damals jedes Jahr Zehntausende Flüchtlinge nach Australien, und die australische Regierung wollte einen Teil dieser Flüchtlinge gerne exterritorial internieren – Abschreckung, man kennt es, und was wäre abschreckender als ein Flüchtlingscamp ohne grundlegende Menschenrechte mitten in Naurus Kraterlandschaft? Gesagt, getan. Das australische Unternehmen Canstruct International vereinbarte mit der naurischen Regierung einen Deal, doch dieser Deal kam in der australischen Öffentlichkeit gar nicht gut an. In den ersten fünf Jahren kostete die Unterbringung von 107 Flüchtlingen – wohlgemerkt ohne jegliche humanitäre Standards – im naurischen Camp den Steuerzahler stolze 1,8 Milliarden US-Dollar – also vier Millionen Dollar pro Jahr und Flüchtling; unglaubliche Zahlen, die Verletzung von Menschenrechten Geflüchteter scheint deutlich lukrativer zu sein als deren Achtung.
Aber auch für Gefälligkeiten auf dem diplomatischen Parkett lässt sich Nauru gut bezahlen. Mal erkennt man Taiwan an und erhält dafür Geld von Taiwan, mal erkennt man es wieder ab und erhält dafür Geld von China. Mal tritt man der Internationalen Walfangkommission bei, tritt für eine Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs ein und kriegt dafür Geld von Japan. Und mal verkauft man Diplomatenpässe an nordkoreanische Überläufer und kriegt dafür Geld aus den USA. Von irgendwas muss man ja leben.
Bild: Robert Szymanski/shutterstock.com
Heute ist das einst zweitreichste Land der Welt eines der ärmsten Länder der Welt. Doch nicht nur das – das einstige Paradies gleicht mit seiner Kraterlandschaft heute den Kulissen eines postapokalyptischen Endzeitfilms. Und wenn die Berechnungen der Klimaforscher sich als korrekt erweisen, werden die noch bewohnten Ränder der Insel ohnehin bald überschwemmt sein. Doch die Naurer wären nicht die Naurer, wenn sie nicht schon neue geniale Ideen hätten, wie man Geld ins Land holen kann. So ist Nauru als Endlager für den australischen Atommüll im Gespräch, was ein schon fast tragikomisches Ende für dieses Eiland ohne jegliche Fortune wäre. Nauru ist aber auch ganz vorne dabei, wenn es um den Tiefseebergbau geht. Im erweiterten Seegebiet der Insel gibt es offenbar auch viele Tonnen von Manganknollen am Meeresboden. Deren industrielle Förderung in der Tiefsee wird zwar international kritisiert, da damit das größtenteils noch unbekannte Habitat Tiefsee wohl unwiederbringlich zerstört wird. Aber der Westen braucht seltene Erden, und die finden sich in den Manganknollen. Ein kanadisches Unternehmen hat schon einen Förderkontrakt mit Nauru unterschrieben, und wenn die Manganknollen abgebaut sind, findet Nauru sicher eine neue Geldquelle. Nach uns die Sintflut.
Ist die Insel aus Vogelkot – einst ein Paradies, das von fremden Mächten und auch seinen Bewohnern aus schierer Gier vernichtet wurde – eine Metapher für die moderne Welt? Leider ist es wohl so. Wer immer noch glaubt, der Mensch sei vernunftbegabt und könne verantwortungsvoll mit seiner Umwelt umgehen, der blicke auf Nauru. Sollten in vielen Millionen Jahren Außerirdische sich fragen, warum der einst so wunderschöne blaue Planet, der von seinen Bewohnern Erde genannt wurde, eine Kraterlandschaft ohne Zeichen höheren Lebens ist, könnte die Geschichte Naurus die Antworten auf viele Fragen liefern.
Titelbild: zelvan/shutterstock.com
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