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Titel: Anatol Lieven: „Wenn ihr nette Barbaren seid, lassen wir euch in Ruhe“
Datum: 1. August 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europapolitik, Interviews
Verantwortlich: Redaktion
Historiker in 100 Jahren werden denken, dass wir verrückt geworden sind, sagt Anatol Lieven über seine Berufskollegen voraus. Vor der Menschheit stehen weit wichtigere Probleme, die es zu lösen gilt, als die Frage „Wem gehört der Donbass?“, meint der langjährige britische Journalist und Autor von zahlreichen Büchern, insbesondere über Russland und dessen Nachbarn. Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King’s College London. Wir haben ihn zu der aktuellen geopolitischen Situation der Europäischen Union, zu Europas Sicherheit, zu den Gefahren für unseren Kontinent unter anderem gefragt. Das Gespräch mit Anatol Lieven führte Éva Péli Anfang Juli in Berlin.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Éva Péli: Welche Rolle spielen Polen und die baltischen Länder, die sich auf ihre historisch begründeten Sicherheitsinteressen gegenüber Russland berufen?
Anatol Lieven: Die Balten und Polen haben nicht nur ihre äußere Sicherheitspolitik, sondern bis zu einem gewissen Grad ihre gesamte Mentalität in einer sehr postkolonialen Art und Weise rund um die Angst und den Hass auf Russland strukturiert. Übrigens, die Idee war, wenn sie in der NATO und in der Europäischen Union sind, dann würden sie sich sicher fühlen und von der Angst vor Russland wegkommen. Nun ist das nicht eingetreten. Was die baltischen Staaten betrifft: Historisch gesehen ist es einigermaßen sogar verständlich. Aber was eine direkte russische Bedrohung Polens angeht, so gibt es sie in militärischer Hinsicht definitiv nicht. Niemand in Russland hat vor, in Polen einzumarschieren. Sogar der Gedanke ist verrückt.
Die Polen und die Balten haben sich der Idee verschrieben, einen riesigen Puffer gegen Russland östlich von ihnen zu schaffen – in der Ukraine, aber idealerweise auch in Belarus. Das hat dann bis zu einem gewissen Grad eine Sicherheitsbedrohung geschaffen, weil Russland das natürlich nicht dulden wird.
Auf der anderen Seite ist Polen der NATO vollkommen verpflichtet. Aber die Vereinigten Staaten, genauer gesagt die Republikanische Partei wird sich nach den Wahlen nicht mehr so stark für die NATO engagieren wie in der Vergangenheit – selbst wenn Trump nicht gewinnt. Innenpolitische Probleme, Sorgen um die Einwanderung und natürlich die vermeintliche Bedrohung durch China werden im Mittelpunkt stehen. Hinzu kommt, dass die polnische Lobby, so mächtig sie auch sein mag, mit der israelischen Lobby in den USA, die entschlossen ist, Washington im Nahen Osten engagiert zu halten, nicht zu vergleichen ist. Darüber sind jetzt alle besorgt.
In Polen, in Ungarn, auch in der Slowakei gibt es eine gewaltige Gegenbewegung gegen die Europäische Union beziehungsweise gegen die Zentralisierungsimpulse – das haben die letzten EU-Wahlen auch gezeigt – vor allem, wenn es um Kultur und Einwanderung geht.
Diese Länder befinden sich in einer etwas seltsamen Lage. Polen ist jetzt in Brüssel wieder sehr beliebt, obwohl die derzeitige Regierung ziemlich autoritär ist. Polen hat im Vergleich zu Ungarn immer einen kleinen Freifahrtschein bekommen. Ungarn wird als prorussisch gesehen, Polen als antirussisch, passt also. Jetzt, wo sich Frankreich und die USA als unzuverlässig herausstellen, drängt Polen Deutschland, seine zukünftige Sicherheit auf Polen und die baltischen Staaten zu stützen. Das scheint mir eine höchst fragwürdige Idee, aber es ist eine Idee, die im Umlauf ist.
Aber am Ende haben die Ergebnisse der Wahlen gezeigt und die Länder haben es auch sehr klar gesagt – außer die Balten, Polen und Macron, aber nicht die Franzosen –, dass wir nicht in der Ukraine mit den Polen kämpfen werden. Würden die Polen tatsächlich ihre Armee schicken, um in der Ukraine gegen die Russen zu kämpfen, wenn die Russen in großem Stil vorrücken? Ich weiß es nicht. In Polen gibt es offensichtlich eine Menge Widerstand dagegen. Ich denke, bevor Deutschland beschließt, dass Polen die Grundlage seiner eigenen Sicherheit ist, sollte es sich sehr, sehr ernsthaft fragen, was Polens Ambitionen und Fähigkeiten sind – und ob Polen die NATO tatsächlich in einen Krieg mit Russland hineinziehen könnte. Denn wenn Polen in der Ukraine in den Krieg zieht, werden die Russen Polen angreifen.
Wie schätzen Sie die Rolle der mittel- und osteuropäischen Staaten wie Ungarn und Slowakei ein? Sind sie nur die Bremsen in EU und NATO, oder könnten sie Brücken zwischen West und Ost sein?
Ich denke, das hängt in erster Linie davon ab, was in den USA passiert. Wenn Washington darauf drängt und es tatsächlich schafft, Frieden in der Ukraine herbeizuführen – der eingefrorene Konflikt wird in irgendeiner Form weitergehen –, wenn die eigentlichen Kämpfe aufhören, dann wird es die Möglichkeit geben, allmählich wieder Brücken nach Moskau aufzubauen. In diesem Fall könnten diese Länder eine wichtige Rolle spielen. Das gilt übrigens auch für Frankreich, wenn Le Pen im Jahr 2027 gewinnt. Selbst wenn in den USA die Demokraten im November gewinnen, wird es eine Art Bewegung in Richtung Frieden in der Ukraine geben. Aber dann wird es viel, viel langsamer und zögerlicher sein. Übrigens, wir wissen auch nicht, ob Trump in der Lage wäre, Frieden in der Ukraine zu schaffen.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán setzt sich für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine ein. Er warnt wie Serbiens Präsident Aleksander Vui vor einer weiteren Eskalation und einem großen Krieg in Europa. Wie bewerten Sie das?
Ich denke, er hat im Grunde genommen recht. Man muss im Auge behalten, dass der Krieg weitergeht. Und solange die NATO weiterhin in der Nähe von Russland patrouilliert – Flugzeuge an den russischen Grenzen, US-Geheimdienstsatelliten, Geheimdiensteinheiten, die zielgerichtete Informationen an die Ukrainer liefern –, besteht immer das Risiko; nicht nur, dass die Russen absichtlich Vergeltung üben, sondern dass es zu einem Unfall kommt. Wissen Sie, in Washington sind einige vernünftige Leute in der Biden-Administration sehr besorgt, dass ein US-amerikanisches Flugzeug oder ein militärisches Aufklärungsflugzeug von den Russen versehentlich abgeschossen werden könnte. Das würde eine immense Krise auslösen, eine ungewollte, äußerst gefährliche Krise.
Es gab einen Bericht, ich glaube von der Rand Corporation oder Princeton, in dem es darum ging, wie wir tatsächlich in einen Atomkrieg verwickelt werden könnten. Das Szenario beginnt mit dem versehentlichen Abschuss eines Verkehrsflugzeugs. Denken Sie daran, wie oft das in den letzten 40 Jahren passiert ist. Die USA haben es getan. Die Russen haben es getan. Die Iraner haben es getan. Diese Unfälle passieren.
Noch etwas anderes sollten wir im Auge behalten: diese für Russland kritische Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Ungarn könnte tatsächlich einen internationalen Neutralitätsvertrag für die Ukraine vorschlagen und eine Garantie für die Russen, dass die Ukraine niemals Mitglied der NATO sein wird. Warum? Weil für die Aufnahme eines neuen Landes in die NATO Einstimmigkeit erforderlich ist. Wir haben es gesehen, bei der Blockade der Türkei gegenüber Schweden.
Ungarn müsste von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen, unter allen Umständen. Natürlich ist es nur vorstellbar, solange diese Regierung an der Macht bleibt. Nun, das würde die ungarische Regierung in Westeuropa nicht populär machen, aber sie könnte es tun. Doch die gesamte EU-Bürokratie arbeitet gegen Ungarn. Ich denke, Ungarn wird am Ende gelähmt sein.
Ich muss noch etwas hinzufügen: Das Mantra des Westens ist: „Wir können der Ukraine nicht das Recht absprechen, um die NATO-Mitgliedschaft zu bitten.“ Jemand hat mal gesagt: „Ich habe das gute Recht, Amy Adams, die schöne amerikanische Schauspielerin, zu fragen, ob sie mich heiraten will. Und Amy Adams hat das gute Recht, nein zu sagen.“ Und ich stimme dem vollkommen zu.
Wer bedroht aus Ihrer Sicht Europa?
Wir haben völlig vergessen, dass Russland ein Teil des europäischen Kontinents ist. Leider hat sich in den letzten 40 Jahren die Vorstellung entwickelt, dass Europa aus der Europäischen Union und der NATO besteht und dass jeder, der nicht dazugehört, nicht wirklich europäisch ist. Das ist eine sehr gefährliche Vorstellung, auch weil sie dazu beigetragen hat, dass die Ukrainer und andere den absoluten Drang verspüren, der NATO und der Europäischen Union beizutreten.
Und, seien wir ehrlich, wenn Menschen in Westeuropa oder in europäischen Einrichtungen das Wort Europa verwenden, dann verwenden sie es als Synonym für Zivilisation. Das impliziert, dass, wenn man nicht in Europa ist, man nicht zivilisiert, sondern eine Art Halbbarbar ist. Einerseits fühlen sich Länder wie die Ukraine, oder zumindest ihre Eliten, durchaus befähigt, zivilisiert zu werden. Auf der anderen Seite wird den Russen, die niemals der Europäischen Union oder der NATO beitreten können, gesagt, ihr seid ewige, angeborene Barbaren. Geht und lebt irgendwo weit weg in der Dunkelheit. Und wenn ihr nette Barbaren seid und nicht mit uns streitet, lassen wir euch in Ruhe.
Aber zurück zu der Frage: Europa ist für mich ein mehrdeutiger Begriff. Aber was die Gefahr für Deutschland betrifft und im weiteren Sinne für Westeuropa in den nächsten Jahrzehnten, da bin ich mir sicher, dass es der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Länder sein wird. Die Migration nach Europa, gepaart mit der wirtschaftlichen Stagnation hier und der Auswirkung aller Bedingungen der Künstlichen Intelligenz auf die Beschäftigung werden zu einem radikalen Anstieg der internen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konflikte führen.
Das könnte dazu führen, dass Europa in autoritäre Systeme zurückfällt. Das bedeutet natürlich keinen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Die Europäische Union und die NATO haben viel zum Frieden in Europa beigetragen, aber das bedeutet nicht, dass, wenn sie verschwinden würden, die Deutschen sofort wieder in Frankreich einmarschieren würden, um Elsass-Lothringen zurückzubekommen. Oder denkt jemand in Deutschland daran, in Polen einzumarschieren, um Breslau und Stettin zurückzuerobern?
Aber wir haben gesehen, wie die Migration nach Europa die Kräfte in Europa radikalisiert hat – und ich denke, das wird sich noch verschlimmern. Das wird auch anderswo in der Welt zu enormen Erschütterungen führen, sowohl in Bezug auf die Migrationsströme als auch in Bezug auf die Auswirkungen auf die Lebensmittelsicherheit zum Beispiel. Wenn man sich den Temperaturanstieg in Südasien und die Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion ansieht, in einer Region, in dem fast ein Viertel der Weltbevölkerung lebt – das ist absolut erschreckend.
Deshalb ist es besonders traurig und in gewisser Weise lächerlich, dass gerade dann, wenn die Bedrohung durch den Klimawandel so offensichtlich wird – wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen von Klimaschutzmaßnahmen in Europa, aber auch wegen einiger wirklich erschreckender, dummer und arroganter Maßnahmen der deutschen und anderer Grüner –, es zu diesem enormen Rückschlag gegen Klimaschutzmaßnahmen in Europa kommt.
Die Europäische Union scheint im Zusammenhang mit dem Konflikt in und um die Ukraine zum ausführenden Organ der US-Interessen geworden zu sein. Ist sie zu schwach, um eigene Interessen zu artikulieren und durchzusetzen? Ist sie nur ein Bündel verschiedener nationaler Interessen?
Europa ist gespalten. Die Polen und Balten glauben zumindest, dass sie starke eigene nationale Interessen haben. Für viele andere Europäer war der Einmarsch der Russen in die Ukraine ein großer Schock. Die Menschen glaubten, dass so etwas nie wieder passieren könnte. Dies hat irgendwie ihr ganzes Weltbild auf den Kopf gestellt und dazu geführt, dass Russland und insbesondere Putin als außergewöhnliche Dämonen gesehen werden.
Die Europäische Union und bis zu einem gewissen Grad auch die NATO waren der Meinung, dass Russland und teilweise auch die Ukraine sich an die internen Gesetze der Europäischen Union halten sollten, ohne Mitglied der Europäischen Union und der NATO zu sein. Das gilt auch für Georgien. Aber was sagen die Russen dazu? Oder auch die Ukrainer in Bezug auf die Innenpolitik? Etwa: Schaut, da wir nicht in der NATO sind und wir niemals in die Europäische Union aufgenommen werden, auch wenn wir es wollten, werden wir nach anderen Regeln spielen. Wir werden nach US-amerikanischen Regeln spielen.
Nun, schauen Sie sich die US-Modelle an, wie die USA in der Vergangenheit schon oft ihre eigene Einflusssphäre in Mittelamerika gesichert haben – nicht unbedingt durch eine Invasion, obwohl es in der Vergangenheit oft der Fall war, sondern durch rücksichtslosen Druck, Unterwerfung, Wirtschaftsblockaden, Unterstützung von Militärputschen, Unterstützung von wirklich brutaler Unterdrückung von Bewegungen, die als antiamerikanisch angesehen werden.
Aber auch anderswo in der Welt war dieser Schock in gewisser Weise zwar verständlich, aber trotzdem töricht. Ich hatte ein interessantes Gespräch mit einem finnischen Diplomaten über Finnlands NATO-Beitritt. Ich sagte: Sie können nicht ernsthaft glauben, dass Russland Finnland bedrohen würde. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Russen Finnland nie bedroht. Während des Kalten Krieges hatte Helsinki ein gutes Abkommen mit Moskau, beide mussten Aspekte ihrer Außenpolitik einschränken. Seit dem Ende des Kalten Krieges hatten sie immer sehr gute Beziehungen. Im Moment gibt es keinen Terror, sicherlich keine territorialen Ansprüche von russischer Seite oder Forderungen nach Stützpunkten oder irgendetwas anderes.
Und er sagte, wissen Sie, in den meisten finnischen Außen- und Sicherheitsbehörden wissen wir das sehr gut. Und dieser Druck für die NATO kam nicht von uns, sondern von der finnischen Bevölkerung – offensichtlich aufgrund der finnischen Erfahrung in den 1940er-Jahren. Die Bevölkerung geriet in Panik und dachte, wenn die Russen das mit der Ukraine machen können, dann können sie das auch mit uns machen.
Das fließt natürlich in dieses Narrativ ein, dass die Russen eine Art wahnsinnigen, irrationalen Drang nach grenzenloser Expansion haben. Nun ja, die Russen verfolgen mit rücksichtslosen Mitteln ihre eigenen Interessen in bestimmten Gebieten – Interessen, die keinen Angriff auf Deutschland oder Finnland oder sogar Polen beinhalten. Aber natürlich ist die Ukraine was ganz anders. Belarus wäre ganz anders, wenn die NATO und die Europäische Union tatsächlich versuchen würden, Belarus zu übernehmen, so wie sie versucht haben, die Ukraine zu übernehmen. Dann hätten sie Krieg.
Ich denke, dass die Denkfabriken und die Expertengemeinschaften versagt haben, die Politiker und die breitere gebildete Öffentlichkeit aufzuklären, denn sie schrieben, dass das, was Russland 2014 getan hat, als Reaktion auf die Maidan-Revolution nicht vorhergesagt werden konnte. Das hätte als ihr Rücktrittsschreiben betrachtet werden sollen, denn es war völlig vorhersehbar – natürlich nicht in allen Einzelheiten, aber die Tatsache, dass Russland auf den Versuch, die gesamte Ukraine in das westliche Bündnis aufzunehmen, mit Gewalt reagieren würde, haben die Russen uns immer wieder gesagt. Ich sage das also nicht im Namen der westlichen Expertengemeinschaft im Allgemeinen, aber die Leute, die das sagten, wurden ignoriert und niedergeschrien.
Welchen Platz kann Europa in einer multipolaren Welt einnehmen? Der französische Anthropologe und Historiker Emmanuel Todd sagte, der Westen geht unter, das westliche Europa. Sehen Sie das auch so, oder würden Sie ihm widersprechen?
Da muss ich Emmanuel weitgehend zustimmen. Ich bin ziemlich schockiert über den Mangel an ernsthaftem, unabhängigem Denken, die Konformität, den moralischen Verfall. Es ist sehr deprimierend, dass dies im Bereich der internationalen Beziehungen und der Sicherheitsstudien, aber auch allgemeiner der Fall ist. Es scheint eine Art Leere in einem Großteil der europäischen Kultur und der politischen Kultur zu herrschen. Das hängt mit der wirtschaftlichen Stagnation zusammen.
Aber der Punkt ist, dass die Akademiker aus Indien, aus Pakistan und sogar aus China und aus Afrika und anderen Ländern zu uns kommen, um sich ausbilden zu lassen. Was die linke Ideologie betrifft, Karl Marx schrieb auf Deutsch. Natürlich entwickelten die indischen Marxisten oder anderswo in der Welt viele interessante eigene Ideen, aber es bestand kein Zweifel daran, dass der Mann ursprünglich aus Europa kam. Und so fühlte jeder insgeheim oder unbewusst, dass wir intellektuell und wirtschaftlich immer noch das Sagen hatten.
Wissen Sie, als ich meine Reisen mit einem britischen Pass begann, kam ich als Korrespondent der Londoner The Times in vielen Orten automatisch in Büros der leitenden Angestellten – heute nicht mehr. Und so gab es, glaube ich, eine allgemeine Abkehr vom Denken und vom Optimismus.
Ich hoffe, dass sich das ändert. Ich bin nicht so pessimistisch wie Emmanuel, aber ich habe auch den Eindruck, dass einer der Gründe, warum die Menschen dem Krieg in der Ukraine so viel Bedeutung beimessen, darin besteht, dass dies das Ende der liberalen internationalistischen Projekte bedeutet, das Ende der Idee von Europa sein würde: „Wenn WIR nicht gewinnen“ … Vor allem „wir“! Wir kämpfen ja nicht wirklich, oder?
Wissen Sie, wenn Europa wirklich noch zuversichtlich wäre, wenn wir voll an unsere eigenen Ideen und an die Zukunft glauben würden, würden wir den Krieg in der Ukraine nicht so sehen. Wir würden ihn als einen weiteren postkolonialen Konflikt sehen, der sich weit weg von uns abspielt. Wir sollten uns natürlich dafür interessieren, und wir sollten mit den Ukrainern sympathisieren. Aber wir sollten auch, wie in anderen Konflikten in der Welt, versuchen, die beiden Seiten zu versöhnen und einen Kompromissfrieden zu erreichen. Aber stattdessen gibt es diese emotionale Investition in diesen Krieg, die meiner Meinung nach von uns selbst ausgeht, nicht auf der Basis der geopolitischen oder sicherheitspolitischen Realität.
Wie könnte ein notwendiges gesamteuropäischen Sicherheitssystem einschließlich Russland nach dem Krieg aussehen? Ist ein solches möglich?
Nun, ich muss sagen, es ist möglich, weil mein Institut sich dafür seit sehr langer Zeit einsetzt. Ich denke, es ist notwendig. Ich glaube aber nicht, dass es im Moment möglich ist. Selbst wenn Frieden geschlossen wird, wird es ein langer Weg sein, weil sich auf beiden Seiten so viel Misstrauen und Hass aufgestaut hat.
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass wir innerhalb der nächsten ein oder zwei Generationen große Veränderungen erleben werden. Die Auswirkungen des Klimawandels, der Migration und des wirtschaftlichen Wandels – denken wir an die Künstliche Intelligenz –, die zum Teil durch interne und externe Veränderungen verursacht werden, werden die bestehenden Sicherheitsstrukturen und -einstellungen nach und nach irrelevant machen. An diesem Punkt werden viele Dinge möglich sein und sich ändern.
Es wird eine Menge Zeit brauchen. Aber wenn Trump oder der Nachfolger von Trump nach und nach das Interesse an Europa verlieren, wenn wir eine Le Pen-Regierung in Frankreich haben, der in vielem die gleichen Einstellungen zugrunde liegen wie Orbáns Regierung in Ungarn und der Regierung in Italien, dann könnte es zu einigen sehr radikalen Veränderungen kommen. Aber ich glaube nicht, dass sie sehr schnell eintreten werden, denn der institutionelle Druck dagegen wird enorm sein. Ich spreche als ausgebildeter Historiker, aber ich bin mir auch sicher, dass Sie als Ungarin auch ganz ähnlich empfinden.
Für mich als Historiker war die letzte wirklich glückliche Zeit die erste Hälfte von 1914. Wenn wir auf unsere Vorfahren vor 120 Jahren zurückschauen, auf die Eliten, auf die Institutionen in Europa, die Entscheidungen getroffen haben, können wir uns darauf einigen, dass sie zwar rational waren, was den Denkrahmen und die Institutionen angeht, die sie geerbt hatten. In Wirklichkeit waren sie verrückt. Sie haben die wirklichen Gefahren, die letztlich natürlich intern waren, die aber durch den Ersten Weltkrieg ermöglicht wurden, völlig übersehen, überbewertet und missverstanden. Und nebenbei bemerkt, das war kein großes Geheimnis.
Viele Mitglieder der russischen Eliten wussten natürlich, dass sie durch die Revolution hoffnungslos gefährdet waren. Aber sie haben sich durch eine ganze Reihe von katastrophalen Entscheidungen selbst in die Falle gelockt. Sie haben sich selbst in eine Lage gebracht, in der sie in einen Krieg geraten sind, der sie zerstört hat. Österreich das Gleiche, die Türkei. Es brauchte zwei Kriege in Deutschland …
Ich bin der festen Überzeugung, wenn die Historiker in 100 Jahren zurückblicken, sie würden sagen: „Wie konnten sie nur so dumm sein?“ Die wirklichen Bedrohungen für sie waren bereits offensichtlich. Und wir sehen in den Schlagzeilen, dass die regelbasierte Ordnung von der Second-Thomas-Untiefe im Südchinesischen Meer abhängt, nicht einmal von der ersten Thomas-Untiefe. Die zweite steht übrigens den halben Tag lang unter Wasser. In 100 Jahren werden all diese Orte im Südchinesischen Meer aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels unter Wasser stehen.
Sie werden zurückblicken und sagen: Wie konnten die US-Amerikaner und die Chinesen nur denken, dass dies irgendeine Art von Priorität sei? Wie konnten die Europäer – oder die Russen – der Ansicht sein, dass die Frage, wer den Donbass beherrscht, irgendeine Priorität hat? Ich will nicht sagen, dass die Russen unschuldig sind. Aber die Russen sind mit viel Wasser und unbegrenzten Mengen an Nahrungsmitteln und Land langfristig in einer stärkeren Position als wir.
Die Historiker werden denken, dass wir verrückt geworden sind, so wie wir denken, dass unsere Vorfahren 1914 verrückt waren. Worauf es tatsächlich ankommt: Entscheidungen über unsere Lebensmittel.
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