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Titel: Russische Luftangriffe zielten auf ukrainische Schwerindustrie

Datum: 29. Juli 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege
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Die Zerstörung und Beschädigung ukrainischer Kraftwerke zwischen März und Juni durch russische Luftangriffe wurden in westlichen Medien als Angriff auf die zivile Infrastruktur des Landes dargestellt. Teilweise wird davon berichtet, dass viele Ukrainer im nächsten Winter frieren müssten. Dass mit den Angriffen die ukrainische Eisen- und Stahlindustrie und folglich auch die Rüstungsindustrie massiv beeinträchtigt wurden, ist hingegen kaum zu erfahren. Von Karsten Montag.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zwischen März und Juni dieses Jahres sind eine ganze Reihe von Kohle- und Wasserkraftwerken zur Stromerzeugung in der Ukraine durch russische Luftangriffe beschädigt oder zerstört worden. Für einen maximalen Verbrauch elektrischer Energie von 18 Gigawatt stehen derzeit nur noch neun Gigawatt zur Verfügung. In deutschen Medien wird zu den Angriffen fast ausschließlich von der Zerstörung von „Wärmekraftwerken“ berichtet. Dies legt die Assoziation nahe, dass damit die Wärmeversorgung der Ukraine betroffen sei und viele Ukrainer im kommenden Winter frieren werden.

Die Bezeichnung „Wärmekraftwerk“ ist jedoch der Oberbegriff für Kraftwerke, die aus thermischer Energie elektrischen Strom produzieren. Darunter fallen unter anderem Kohle- und Gaskraftwerke. Offensichtlich aus technischer Unkenntnis unterscheidet die Deutsche Welle zwischen Strom- und Wärmekraftwerken und zitiert einen Ukraine-Experten, der befürchtet, es werde im Winter zu Fluchtbewegungen in der Ukraine aufgrund mangelnder Wärmeversorgung kommen. Das Magazin Der SPIEGEL meldet sogar, die Ukraine habe „bis zu 80 Prozent der Kapazität zur Wärmeerzeugung verloren“.

Die Ukrainer heizen vornehmlich mit Gas

Tatsächlich ist davon auszugehen, dass ein Teil der Wärmekraftwerke nicht nur ausschließlich elektrischen Strom produziert, sondern die nicht zur Stromerzeugung verwendbare Abwärme über Fernwärme zur Beheizung von Häusern und Wohnungen genutzt wird. Auch der kurzzeitige Ausfall von zentralen Heizkraftwerken, die aus der Verbrennung von Gas Wärme erzeugen und die zur Steuerung elektrische Energie benötigen, ist aufgrund mangelnder Stromversorgung zu befürchten. Deren Strombedarf kann allerdings mit Notstromaggregaten bereitgestellt werden. Bei genauerer Recherche stellt sich am Ende jedoch heraus, dass ein Großteil der ukrainischen Haushalte zur Beheizung Gas bezieht.

So gibt der staatliche ukrainische Energiekonzern Naftogaz auf seiner Webseite an, 9,6 Millionen Haushalte mit Gas zu versorgen. Laut Wikipedia wurden 2007 in der Ukraine knapp 17 Millionen Haushalte bei circa 42 Millionen Einwohnern verzeichnet. Mitte 2023 schätzte die ukrainische National Academy of Science die Anzahl der Einwohner des von Kiew kontrollierten Gebiets auf 28 Millionen. Dies entspricht einer Anzahl von ungefähr 11,4 Millionen Haushalten. 84 Prozent der Haushalte unter der Kontrolle Kiews werden also direkt mit Gas versorgt. Zieht man in Betracht, dass in den ukrainischen Städten viele Häuser mithilfe von zentralen Gasheizkraftwerken beheizt werden und auf dem Land noch Holz und Kohle verwendet werden, dürfte die Wärmeversorgung der ukrainischen Bevölkerung im kommenden Winter größtenteils nicht gefährdet sein.

Hauptsächlich Kohle- und Wasserkraftwerke zerstört

Ein Bericht des US-Forschungszentrums Wilson Center vom Mai gibt an, dass alle mit fossilen Brennstoffen betriebenen Wärmekraftwerke sowie zwei Wasserkraftwerke in den von Kiew kontrollierten Gebieten durch die russischen Luftangriffe entweder zerstört oder schwer beschädigt worden sind. Eine Analyse der von der polnischen Regierung betriebenen Denkfabrik Centre for Eastern Studies geht davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der Kapazität der Wärmekraftwerke sowie 45 Prozent der Kapazität der Wasserkraftwerke bei den Angriffen verlorengegangen sind.

Abbildung 1: Kapazität der ukrainischen Kraftwerke unter Kontrolle Kiews in Megawatt vor und nach den russischen Luftangriffen, Datenquellen: Wikipedia, Centre for Eastern Studies

Als Folge der Zerstörungen und Beschädigungen müssen die ukrainischen Bürger regelmäßige Stromausfälle hinnehmen. Die polnische Denkfabrik vermutet, dass im nächsten Winter mit täglichen Ausfällen von einigen bis hin zu 20 Stunden zu rechnen ist.

Stromlieferungen aus der EU können die Ausfälle nicht kompensieren

Zwar ist das ukrainische Stromnetz seit März 2022 an das Netz der Europäischen Union angeschlossen. Allerdings liegt die Übertragungskapazität derzeit bei lediglich 1,7 Gigawatt. Auch der Plan, die Kapazität auf 2,2 Gigawatt auszubauen, reicht nicht aus, um die fehlenden neun Gigawatt zu ersetzen. Daten des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber zeigen, dass der Nettoimport elektrischer Energie aus anderen europäischen Staaten in die Ukraine seit April 2024 deutlich gestiegen ist und zum Teil bereits die maximale Kapazität von 1,7 Gigawatt erreicht.

Abbildung 2: Nettoimport Elektrizität Ukraine in Megawattstunden pro Stunde, Datenquelle: Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber

Das Ziel der russischen Angriffe war die ukrainische Eisen- und Stahlproduktion sowie die ukrainische Rüstungsindustrie

Das britische Forschungsinstitut Royal United Services Institute for Defence and Security Studies stellte eine „eindrucksvolle Genauigkeit“ der russischen Luftangriffe fest. Da ukrainische Gasheizkraftwerke nicht Ziel der Raketen waren, kann die Wärmeversorgung der Bevölkerung als Grund für die Angriffe ausgeschlossen werden.

Größter einzelner Energieverbraucher der Ukraine ist die Eisen- und Stahlindustrie. 2007 war die Ukraine der weltweit achtgrößte Produzent und der drittgrößte Exporteur von Eisen und Stahl. Auch die davon abhängige Rüstungsindustrie ist einer der größten Arbeitgeber des Landes. 2012 war die Ukraine der weltweit viertgrößte Waffenexporteur. Unter den Rüstungsgütern finden sich insbesondere gepanzerte Fahrzeuge und Schiffe.

Der Wegfall des Donbass 2022 hat der Eisen- und Stahlproduktion in der von Kiew kontrollierten Ukraine bereits einen schweren Schlag versetzt, da 90 Prozent der nationalen Kohleförderung von dort stammte. Zudem war Russland bis zu Beginn des Krieges der größte Kohlelieferant des Landes. Aus Kohle gewonnener Koks ist ein wichtiger Energieträger bei der Verhüttung von Eisen. Zudem ist das Asow-Stahl-Hüttenwerk in Mariupol weggefallen. Die unter der Kontrolle Kiews verbliebenen Eisen- und Stahlwerke produzieren nur noch weniger als ein Drittel im Vergleich zur Zeit vor Kriegsbeginn sowie deutlich weniger als ein Fünftel im Vergleich zur Zeit vor dem Beginn des Bürgerkriegs 2014.

Abbildung 3: Ukrainische Stahlproduktion in Tonnen, Datenquelle: Statista

Nach Angaben der ukrainischen Denkfabrik GMK Center sind von den ursprünglich 13 Hochöfen der Ukraine nur noch fünf in Betrieb. Hinzu kommen zwei Lichtbogenöfen, die mit elektrischer Energie betrieben werden und bei der Stahlerzeugung zur Verwendung kommen. Trotz der Einschränkungen konnte die ukrainische Eisen- und Stahlproduktion seit Kriegsbeginn wieder deutlich gesteigert werden.

Abbildung 4: Produktion von Roheisen, Rohstahl und gewalztem Stahl in der Ukraine in Tonnen, Datenquelle: GMK Center)

Welche Auswirkungen die Zerstörung der ukrainischen Kraftwerke auf die Eisen- und Stahlproduktion haben werden, lässt sich mangels öffentlich zur Verfügung gestellter Daten derzeit noch nicht genau beziffern. Doch GMK Center meldete Anfang Juli, dass der Export von Eisenerz aufgrund deutlich gestiegener Strompreise in der zweiten Jahreshälfte wahrscheinlich um 2,7 Millionen Tonnen im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Jahres fallen werde. Die hohen Preise seien auf die Einfuhr von elektrischer Energie aus der EU zurückzuführen.

Aus einer weiteren Meldung der ukrainischen Denkfabrik geht hervor, dass der Import elektrischer Energie dazu geführt habe, dass die Ukraine mittlerweile die höchsten Industriestrompreise in Europa zu verzeichnen hätte. Dies würde die Wettbewerbsfähigkeit des Landes reduzieren und „viele Bereiche der Stahlindustrie massiv treffen“. Der Anteil der Stromkosten bei der Förderung von Kohle betrage 32 Prozent, bei der Produktion von Eisenerz bis zu 60 Prozent und bei der Stahlherstellung 25 Prozent.

Fazit

Die russischen Luftangriffe auf ukrainische Kraftwerke zwischen März und Juni waren offensichtlich ein Schlag gegen die Eisen- und Stahl- sowie gegen die Rüstungsindustrie des Landes. Hierüber erfährt man in westlichen Medien fast überhaupt nichts. Stattdessen wird das Narrativ verbreitet, die Angriffe galten der zivilen Infrastruktur und damit der Zivilbevölkerung des Landes. Es steht außer Frage, dass diese unter den Ausfällen der Versorgung mit elektrischer Energie und Wärme zu leiden hat. Sie war jedoch offenbar nicht das primäre Ziel des Angriffs. Des Weiteren verdienen neben der US-amerikanischen und der europäischen Rüstungsindustrie auch die europäischen Energieerzeuger derzeit am Krieg in der Ukraine mit.

Titelbild: Cloudy Design/shutterstock.com


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