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Titel: „Kokain ist ein Stoff, mit dem die Mafia ihre Netzwerke knüpft“

Datum: 26. Juli 2024 um 14:36 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Interviews
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Der Kampf gegen die Mafia wird hierzulande eher mit weichen Bandagen geführt. Solange die Verbrecherclans nicht wild um sich ballern, haben sie durch Polizei und Justiz wenig zu fürchten. Der Journalist und Aktivist Sandro Mattioli hält das für hochgefährlich. Die Organisierte Kriminalität aus bella Italia sei drauf und dran, wichtige Sphären der deutschen Gesellschaft zu unterwandern – dank laxer Gesetze und überforderter Ermittler, warnt er im Interview mit den NachDenkSeiten. Sein neuestes Buch legt davon eindrücklich Zeugnis ab. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Ralf Wurzbacher: Herr Mattioli, Ihr neues Buch heißt „Germafia. Wie die Mafia Deutschland übernimmt.“ Tragen Sie mit dem Titel nicht doch ein bisschen dick auf?

Sandro Mattioli: Der Titel ist ohne Frage zugespitzt. Wir sind natürlich noch nicht an dem Punkt einer totalen Übernahme der BRD durch die Mafia angelangt, und das ist auch gar nicht ihr Interesse, sie sucht vielmehr Synergien. Aber es gibt vielfältige Anzeichen dafür, dass sich die ‘Ndrangheta in viele gesellschaftliche Bereiche schleicht, wo man sie nicht vermuten würde. Tatsächlich ist das auch eines ihrer Erfolgsgeheimnisse: Die Mafia in Deutschland agiert praktisch komplett im Verborgenen, sie fällt einfach nicht auf – und das macht sie umso gefährlicher. Wenn man aber gräbt, findet man viele Geschichten, die man erzählen kann. Deshalb habe ich „Germafia“ geschrieben.

Mafia ist nicht gleich Mafia. Nach Ihren Recherchen ist hierzulande vor allem die kalabrische ‘Ndrangheta aktiv, wogegen die weithin bekannteren Zweige – die sizilianische Cosa Nostra und die neapolitanische Camorra – keine größere Rolle spielen. Sie sprachen von „Bereichen“, in die die ‘Ndrangheta vorgedrungen ist. Welche meinen Sie?

Beispielsweise erzähle ich in meinem Buch, wie die ‘Ndrangheta hohe Bankfunktionäre von relevanten deutschen Geldinstituten anwirbt, um sie für ihre Geschäfte einzuspannen. Das soll auch die Deutsche Bank betreffen. Ich bin der Frage nachgegangen, ob der FC Bayern München einen Mafioso in den Reihen hat, der Kontakte zu wichtigen Personen des Vereins unterhält. Die Vernetzung der ‘Ndrangheta zeigt sich auf praktisch allen Ebenen: Es gibt Verbindungen zu Politikern, zu Unternehmen, zu Medienleuten.

Hervor sticht insbesondere der Name Günther Oettinger, ehemals Ministerpräsident von Baden-Württemberg, später EU-Kommissar in Brüssel. Mit ihm hätte sich die Mafia in der Tat einen dicken Fisch geangelt, wobei das nicht bewiesen ist. Was ist der Kenntnisstand dazu?

Von ihm ist bekannt, dass er eng mit Mario L. befreundet war, auch wenn er sich inzwischen von ihm distanziert. L. war als Gastronom in der Stuttgarter ‘Ndrangheta-Szene eine zentrale Figur. Bei Polizeiermittlungen war schon vor vielen Jahren herausgekommen, dass Oettinger in einem seiner Lokale verkehrte und L. Veranstaltungen der örtlichen CDU sponserte. Das alles ist unbestritten. Die Frage ist nur: Warum gab es diese Kontakte und mit welchen Konsequenzen? Das aber stand damals leider nicht im Fokus eines Untersuchungsausschusses, der im baden-württembergischen Landtag eingesetzt worden war. Grundsätzlich steht der Fall Oettinger zu sehr im Fokus, es sollte eher um die Strategie der Clans dahinter gehen.

Dennoch nährt der Fall den Verdacht, wonach der lange Arm der Mafia sehr weit nach oben reichen könnte. Gibt es dafür weitere Anhaltspunkte?

Der wesentliche Anhaltspunkt dafür ist, dass es erklärtes Ziel der ‘Ndrangheta ist, sich mit Leuten außerhalb der kriminellen Szene zu verknüpfen, die für sie von Nutzen sein können. Diese Strategie verfolgt die Organisation schon seit Ende der 1960er-Jahre, und seither hat man diese immer weiter perfektioniert. Das schließt natürlich auch den Aufbau von Kontakten zu Politikern ein, nach Möglichkeit zu solchen in hoher Verantwortung.

Aktuell läuft im thüringischen Landtag ein Untersuchungsausschuss, der kurz vor dem Abschluss steht. Auch der liefert klare Hinweise, dass dort tätige ‘Ndranghetisti erfolgreich Kontakte in die Kommunal- und Landespolitik hergestellt haben. In den 1990er-Jahren war ein einschlägiges Restaurant in Erfurt Ziel einer polizeilichen Razzia, noch ehe das Lokal geöffnet hatte. Drinnen saßen unter anderem der damalige Regierungschef Bernhard Vogel und dessen Innenminister Richard Dewes bei einer Besprechung. Aber auch hier ist nicht geklärt, welchen Zwecken die Kontakte dienten.

Was vermuten Sie?

Ich habe hier keine Vermutungen anzustellen, möglicherweise wissen die Betroffenen gar nicht unbedingt, dass sie es mit ‘Ndranghetisti zu tun haben. Fakt aber ist, dass in Thüringen eigentlich erfolgreiche Ermittlungen eingestellt worden sind, und Fakt ist auch, dass die Mafiosi und mutmaßlichen Mafiosi, die sich in den 1990er-Jahren dort ansiedelten, erfolgreich Kontakte zu gesellschaftlich höheren Schichten aufbauten.

Losgelöst von dem konkreten Fall in Thüringen: Was wir hier in Deutschland unterschätzen, ist die Rolle, die Kokain bei der Erschließung von Kontakten spielt. Drogen werden quer durch die Gesellschaft konsumiert, aber hochgestellte Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft können es sich einfach nicht leisten, ihren Stoff bei Kleindealern im Stadtpark zu beschaffen. Sie brauchen ein Höchstmaß an Diskretion, und daraus entstehen mithin Abhängigkeiten, die über die körperlichen hinausgehen. Um es so zu sagen: Kokain ist ein Stoff, mit dem die Mafia ihre Netzwerke knüpft.

Es hat den Anschein, also hätte die ‘Ndrangheta vor allem in Baden-Württemberg Fuß gefasst. Wie erklärt sich das?

In Baden-Württemberg gibt es in der Tat viele Mafiosi, da muss man unbedingt hinschauen. Auch als Journalist ist das eine dankbare Situation, es gibt Stoff für viele Geschichten. Aber das bedeutet nicht, dass die Situation in anderen Bundesländern weniger dramatisch ist. Das Bewusstsein dafür ist nur in den Regionen mit einer ausgeprägten Historie der Arbeitsmigration höher als anderswo, wo die Mafiosi später kamen. Die Arbeitsmigration war wichtig für die italienischen Mafia-Organisationen, denn so fanden die Kriminellen bei ihrem Wechsel nach Deutschland Andockpunkte vor Ort vor. Sie haben dann schnell festgestellt, dass man in Deutschland gutes Geld verdienen kann, vor allem mit dem Betrieb von Restaurants.

Und man stellte fest, dass sich die Deutschen um das Thema Mafia nicht sonderlich kümmern. So wurde das Land zum Auffangbecken für Mafiosi, die hier abtauchen konnten, um sich der italienischen Justiz zu entziehen oder vor verfeindeten Mafia-Clans in Sicherheit zu bringen. Deutschland war seinerzeit auf den Einfall der organisierten Kriminalität einfach nicht vorbereitet, was sich noch entschuldigen lässt. Dass der Fahndungsdruck auch in den Jahrzehnten danach kaum größer wurde, ist aber nicht mehr verzeihlich. Man ist weit davon entfernt, die Strukturen zu durchschauen, die Unterschiede zwischen den großen Mafia-Zweigen zu verstehen oder zu begreifen, wie weit die Organisierte Kriminalität schon in die Gesellschaft eingesickert ist. Es wirkt so, als wäre man im Blindflug unterwegs und nicht weiter besorgt, solange die Mafia nicht wild um sich schießt oder Leute in die Luft sprengt.

Sie sprachen die italienischen Restaurants an. Die fungieren laut Ihren Recherchen in vielen Fällen als Geldwaschanlagen.

Das trifft zwar zu, aber es wäre falsch, die Mafia-Aktivitäten auf diese Branche zu reduzieren. Das ist lediglich der am stärksten sichtbare Zweig. Eigentlich geht es um ganz andere Dimensionen, und da spielt sich offenbar vieles im Finanzwesen ab. Ich erzähle, wie Leute des Bundeskriminalamts Hinweise erhielten, dass die ‘Ndrangheta offenbar sogar eine eigene Bank in Deutschland besitze …

… aber nicht etwa die Deutsche Bank, über die sie ebenfalls in Ihrem Buch schreiben.

Nein, absolut nicht. Gemäß der betreffenden Zeugenaussage soll es sich zwar um eine Vollbank handeln, die alle möglichen Dienstleistungen offeriert, die den Geschäften der ‘Ndrangheta dienlich sind. Aber nichts deutet darauf hin, dass sich das Institut in der Größenordnung der Deutschen Bank bewegt.

Wir waren beim Thema Geldwäsche …

Ja, und auch dabei befassen sich deutsche Ermittler bevorzugt mit vergleichsweise kleinteiligen Fällen, die sich leicht aufklären lassen. Komplexere, intelligentere Operationen stehen eher nicht im Fokus, was fatal ist, weil die ‘Ndrangheta mit hoher Intelligenz operiert und es nicht dabei belässt, ein paar Drogengelder in einer Pizzeria zu waschen. Vielmehr geht es um hochkomplexe Finanztransaktionen, die aufzudecken große Kapazitäten an Expertise und Personal erfordern würde. Aber daran fehlt es hierzulande.

Auch am nötigen Aufklärungseifer? Ihr Buch schildert an einer Stelle, wie deutsche Ermittler auf einen Schlag mehrere wichtige Kronzeugen aus Italien zum Verhör versammelt hatten. Das war dann allerdings zeitlich äußerst kurz bemessen.

Der Eindruck drängt sich häufig auf. Im Fall von Stuttgart hatte die Staatsanwaltschaft damals neun Kronzeugen geladen, was an sich positiv ist. Die Vernehmung von ihnen allen dauerte aber nur drei Stunden, was angesichts der Größe der Gelegenheit ein Witz ist. Zudem gibt es Hinweise, dass bestimmte Fragen nicht zugelassen wurden. Warum passiert so etwas? Das ist die große Frage.

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft fiel in der Vergangenheit nicht mit besonderem Ermittlungseifer auf, eher im Gegenteil, seit es den Untersuchungsausschuss zu den Kontakten zwischen Oettinger und Mario L. gegeben hatte. Er hatte ja zum Ziel, die Rechtmäßigkeit von Ermittlungsmaßnahmen zu überprüfen und nicht Oettingers Kontakte zur Mafia. In Thüringen, wo es ebenfalls starke Mafia-Niederlassungen gibt, mag es andere Gründe geben, warum die Dinge so schleppend laufen. In der Gesamtsicht ist jedoch augenfällig, dass wir die Gefährlichkeit der italienischen Mafia, insbesondere der ‘Ndrangheta in unserem Land unterschätzen. Gäbe es diese Unterschätzung nicht, wäre auch der Druck viel größer, etwas unternehmen zu müssen.

Ihr Buch liefert reichlich Nahrung für den Verdacht, dass das mit dem Unterschätzen ein Stück weit System hat. Oder führt das zu weit?

Ich lehne Verschwörungstheorien ab, sie helfen bei komplexen Gemengelagen nicht weiter. Es gibt aber systemische Gründe für die Unterschätzung, etwa eine völlig unzureichende Erfassung von Mafia-Aktivitäten, gerade wenn sich Mafiosi legal betätigen, und ein untauglicher Paragraph 129. Er regelt eigentlich die Verfolgung der Organisierten Kriminalität, ist aber den Herausforderungen nicht gewachsen. Da hilft nur eine Analyse, die das Ganze detailliert in den Blick nimmt. Mit Sicherheit lässt sich aber jetzt schon sagen: Die ‘Ndrangheta ist sehr gut im Netzwerken, und diese Strategie geht auf mit dem Ergebnis, dass nicht in dem Maße gegen sie ermittelt wird, wie es nötig wäre.

Ein Beispiel: Ein Mann aus dem Geldfälschermilieu sagte mir, er habe vor über zehn Jahren Hinweise an das Landeskriminalamt von Baden-Württemberg zu einer Druckerei weitergeben wollen, bei der besagter Mario L. eine Rolle spielen solle. Im Endeffekt zeigte das LKA trotz wertiger Informationen kaum Interesse an dem Fall. Im Umfeld dieser Figur treten viele solcher Merkwürdigkeiten auf, und es gibt auch noch andere Mafia-Verdächtige, die durchaus mit mehr Nachdruck betrachtet werden könnten.

Meine Aufgabe ist es, auf Missstände hinzuweisen. Es gibt sicher auch lobenswerte Beispiele, aber ich höre oft von ähnlichen Beißhemmungen aus anderen Gegenden, etwa aus Bayern. Wenn prominente Restaurants betroffen sind, mag es schwerer sein, Ermittlungen zu einem Ende zu bringen. Für all das braucht es aber keinen Masterplan der Mafia, in den die Eliten der deutschen Politik, Wirtschaft und Justiz eingebunden sein müssen.

Ihr Buch beleuchtet einen jahrzehntelangen Zeitraum mit einer langen Liste an Fällen, in denen deutsche Fahnder ziemlich nachsichtig mit der Mafia umgesprungen sind. Haben Sie das Gefühl, die Verantwortlichen in Politik und Justiz werden sich der Gefahren langsam bewusster?

Der Kampf gegen die Mafia hängt stark vom Einsatz von Einzelpersonen ab. Je mehr Einzelpersonen sich für das Thema interessieren beziehungsweise in die Lage versetzt werden, sich dafür zu interessieren, desto besser stehen die Aussichten, dass sich etwas zum Besseren verändert. Ich arbeite seit 2009 zur Mafia, davon zwölf Jahre als Vorsitzender des Berliner Vereins „mafianeindanke“. Ich habe den Eindruck, dass in dieser Zeit ein Umdenken und eine Sensibilisierung stattgefunden haben und die Zeiten einer weitgehenden Ignoranz fürs Erste überwunden sind. Aber wir sind als Gesellschaft noch weit davon entfernt, eine Vorstellung zu haben, was Mafia-Kriminalität wirklich bedeutet, welche Ausmaße sie hat und wohin sie führen kann. Es ist noch sehr viel zu tun.

Titelbild: Westend Verlag

Sandro Mattioli: Germafia. Wie die Mafia Deutschland übernimmt. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2024, Taschenbuch, 368 Seiten, 24 Euro


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