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Titel: „Die Ukraine war von Anfang an eine geopolitische Figur auf dem weltpolitischen Schachbrett“
Datum: 24. Juli 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Ein Interview mit Günter Verheugen und Petra Erler vom 10. Juli 2024 zu ihrem neuen Buch „Der lange Weg zum Krieg“, die große Mitschuld des Westens am Ukraine-Krieg, die von den USA und Großbritannien sabotierten Friedensverhandlungen in Istanbul, die große Gefahr eines nuklearen Armageddon und die Geschichte der Entspannungspolitik. Das Gespräch führte Michael Holmes.
In ihrem fesselnden Stück „Der lange Weg zum Krieg” liefern Günter Verheugen und Petra Erler eine faktenreiche und scharfe Analyse der Ursprünge des Ukraine-Konflikts und erheben schwere Vorwürfe gegen die westliche Außenpolitik. Sie argumentieren überzeugend, dass der Westen wesentlich zur Eskalation des Konflikts beigetragen hat, indem seit den 1990er-Jahren eine erfolgreiche Entspannungspolitik zunehmend durch Konfrontation und Machtstreben ersetzt wurde. Sie zeigen, wie sich die NATO-Ostexpansion, die Kündigung bedeutender Rüstungsabkommen und die Hochrüstung der Ukraine zu einer ernsten Bedrohung der russischen Sicherheitsinteressen entwickelten. Ausführlich legen Sie dar, wie der Ukraine-Krieg mit diplomatischen Mitteln hätte verhindert werden können. Das Buch entlarvt die Kriegspropaganda und ruft leidenschaftlich zu einer Rückkehr zu Dialogbereitschaft und vertrauensbildenden Maßnahmen auf, um den Weg zu einer nachhaltigen europäischen Sicherheitsarchitektur zu ebnen, welche Russland und die Ukraine einschließt.
Der Europa- und Außenpolitikexperte Günter Verheugen, ehemaliger Generalsekretär der FDP und nach seinem Wechsel zur SPD von 1983 bis 1999 Bundestagsabgeordneter sowie außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, leistete bedeutende Beiträge zur Entspannungspolitik und europäischen Integration. In den 1970er- und 1980er-Jahren arbeitete er eng mit Egon Bahr im Bundeskanzleramt zusammen und spielte eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der neuen Ostpolitik, die darauf abzielte, die Spannungen zwischen Ost und West zu verringern und den Dialog zu fördern. Seine diplomatischen Bemühungen trugen wesentlich zum Aufbau von Vertrauen und Verständigung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Ostblock bei. Von 1999 bis 2010 war Verheugen Mitglied der Europäischen Kommission, zunächst als Kommissar für Erweiterung und später als Kommissar für Unternehmen und Industrie. Während dieser Zeit war er maßgeblich an der EU-Osterweiterung 2004 beteiligt, die zur Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten führte.
Petra Erler ist eine angesehene Politikwissenschaftlerin und EU-Expertin, die bedeutende Beiträge zur europäischen Integration und Verwaltung geleistet hat. 1990 war sie nach den ersten freien Wahlen in der DDR Staatssekretärin für Europäische Angelegenheiten. Erler arbeitete eng mit ihrem Ehemann Günter Verheugen in seiner Rolle als EU-Kommissar für Erweiterung und Industriepolitik zusammen, indem sie ihre Expertise in politischen und administrativen Fragen einbrachte. Seit 2010 ist sie Geschäftsführerin einer Strategieberatungsfirma in Potsdam.
Michael Holmes: Herr Verheugen, Frau Erler, Sie haben ein neues Buch geschrieben: „Der lange Weg zum Krieg”. Ich habe es mit großem Vergnügen und viel Gewinn gelesen. Ich möchte das Buch wirklich jedem unserer Zuhörer und Zuschauer ans Herz legen. In dem Buch schildern sie eben den langen Weg in den Krieg in der Ukraine. Sie schildern den Konflikt, der zunächst noch sehr kalt war und dann immer heißer wurde, zwischen dem Westen und Russland.
Sie schildern den Krieg als einen Stellvertreterkrieg. Dieser lange Weg ist recht komplex, und deswegen kann man oft Menschen, die nicht so viel Zeit haben für Politik, kaum übel nehmen, dass sie nicht verstehen, wenn wir sagen: der Westen trägt viel Mitschuld. Wer hat schon Zeit, sich mit den Details zu beschäftigen, mit der NATO-Osterweiterung und dann dem Bürgerkrieg in der Ukraine und den Waffenabkommen zwischen Russland – früher der Sowjetunion – und dem Westen. Genau das tun sie aber sehr detailliert in dem Buch, und wenn man es konzentriert liest, merkt man auch, warum es so wichtig ist. Denn es zeichnet sich ein Gesamtbild ab, das ich sehr überzeugend finde. Das Gesamtbild ergibt doch, dass der Westen Russland sehr schwer und auf vielfältige Weise provoziert hat. Das rechtfertigt nicht den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, das machen sie auch vollkommen klar in dem Buch.
Dennoch kann man wohl sagen, dass andere Großmächte in einer vergleichbaren Situation so oder ähnlich reagiert hätten wie Russland. Das gilt ganz bestimmt für die USA, und das gilt wohl auch für europäische Großmächte. Denn die Politik der NATO – und da geht es nicht nur um die NATO-Osterweiterung – wurde zunehmend zu einer Bedrohung der existentiellen Sicherheit Russlands. Zumindest wurde es so wahrgenommen. Ich möchte Ihnen überlassen, wo sie anfangen und was sie für am wichtigsten halten. Ich glaube, wir sollten unbedingt über die Istanbul-Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sprechen. Sie zeigen in dem Buch – und ich glaube, inzwischen sind die Belege sehr gut, dass wir da einem Friedensschluss, der für die Ukraine auch akzeptabel gewesen wäre, sehr nahe gekommen und da wirklich eine Chance auf Frieden verpasst haben. Aber es war nicht die einzige, nicht die letzte und bestimmt nicht die erste Chance auf Frieden.
Günter Verheugen: Sie haben das jetzt alles schon wunderbar dargestellt. Es geht uns darum, klarzustellen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Anlass eines Krieges und seinen Ursachen. Der Anlass ist ganz klar: Die russische Politik war Ende 2021 Anfang 2022 zu dem Ergebnis gekommen, dass lebensnotwendige, unverzichtbare russische Sicherheitsinteressen mit diplomatischen Mitteln nicht durchsetzbar waren, und dann hat Russland zum völkerrechtswidrigen Krieg gegriffen. Aber die Ursache ist eine ganz andere: Die Ursache ist ein Versäumnis, das mehr als 30 Jahre zurückliegt und mit dem Jahr der deutschen Einheit beginnt, mit den großen Veränderungen in Deutschland und in Europa und dem Versäumnis, die Chance zu nutzen, eine europäische Friedensordnung zu schaffen, in der Russland einen gleichberechtigten, respektierten Platz hat. Statt das zu tun, setzte sich das triumphalistische Gefühl durch, wir haben den Kalten Krieg gewonnen, und jetzt gestalten wir die Welt nach unserem Willen. Das ist im Kern, was wir zu diesem Krieg sagen und das wir dann belegen mit vielen Einzelheiten. Ich will nur eine einzige nennen: Der frühere Oberbefehlshaber der NATO General Hodges sagte vor Ausbruch des Krieges: „Russland ist schon seit Jahrzehnten unser Feind.“ Ich finde das ein sehr erschütterndes Zeugnis der Fehlentwicklung, mit der wir es zu tun haben.
Ich glaube, was wirklich schwer zu verstehen ist für viele Menschen im Westen, ist, dass man die verschiedenen Provokationen des Westens zusammendenken muss, um dann ein bisschen ein Gefühl dafür zu bekommen, warum nicht nur Putin und die Eliten in Russland, sondern die Menschen in Russland sich bedroht fühlen, und dazu gehören eben die NATO-Osterweiterung, die Kündigung der Rüstungsabkommen – und hier geht es um die Atomwaffen, die NATO hält natürlich den atomaren Schutzschild über all ihre Mitglieder. Und dann muss man auch die Interna in der Ukraine verstehen, nämlich dass in der ukrainischen Armee und in der ukrainischen Polizei Rechtsradikale und Neonazis tatsächlich eine Rolle spielen. Diese Dinge zusammengenommen ergeben das Bedrohungsszenario für Russland: Atomwaffen, Neonazis in der Armee, eine für Russland unberechenbare und gefährliche Regierung, vom Westen unterstützt, und dann die Hochrüstung durch die NATO.
Petra Erler: Wenn man noch mal in die Geschichte zurückgeht, dann war 1990 der Zeitpunkt, an dem die USA vermutet haben, dass sie nunmehr die einzige verbliebene Weltmacht sind, und diese spezielle Position gedachten sie auszunutzen. Und der einzige wirkliche Gegner zu diesem Zeitpunkt aus der Sicht mancher in den USA war die Sowjetunion bzw. das entstehende Russland, und demzufolge haben alle US-Strategen ab 1990 – das ist nachweisbar – darüber nachgedacht, wie kriegt man diesen potenziellen Herausforderer kaputt. Kann man ihn vernichten? Und das hält sich bis heute. So war auch die Strategie der USA, und das ist nachweisbar. Es gibt aus dem Jahre 2019 eine Untersuchung von RAND im Auftrag des Pentagon: Wie kann man Russland klein machen oder schwächen? Und in dieser Strategie spielt die Ukraine eine maßgebliche Rolle. Selbstverständlich hat das Pentagon damals gedacht: Na ja, das ist nicht ganz ohne Probleme, wenn wir anfangen, die Ukraine als Rammbock gegenüber Russland zu gebrauchen, dann könnte es sein, dass Russland zurückschlägt. Der Beginn dieser Schwächung war 1991, und 2006 konnte man in den amerikanischen Medien lesen, dass man überlegte, wie man die nukleare Überlegenheit kriegt. Und was das bedeutet, sollte sich jeder auf der Zunge zergehen lassen: Nukleare Überlegenheit bedeutet die Bereitschaft zur Führung eines Nuklearkriegs.
Günter Verheugen: Das hat eine lange Geschichte. Es geht um die Idee, dass wer die eurasische Landmasse beherrscht, die ganze Welt beherrscht, und nach 1990 wurde der Schluss gezogen, dass man alles verhindern muss, was dazu führen könnte, dass Russland die alte Stärke der Sowjetunion wiedergewinnt. Der Schlüssel, um diese Frage in dem Sinne zu lösen, ist die Ukraine. Die Ukraine war von Anfang an eine geopolitische Figur auf dem weltpolitischen Schachbrett. Das hat z.B. dazu geführt, dass im Jahre 2013, im Jahr des Maidan, ein von den USA, aber auch einigen anderen westlichen Staaten mitinitiierter Staatsstreich, ein Putsch, zu einer Regierung in der Ukraine führte, bei der man sicher war, dass sie keine Verständigung mit Russland gesucht hat.
Aus westlicher Sicht handelt es sich um eine legitime demokratische Revolution gegen ein autoritäres, korruptes Regime, das von Russland gestützt wurde. Das ignoriert die Rolle der Rechtsextremisten auf dem Maidan. Ich glaube, sie waren eine Minderheit, aber eben eine militante und gefährliche Minderheit. Es ignoriert auch die Meinungsumfragen zu der Zeit in der Ukraine. Die Ukraine war ein absolut gespaltenes Land, auch regional. Das Zentrum der Ukraine und der Westen waren mehr proeuropäisch und prowestlich und der Osten mehr prorussisch und für die Janukowitsch-Regierung. In einer Meinungsumfrage waren die Zustimmungswerte zur Maidan-Revolution ziemlich genau in der Mitte dafür und dagegen. In dieser gespaltenen Situation hat der Westen eindeutig Partei ergriffen für eine Seite und hat damit auch die Souveränität des Landes verletzt, was kaum je gesagt wird. Können Sie noch ein bisschen mehr sagen zur Maidan-Revolution?
Petra Erler: Die Ukraine ist seit 2004 erkennbar ein gespaltenes Land gewesen – Kräfte, die nach dem Westen drängten, und Kräfte, die interessiert daran waren, eine gute Beziehung zum nachbarschaftlichen Russland zu haben. Jeder wusste das auch. Das Problem der Janukowitsch-Regierung, die 2010 ins Amt gekommen war, war, dass Janukowitsch auf der einen Seite in die Europäische Union drängte, aber auf der anderen Seite interessiert daran war, die Ukraine neutral zu verorten. Dagegen sind ab dem Jahr 2012 die Oppositionellen von Janukowitsch Sturm gelaufen, die damals schon rechtsextreme und rechtsnationalistische Kräfte umfassten wie Swoboda. Die sind vom Westen unterstützt worden. Wir wollten eine Ukraine, die nicht so sehr mit demokratischen Wahlen ihre neue Richtung sucht, sondern wir wollten eine Ukraine, die sich definitiv gegen Russland positioniert. Deswegen hat es auch im Westen kaum jemanden interessiert, wie der Putsch abgelaufen ist, der mit sehr viel Geld befördert wurde und mit sehr viel Geheimdienst-Engagement.
Wir hätten sagen müssen: Schluss! Die Ukraine ist tief gespalten. Wir brauchen einen Mechanismus, der diese Spaltung politisch überwindet. Steinmeier hat es damals versucht, gemeinsam mit dem polnischen und dem französischen Außenminister. Aber kaum war die Gewalt auf dem Maidan, die entscheidende Gewalt, wurde alles vergessen. Und das zeigte, wo die Interessen lagen.
Es kam zunächst zu einem Bürgerkrieg, in dem sehr schnell der Westen und auch Russland Partei ergriffen auf den verschiedenen Seiten. Also der Bürgerkrieg wurde dann allmählich zu einem Stellvertreterkrieg. Es ist gut belegt, dass beide Seiten schwere Kriegsverbrechen begangen haben. Also die Separatisten, von Russland unterstützt, aber auch die ukrainische Armee und ukrainische Milizen, zum Teil mit Neonazi-Symbolen auf dem Arm, haben schwere Menschenrechtsverletzungen begangen: Folter, Tötung von Zivilisten etc. Es war großer Hass auf beiden Seiten. Die Minsk-Abkommen sollten eigentlich den Frieden gewährleisten. Wenn man sich die im Detail anguckt, sehen sie wirklich aus wie eine gute Friedenslösung, zumindest die Blaupause davon. Die Frage ist: Warum hat der Westen nicht die Ukraine mehr gedrängt, ihren Teil der Abkommen einzuhalten?
Petra Erler: Der Krieg gegen den Donbass ist nicht von Russland gemacht worden, sondern der ist von der Übergangsregierung der Ukraine gemacht worden. Es war damals eine nicht demokratisch legitimierte Regierung. Und die hatte es satt, dass es im Osten der Ukraine zu Aufständen kam, ähnlich den Aufständen auf dem Maidan. Das war sozusagen ein Anti-Maidan. Da wurden genauso Gebäude besetzt wie damals in Kiew oder Lviv im Jahr 2013/2014. Und die Übergangsregierung hat die Armee der Ukraine gegen diese Aufständischen geschickt. Das endete damals katastrophal, weil ein Teil der Armee übergelaufen ist, ein Teil der Armee blieb treu. Aber damit war das Problem in der Ukraine überhaupt nicht lösbar, nämlich dass sie auf der einen Seite nach Westen, auf der anderen Seite nach Osten schaute. Und das war die Idee der Minsker Verhandlungen.
Günter Verheugen: Aber dazu braucht man gar nicht mehr viel zu sagen, denn drei der Hauptbeteiligten haben sich ja öffentlich dazu geäußert: Die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel, der ehemalige französische Präsident Hollande und der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko. Alle drei haben gleichlautend gesagt, bei den Minsk-Abkommen ging es nicht darum, eine Friedensregelung für die Ukraine zu finden, sondern es ging darum, Zeit zu gewinnen, um das Land auf den unvermeidbaren Krieg mit Russland vorzubereiten. Das heißt, nach den Aussagen dieser drei Staatslenker war die ganze Minsk-Politik überhaupt nicht ernst gemeint. Sie war ein Vorwand, man könnte auch sagen, eine Täuschung. Wenn man den Inhalt dieser Abkommen betrachtet, wird schnell klar, warum die Regierung in Kiew kein großes Interesse daran hatte, dieses Abkommen zu verwirklichen. Es hätte nämlich eine Verschiebung der Machtverhältnisse im Land bedeutet. Wir haben ja schon auf die Tatsache hingewiesen, dass die Ukraine ein zerrissenes, ein gespaltenes Land ist. Das äußert sich natürlich auch im Wahlverhalten. Wenn also die Millionen von ethnischen Russen im Osten der Ukraine bei Wahlen gar nicht mitmachen dürfen, dann kriegt man Mehrheiten zustande, wie man sie gerne hätte.
Richtig. Und ich glaube, an diesem Punkt können wir gleich zu den entscheidenden Istanbul-Verhandlungen kommen. Denn jetzt erfolgt natürlich 2022 die russische Invasion. Aber die Verhandlungen in Istanbul beginnen zwei bis drei Wochen danach, im März und April. Lange Zeit wurde im Westen kaum darüber berichtet. Nun haben erst Foreign Affairs und dann die New York Times darüber berichtet. Sie stellen das ein bisschen tendenziös dar, wie man das auch von der New York Times erwartet. Aber immerhin geben sie uns doch neue Informationen. Alles, was wir darüber wissen, stellt wirklich ganz grundlegend die westliche Darstellung der Motive Russlands in Frage. Wenn man sich dann anguckt, was die Forderungen Russlands waren, muss man schon sagen, dass es aus russischer Sicht hier um eine Verteidigung gegen die NATO geht. Könnten Sie das ein bisschen schildern? Sie tun das in Ihrem Buch ausführlich und sehr überzeugend. Was wurde in Istanbul verhandelt, und warum ist es eine so große vertane Chance? Und was sagt es uns über die Motive von Putins Regierung?
Petra Erler: Nun, vier Tage nach der russischen Aggression gegenüber der Ukraine bzw. nach der Tatsache, dass russische Truppen gemeinsam mit den Truppen des Donbass gegen die Kiewer Zentralregierung aufstanden, gab es den Willen zur Verhandlung auf beiden Seiten. Das spricht sehr dafür, dass zu diesem Zeitpunkt das russische Kalkül war, dass man mit dieser Aggression sehr klarlegen wollte, dass man es ernst meinte mit der Forderung nach Neutralität der Ukraine und dass russische Sicherheitsinteressen betroffen waren. Davor lag ja der russische Vorschlag an die NATO und an die USA, dass man eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa braucht. Das russische Sicherheitsproblem besteht darin – und die USA haben es bewiesen –, dass die Ukraine womöglich zum Aufmarschgebiet der NATO werden könnte.
Diese Verhandlungen liefen ganz gut, und alle ukrainischen Verhandler haben das auch gesagt. Wir haben das in unserem Buch auch korrekt dargestellt. Es hätte damit geendet, wenn sie erfolgreich gewesen wären, dass die Ukraine neutral geworden wäre, die Ukraine demilitarisiert worden wäre, aber Russland sich aus dem Donbass zurückgezogen hätte und bereit gewesen wäre, über die Zukunft der Krim zu verhandeln. Die Ukraine wollte ihrerseits auch Sicherheitsgarantien, und Russland wollte die Berücksichtigung der russischen Sprache in der neuen demilitarisierten Ukraine. Es waren alles Themen, die beiden Ländern auf den Nägeln brannten. Die westliche Position war, mit Russland ist sowas nicht zu verhandeln. Denn das Verhandlungskonzept zeigte, dass die NATO-Auffassung, es ginge nicht darum, ob die Ukraine NATO-Mitglied wäre oder nicht, sondern dass es eigentlich nur darum ging, dass Russland in seiner Nachbarschaft keine Demokratien ertragen könnte. Das war natürlich alles falsch, und die New York Times hat es auch entblößt.
Boris Johnson kam schlussendlich in die Ukraine und hat sie aufgefordert, diesem Verhandlungsergebnis nicht zuzustimmen. Meine persönliche Meinung ist, die Ukraine hat zu diesem Zeitpunkt noch versucht, die Auffassung von Johnson und Biden zu umgehen. Sie haben gewusst, sie werden diesen Krieg verlieren. Sie haben es gewusst. Deswegen haben sie auch dieses Wirken von Boris Johnson in die Zeitung gesetzt. Sie wollten diesen Weg nicht gehen, aber sie hatten niemanden mehr, der sie unterstützt. Das ist die Tragik an der ganzen Geschichte. Seitdem sind Selenskyj und alle anderen Ukrainer davon überzeugt, sie werden den Krieg gegen Russland gewinnen. Es kostet mindestens 600.000 Menschenleben, wenn nicht mehr. Es hat schon mehr als 1,5 Millionen Schwerverletzte in der Ukraine gegeben. Das ist das Päckchen, das wir zu tragen haben.
Günter Verheugen: Damit sind wir bei den strategischen Entscheidungen des Westens. Petra Erler hat ja gerade schon erklärt, weshalb diese Friedensverhandlungen gescheitert sind. Aber was war das Motiv dahinter? Das ist ziemlich eindeutig. Der Westen hat sich entschieden für eine Strategie, die er Siegfrieden nennt. Er sagt, es kann nur verhandelt werden, eine Lösung dieses Konflikts gefunden werden, auf der Grundlage eines militärischen Sieges. Das heißt, die diplomatische Lösung wird ausgeschlossen. Alle Erfahrungen der Entspannungspolitik der Vergangenheit werden in den Staub getreten, und es wird einer rein militärischen Lösung das Wort geredet. Das ist der tiefere Grund, warum wir uns getrieben gefühlt haben, dieses Buch zu schreiben. Wir sehen eine unglaubliche Gefahr auf uns zukommen. Wir sehen die Gefahr, dass dieser militärische Konflikt vollkommen außer Kontrolle gerät, dass er mit immer gefährlicheren Waffen eskaliert und dass das Ziel, diesen Krieg mit einem westlichen Sieg zu beenden, am Ende nur durch den Einsatz von Atomwaffen zu erreichen ist. Aber dann gewinnt keiner, dann sind wir alle tot. Es geht darum, zu sagen: Haltet endlich ein! Schluss mit diesem Gemetzel, gebt der Diplomatie eine Chance!
Bei den Istanbul-Verhandlungen, wenn man die New York Times zum Thema liest und Kommentare der westlichen Politik betrachtet, haben sie im Grunde genommen inzwischen eingestanden, dass wir nah dran waren an einem Friedensschluss. Aber logischerweise beschuldigen sie Russland für das Scheitern und geben im Wesentlichen zwei Gründe an. Der eine Grund sind die Kriegsverbrechen in Butscha, die nicht so gut untersucht sind, aber vieles spricht dafür, dass Russland hier Kriegsverbrechen begangen hat. Gegen das Argument, dass dies eine wichtige Rolle gespielt hat, spricht jedoch die Tatsache, dass die Verhandlungen nach Butscha sehr intensiv weitergingen. Das zeigt auch das Buch. Das zweite Argument ist ebenfalls nicht überzeugend, und zwar, dass Russland die Ukraine in eine Art Satellitenstaat verwandeln wollte. Tatsächlich zeigt das Istanbul-Kommuniqué, wenn ich es richtig verstehe, dass sowohl der Westen als auch Russland die Neutralität der Ukraine garantieren und versichern, im Falle einer militärischen Invasion oder einer Verletzung der Souveränität auf Seiten der Ukraine einzugreifen. Warum sollte sich Russland dazu verpflichten, auf Seiten der Ukraine gegen den Westen einzugreifen, wenn sie es nicht ernst meinten mit dieser Neutralität? Es wäre wichtig zu klären, ob Russland in Istanbul versucht hat, die Ukraine in eine Art Kolonialstatus zu drängen, oder ob es Russland ernst war mit der Neutralität?
Petra Erler: Die Istanbul-Verhandlungen zeigen erstens, dass es eine westliche Lüge war, dass Russland nicht bereit ist zu verhandeln, und zweitens, dass es dem Westen nie um Frieden ging. Der ganze Krieg in der Ukraine, der angeblich für die ukrainische Freiheit und Demokratie geführt wird, ist nur ein Vorwand, um Russland zu schwächen, wenn nicht gar zu ruinieren. Unsere Außenministerin Frau Annalena Baerbock war die Erste, die das in die Welt gesetzt hat. Später wurde es auch von Joe Biden und dem amerikanischen Verteidigungsminister bestätigt. Wir reden hier nicht über die Rettung der Ukraine, sondern über die Zerschlagung Russlands. Ein zügiger Friedensschluss in Istanbul hätte viele Kriegsprobleme, Kriegsverbrechen und das Sterben in der Ukraine verhindern können. Offenbar war es dem Westen nicht wichtig. Wobei ich mal daran erinnern will, dass der ehemalige Präsident des Internationalen Roten Kreuzes gesagt hat: Es sterben erstaunlich wenige Zivilisten in diesem Krieg, weil nämlich beide Armeen, die ukrainische als auch die russische, sehr gut das internationale Recht kennen. Er dachte, es wäre eine Trendwende in der internationalen Kriegsführung. Das war im November 2022. Er hat sich geirrt, wie wir wissen, aber nicht in der Ukraine, nicht in der Kriegsführung mit Russland, sondern in der Kriegsführung im Gazastreifen.
Aber das ist die Bedeutung des Istanbul-Prozesses: Russland wollte, die Ukraine wollte, der Westen wollte nicht. Und der Westen wollte deswegen nicht, weil er glaubte, wenn wir die Ukraine nur ausreichend unterstützen, dann wird Russland in die Knie gehen und vielleicht sogar so enden wie Deutschland 1945. Seitdem ist es völlig klar, dass es hier um die Existenz Russlands geht und dass es hier um die Frage geht, wer die Welt beherrscht.
Günter Verheugen: Genau das hat ja der berühmte Herr Melnyk, der hier sein Wesen als ukrainischer Botschafter getrieben hat, gesagt, als ukrainisches Kriegsziel: Wir wollen Russland da sehen, wo Deutschland 1945 war, am Boden liegend, zerstört, ruiniert. Und hier frage ich mich, weiß der Mann, was er redet? Begreift er eigentlich, was das bedeutet, wenn eine atomare Supermacht instabil wird, wenn sie auseinandergenommen wird, wenn innere Unruhen geschehen, wenn sich Gewalt nach innen und nach außen richtet? Das kann die ganze Welt ins Verderben stürzen. Man muss das so deutlich sagen: Hier sind absolut verantwortungslose Leute am Werk, die uns in etwas hineintreiben, was wir unter allen Umständen verhindern müssen.
Die westlichen Postulate sind unerreichbar. Wenn gesagt wird, man kann überhaupt mit Russland nur reden, wenn Putin weg ist, kann ich nur sagen: So kriegen wir den Putin nicht weg. Das ist auch nicht unsere Sache, nebenbei bemerkt, das müssen die Russen schon selbst entscheiden, wer sie regieren soll. Aber wenn wir glauben, dass ein Regimewechsel in Moskau die russischen Sicherheitsinteressen und das russische Interesse in diesem Konflikt in irgendeiner Weise verändern würde, sind wir vollkommen schief gewickelt. Es gibt keine nennenswerte politische Kraft in Russland, die das russische Interesse anders sieht als die jetzige russische Regierung. Ebenso abenteuerlich ist das Argument, wir können jetzt keine Verhandlungen zulassen, dazu ist die Ukraine zu schwach. Man kann da nur aus einer Position der Stärke verhandeln.
Und das ist nun wieder sehr interessant, wenn man daran erinnert, dass am Anfang des Konfliktes wir ja darüber unterrichtet worden sind, dass diese russische Armee nichts taugt, dass die russische Kriegsführung nichts taugt, dass die militärisch nichts gebacken kriegen. Und jetzt hören wir etwas ganz anderes. Jetzt hören wir: Ja, wir müssen die unbedingt dort stoppen, denn wenn wir sie in der Ukraine nicht stoppen, dann greifen sie als Nächstes die baltischen Länder an und dann Polen, und dann sind sie auch schon kurz vor Berlin. Das sind Lügen. Das sind Propagandamärchen, die erfunden werden, um die öffentliche Zustimmung zu der westlichen Beteiligung an diesem Krieg aufrechtzuerhalten. Und dagegen wehren wir uns.
Ich finde, man sollte auch daran erinnern, dass im Kalten Krieg sowohl die USA als auch die Sowjetunion wirklich klares Unrecht und Verbrechen, wie den Einmarsch in der Tschechoslowakei, dulden mussten, um einen Atomkrieg zu vermeiden. Umgekehrt musste auch die Sowjetunion oft hinnehmen, dass die USA überall in Lateinamerika und in Vietnam natürlich und in Angola intervenierten. Beide mussten oft, was sie als großes Unrecht der anderen Seite angesehen haben, hinnehmen, um einen Atomkrieg zu vermeiden. Deswegen existieren wir heute überhaupt noch. Und es ist, was ich absolut erschreckend finde und was mir manchmal den Schlaf raubt, dass total vergessen wird, was ein Atomkrieg bedeuten würde. Es gibt ja sogar Studien vom Lancet, die zeigen, dass ein atomarer Krieg zwischen den USA und Russland bis zu 90 Prozent der Menschheit umkommen lassen würde. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Hauptsächlich aufgrund der atomaren Abkühlung, die die Ernten vernichten würde. Es ist ein absoluter Albtraum. Man muss sich fragen: Selbst wenn man alle anderen Argumente nicht gelten lässt und die westliche Sichtweise teilt, muss man doch zumindest aus Vernunftgründen dafür appellieren, dass wir alles tun müssen, um einen Atomkrieg zu verhindern. Selbst wenn wir Dinge hinnehmen müssen, die vielleicht Unrecht sind, wie z.B. die Besetzung von Teilen der Ukraine. Können Sie noch etwas zu dieser Gefahr des Atomkriegs sagen?
Petra Erler: Ich finde, Sie sprechen eine wirklich schwierige Frage an. Darf ein Aggressor quasi durch seine Verfügung über Atomwaffen andere daran hindern, sich zu verteidigen? Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man sich wiederum fragt, wie es dazu gekommen ist. Warum ist Russland zu der Überzeugung gekommen, es müsse militärische Gewalt einsetzen? Das bringt uns zur NATO, die entgegen ihrem eigenen Statut gesagt hat, sie sei nicht bereit, mit Russland in irgendeiner Art und Weise zu verhandeln. Was Russland denkt, ist uns egal. Diese Denkweise existiert seit 1994 explizit. Seitdem leben wir in Wahrheit als NATO-Staaten, die damit pokern, was Russland als Atommacht machen könnte. Das ist überhaupt nicht mehr vernünftig.
Das Zweite ist selbstverständlich, dass ich der Überzeugung bin, dass wir niemandem auf dieser Welt gestatten dürfen, die gesamte Zivilisation in Frage zu stellen. Das Problem ist nur, dass ich bisher nur auf Seiten der USA das Verlangen nach atomaren Erstschlagskapazitäten gesehen habe, ausgedrückt 2006 und heute auch noch in der nuklearen Doktrin der USA. Die Russen haben nicht eine so weitgehende Nukleardoktrin. Das Dritte ist, ich kann jeden nur warnen, wenn wir anfangen zu glauben, wir könnten es so machen wie die Jungen auf dem Schulhof: Wer hat den Längeren, wer hat den Besseren – dann landen wir genau dort, wo wir nie landen wollten. Ich persönlich bin der Auffassung, es ist nicht wahrscheinlich, dass die Menschheit in irgendeiner Art und Weise überleben wird, wenn es zu diesem atomaren Schlagabtausch kommt. Alle sind sich darüber einig, auch amerikanische Neokonservative. Es ist keine russische Propaganda. Wir nähern uns dem Punkt, wo Atomwaffen eingesetzt werden. Wenn sie eingesetzt werden, gibt es diejenigen, die sofort sterben. Dann gibt es diejenigen, die verstrahlt werden, und danach diejenigen, die verhungern. Diejenigen, die dann noch übrig bleiben, sind keine Menschen mehr.
Günter Verheugen: Das ist die Konsequenz dessen, worüber wir gerade diskutieren, und das hat Petra Erler gerade sehr bewegend dargestellt. Die Konsequenz daraus ist einfach: Das oberste Ziel der internationalen Politik ist unverändert die Kriegsverhütung. Das ist einfach so. Unter den Bedingungen, unter denen wir heute leben, dürfen wir Krieg als Mittel der Politik schlicht und einfach nicht mehr akzeptieren. Darum beschäftigen wir uns in diesem Buch sehr intensiv mit den Erfahrungen, die wir während des früheren Kalten Krieges gemacht haben und wie wir dafür gesorgt haben, dass er nicht zum heißen Krieg wurde. Das Instrument hieß Entspannungspolitik. Heute wird sie oft falsch dargestellt, als sei sie auf Geschäftemacherei ausgerichtet. Das ist eine vollkommen falsche Sichtweise. Ich möchte ganz klar sagen: Ich war damals schon dabei, so alt bin ich inzwischen. Entspannungspolitik hat ein begrenztes Ziel, und das Ziel ist Konfliktvermeidung. Sie schafft Rahmenbedingungen, die es uns ermöglichen, auf der Grundlage verifizierbarer Verträge und Abkommen Konflikte zu vermeiden.
Wir dürfen Entspannungspolitik nicht überfrachten mit Forderungen, die sie nicht erfüllen kann. Es ist nicht Aufgabe von Entspannungspolitik, die inneren Verhältnisse in einem Staat zu verändern oder einen Regimewechsel herbeizuführen. Es geht ganz konzentriert darum, wie wir den Krieg vermeiden können. Das setzt ein Mindestmaß an Vertrauen zwischen den Beteiligten voraus.
Und wenn es gut läuft, wie wir es nach 1975 erlebt haben, kann Entspannungspolitik sehr wohl zu Veränderungen in Gesellschaftssystemen und zu grundlegenden strategischen Neuausrichtungen führen. Wir wehren uns also gegen die These, dass Entspannungspolitik ein Ding der Vergangenheit war und heute nicht mehr benötigt wird. Ganz klar: Wir sind nicht dort, wo wir sind, weil wir Entspannungspolitik betrieben haben. Wir sind dort, wo wir sind, weil auf die Erfahrungen der Entspannungspolitik der 70er- und 80er-Jahre verzichtet wurde. Es hat niemals geheißen „Wandel durch Handel“. Das ist eine Erfindung der damaligen Opposition in Deutschland, um die Entspannungspolitik zu diskreditieren.
Petra Erler: Es geht um die Annahme, dass man Kriege benutzen kann, um die Welt zu verändern, und zwar nach eigenem Gusto. Diese Annahme war eine Triebkraft amerikanischen Verhaltens nach dem Zweiten Weltkrieg, in Vietnam, im ersten und zweiten Irakkrieg und in allen folgenden Kriegen gegen den Terror. Wir haben eine Politik erlebt, die ausgehend von der Stärke der USA die Welt nach eigenen Vorstellungen gestalten wollte. Und bisher ist das immer schiefgegangen, seit Vietnam. Niemand ist bereit, sich damit auseinanderzusetzen, dass man zusammenleben kann, sich gegenseitig respektieren kann und dass es nicht naiv ist, davon überzeugt zu sein, dass das Leben des anderen nicht das eigene Lebensmodell ist.
Wie etwa Kennedy, der selbstverständlich nicht die Sowjetunion wollte. Das war für ihn ein fremdes System, aber es war für ihn ein System, mit dem man leben kann. Und heute haben wir die Spitze dessen, was wir schon mal in der McCarthy-Ära hatten. So nach dem Motto, mit denen da können wir nicht leben. Die sind die Bösen, und wer immer über sie positiv redet, gehört auch zu den Bösen und in Wahrheit eingesperrt und der Stimme beraubt und so weiter und so fort. Wir sind in einer Ära angelangt, in der wir nicht mehr rational denken können darüber, was unserer gemeinsamer Überlebenswille ist und Überlebensinteresse. Denn wenn wir so weitermachen, bleibt ja nichts weiter übrig, als den bösen Feind mit einer Atomrakete oder was weiß ich den Kopf einzuschlagen. Und wo werden wir dann landen? Wir in Europa werden das Schlachtfeld werden.
Ja, ich finde es auch eine große Stärke Ihres Buches, dass sie den Finger auf diese Ideologie legen, die heute im Westen so weit verbreitet ist, die ein bisschen schwer fassbar ist. Denn wir alle lieben die Demokratie und die Meinungsfreiheit, und viele der westlichen Werte sind natürlich eine wunderbare Sache und man wünscht sie sich auch in einiger Hinsicht dem Rest der Welt. Nur der Westen gebraucht sie natürlich heute für eine Art Fanatismus, was eine Absurdität ist, was wirklich im Sinne von George Orwell ist, dass hier die Demokratie im Grunde genommen verwendet wird für einen manichäistischen Wahnsinn. Also wir sind das absolut Gute und die anderen, unsere Feinde, sind das absolut Böse. Also Russland, China, Iran, Venezuela und so weiter sind absolut Böse, und deswegen können wir gar nicht verhandeln, und im Namen dieser Ideologie führen wir einen Krieg nach dem nächsten.
Günter Verheugen: Wir sollten es erst einmal klar machen, was das eigentlich bedeutet, Rest der Welt. Den Ausdruck, den Ausdruck haben sie gerade gebraucht: Der Rest der Welt, das sind die, die nicht so denken wie wir. Ja, es sind etwa sieben Milliarden Menschen. Wir sind nicht die Mehrheit auf diesem Planeten mit unseren Werten und unserem Way of Life, wir sind im Gegenteil eine Minderheit, deren Bedeutung schrumpft, demographisch wie auch ökonomisch und politisch. Wir sollten endlich aufhören, den Eindruck zu erwecken, als seien wir Masters of the Universe – wir sind groß, alle haben zuzustimmen, alles tanzt nach unserer Pfeife. Der sogenannte Rest der Welt lässt sich das nicht mehr länger gefallen. Die Zeiten sind vorbei, und das nimmt auch einen wesentlichen Teil in unserem Buch ein. Wir beschreiben den Übergang von einem System, in dem eine Weltmacht dominierte, hin zu einem multipolaren System.
Das ist in Wahrheit die große politische Aufgabe, vor der wir stehen. Wie kriegen wir diesen Übergang zu einer multipolaren Weltordnung hin, ohne dass es dabei zu kriegerischen Konflikten kommt. Also ohne dass z.B. diese Frage zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China führt. Das Thema China steht ja immer im Hintergrund bei allem, was auch jetzt im Augenblick passiert, auch beim Ukraine-Krieg wird ja ganz offen gesagt, unser Verhalten dort soll den Chinesen eine Lehre sein, dass sie merken, wir lassen nicht mit uns spaßen.
Also zusammengefasst: Die wirkliche Aufgabe, vor der wir stehen, ist in der Tat, einen völlig neuen Politikansatz zu finden, so wie es Kennedy versucht hatte, so wie es Gorbatschow versucht hatte, weil wir unsere Kräfte zusammenfassen müssen, um die großen Probleme unseres Planeten zu lösen, und es uns nicht leisten können, unsere Kräfte dadurch zu verschwenden, dass wir uns gegenseitig umbringen.
Petra Erler: Da ich ja Ostdeutsche bin: Ich weiß, wie verführerisch der Geschmack der Freiheit ist, und ich verstehe überhaupt nicht, warum die heutigen sogenannten westlichen Demokratien nicht mehr das Selbstbewusstsein haben, das einst Kennedy hatte – nach dem Motto, wir sind eigentlich attraktiv. Natürlich, weil sie es nicht mehr sind, weil die Bilanz der westlichen Demokratien nicht sehr gut ist. Sie sind diejenigen, die Kriege befürwortet haben, die Regime Changes befürwortet haben, die Leuten Angst machen auf dieser Welt, aber am Ende bleibt für mich immer doch: Demokratie und der Geschmack der Freiheit ist unschlagbar.
Könnten Sie noch ein Wort zu Gaza sagen? Ich sehe einen Zusammenhang, weil ich noch nie so eine Kriegsstimmung erlebt habe wie beim russischen Einmarsch, eine Art Fremdnationalismus, also dass die Deutschen so sehr gefiebert haben mit den Ukrainern. Überall waren ukrainische Fahnen. Ich bin auch nicht grundsätzlich dagegen, ich war zweimal in der Ukraine und habe viel Sympathien mit dem Land. Aber es war sehr seltsam, diese aufgepeitschte Stimmung, und es wurde auch sehr intolerant. Der Einmarsch Russlands hat den Westen noch mal etwas fanatischer gemacht, noch mal zusammengeschweißt gegen den Rest der Welt, und hat sie dann auch blind gemacht dafür, was Israel im Gazastreifen tut. Also ich glaube, diese bedingungslose Unterstützung der USA, Großbritanniens, Deutschlands und der EU für Israel wäre nicht möglich gewesen ohne diese aufgeheizte, fanatische und intolerante Stimmung im Westen.
Petra Erler: Es ging nie um die Ukraine. Die Ukraine wurde in Stellung gebracht, um Russland zu schwächen. Also diese ganze Kriegslüge, dass der Ukraine-Krieg für die Freiheit der Ukraine geführt wurde, ist doch wirklich völlig absurd. Das müssen die Leute begreifen, sie sind hier belogen worden, und zwar in großem Stil.
Das zweite Problem sind die Ereignisse des 7. Oktober und die anschließenden Ereignisse im Gazastreifen. Das ist eine ganz andere Geschichte, die seit 1948 ihre Entwicklung hat. In unserem Buch haben wir diese Entwicklung nicht nachgezeichnet; uns ging es um den langen Weg zum Krieg in der Ukraine. Aber eines ist klar: Was im Gazastreifen passiert, ist ein großes humanitäres Versagen. Im Lancet wurde angedeutet: Zwischen sieben und neun Prozent der Menschen im Gazastreifen sind möglicherweise tot. Wer immer Kriege beenden will, wie wir den Krieg in der Ukraine beenden wollen, muss diese Schlachten im Gazastreifen beenden und eine Lösung finden.
Was ursprünglich mal gedacht wurde, nämlich die Zweistaatenlösung, muss kommen. Wir brauchen in der Ukraine eine Lösung, in der Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und unterschiedlicher Affinität zusammenleben und sich sagen: „Ich lebe mit meinen Nachbarn im Osten und im Westen in Frieden und ich hasse niemanden.“ Das ist das Gemeinsame; wir können keinen Hass in Europa ertragen und sollten keinem Hass im Mittleren und Nahen Osten Vorschub leisten. Meine alte These ist, ich muss es ganz ehrlich sagen: Wer immer Hass sät, gibt dem Hass freien Lauf gegen wen auch immer, und Menschen sind sehr erfinderisch, wenn sie hassen wollen.
Der Kniefall von Willy Brandt war ein großes Zeichen von Demut, und die fehlt mir so sehr. Ich erlebe den Westen als sehr hochmütig und intolerant. Wir haben die Wahrheit für uns gepachtet. Könnten Sie noch etwas sagen, um zu einem positiveren Ende zu kommen? Entspannungspolitik, wäre das noch etwas Aktuelles? Was würde sich ändern in unserer Kultur, in unserer Politik und in unserer Gesellschaft, wenn wir wieder mehr die Lehren aus der Vergangenheit ziehen könnten?
Günter Verheugen: Wenn wir zurückkehren würden zu den Prinzipien der Entspannungspolitik. Die Verhältnisse heute sind anders als in den 1970er-Jahren, aber an den Prinzipien hat sich nichts verändert. Prinzipien bedeuten, dass man immer auch die Interessen der anderen Seite sehen muss. Ein Problem kann nicht nur aus der eigenen Sicht betrachtet werden, sondern muss auch aus der Sicht des Kontrahenten betrachtet werden. Man muss sich bemühen, herauszufinden, ob es gemeinsame Interessen gibt, und wenn es diese gibt, nach ihnen handeln. Es gilt, Felder der Kooperation zu entwickeln, auf denen man zusammenarbeiten kann. Die Voraussetzung dafür ist ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen. Wenn das nicht da ist, kann man keine Entspannungspolitik betreiben.
Meine große Sorge ist, dass in den letzten 20 Jahren so viel Vertrauen verloren gegangen ist und mutwillig zerschlagen wurde, dass es nicht von heute auf morgen möglich sein wird, zu einer Entspannungspolitik zurückzukehren. Nichtsdestotrotz muss es versucht werden, mit allen Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen. Die Alternative ist, dass wir unter ständiger Bedrohung unserer Existenz weiterleben müssen. Das bedeutet, was hier zu verlangen ist, ist ein Politikwechsel. Petra und ich wünschen uns, dass die Europäische Union bei diesem Versuch der Neujustierung der internationalen Politik eine führende Rolle spielt. Das ganze Gerede von strategischer Autonomie der Europäer und davon, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, würde mir sehr viel besser gefallen, wenn es verbunden wäre mit klaren Initiativen, um Entspannungspolitik wieder möglich zu machen.
Petra Erler: Ich möchte noch einen Gedanken hinzufügen: Ich war immer der Überzeugung, dass es zu den Stärken der Europäischen Union gehört, dass es einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen gibt. Die Medien spielen eine wichtige Rolle für die objektive Unterrichtung der Bürgerinnen und Bürger. In den letzten Jahren habe ich mit großer Sorge gesehen, dass dies überhaupt nicht mehr erfüllt wird. Das kann niemanden beruhigen. Es ist wichtig, dass es alternative Medien gibt, wie etwa die NachDenkSeiten, die über die Komplexität der Dinge berichten und unangenehme Fragen stellen. Wenn das nicht so bleibt und attackiert wird, haben wir keine guten Chancen, darüber gemeinsam ins Gespräch zu kommen, was der richtige Weg zum Frieden ist und wie wir das gemeinsam meistern können. Stattdessen werden wir eine immer weiter gespaltene Gesellschaft haben. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, unabhängig von unserem Buch, dass viele Menschen von unseren Medien einfordern, endlich die Wahrheit zu sagen.
Eine persönliche Frage an Sie: Sie haben ja viel Autorität, was Osteuropa und die Ukraine angeht, und jetzt haben Sie ein neues Buch geschrieben. Bekommen Sie die Diskussion, die Sie verdient haben, um das, was in der Ukraine passiert ist, und wie wir dazu kamen? Oder sind sie nur auf den NachDenkSeiten mit Ihrer Hilfe?
Petra Erler: Wir haben eine gute Diskussion und erstaunlich viele Rückäußerungen von Leserinnen und Lesern, die uns privat schreiben. Selbstverständlich nehmen wir zur Kenntnis, dass kein einziges sogenanntes liberales Medium je so getan hätte, als hätte es unser Buch gelesen.
Sie werden ignoriert von den großen Medien, kann man das so sagen?
Ja, aber trotzdem sind wir inzwischen auf Platz 19 der Bestsellerliste. Ignoranz ist vielleicht auch eine Waffe. Menschen wissen, wo sie ihre Informationen bekommen können, wenn sie nicht mehr informiert werden von denen, die sie informieren sollten. Unser Buch ist ein Beweis dafür, dass die öffentlich-rechtlichen Medien dringend darüber nachdenken sollten, welchen Auftrag sie haben.
Ich fühle eine moralische Verpflichtung gegenüber der Ukraine, weil ich Freunde dort habe und letztes Jahr im Krieg nach Kiew gereist bin. Ich habe Selbstzweifel, ob ich den Interessen und Bedürfnissen der Menschen dort gerecht werde. Was würden Sie sagen, ist Ihre Position? Weil es immer einfach gesagt wird, proukrainisch oder prorussisch. Warum würden Sie sagen, dass Ihre Position den Menschen in der Ukraine dient?
Günter Verheugen: Weil wir entschiedene Vertreter einer wertebezogenen Außenpolitik sind. Das bedeutet, der oberste Grundwert, der für die gesamte Menschheit verbindlich ist, muss in der Außenpolitik verwirklicht werden, und das ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das bedeutet den Appell zur Friedenspolitik und Entspannungspolitik. Wir sind überzeugt, dass es für die Menschen in der Ukraine besser ist, in einem gutnachbarschaftlichen, wenn nicht sogar freundschaftlichen Verhältnis mit Russland zu leben, als in einem Krieg, dessen Ende niemand absehen kann, abgeschlachtet zu werden.
Petra Erler: Ich persönlich kenne die Ukraine seit 2002 und war von 2015 bis 2017 regelmäßig dort. Die Sowjetunion lernte ich 1988 und 1989 kennen, Russland später, 2019. In der Ukraine habe ich ein großes Verlangen nach Aussöhnung erlebt in den Jahren 2015 und 2016. Aber ich habe auch gesehen, dass amerikanische Kräfte diese Aussöhnung verhindern wollten. Mein persönliches Bemühen, und ich finde, die Ukrainer sind ein interessantes, großartiges Volk, das muss man doch erhalten und retten. Man kann es nicht opfern auf dem Altar einer ganz gemeinen Politik, die die Zerstörung Russlands zum Ziel hat, die übrigens nicht funktionieren wird. Das hat schon der alte Brzezinski versucht, der Kaiser von Deutschland und Napoleon. Mein Gott, kann man nicht mal was Neues erfinden?
Okay, das war ein sehr schönes Gespräch. Ich danke Ihnen vielmals.
Günter Verheugen: Am Ende ist mir gerade noch etwas eingefallen. Ganz am Anfang bei der Vorstellung haben Sie zu Petra gesagt, sie war Politikerin in der DDR. Das ist ja richtig, aber es wäre schon wichtig gewesen zu sagen, dass sie Mitglied der einzigen demokratisch gewählten Regierung war. Ja, sie hatte keine politische Verantwortung zur Zeit der SED, sondern war in der Regierung der Wendezeit. Sie war Staatssekretärin in der ersten und einzigen frei gewählten demokratischen Regierung der DDR, nicht vorher.
Ich war bis 2010 Mitglied der Europäischen Kommission, und in meiner ersten Amtsperiode zuständig für die Erweiterung, in der zweiten war ich Vizepräsident und unter anderem europäischer Vorsitzender des transatlantischen Wirtschaftsrates. Das legitimiert mich, über die Politik der USA zu sprechen. Im Gegensatz zu den meisten, die sich in der deutschen Politik zu diesem Thema äußern, kennen wir die Länder, die handelnden Personen und die Zusammenhänge seit über 50 Jahren. Wenn das Buch von den Leitmedien ignoriert wird, das ist schon ein starkes Stück. Aber gut, es läuft trotzdem.
Petra Erler: Was mir wirklich wichtig ist. Es geht mir darum, dass heute Medien wie die NachDenkSeiten nicht nur die Rolle erfüllen, die früher die öffentlich-rechtlichen Medien erfüllen sollten, richtig? Gleichzeitig bin ich tief besorgt, wenn es nur noch die NachDenkSeiten wären. Man sieht an den USA, was passiert, wenn die öffentlich-rechtlichen Medien einknicken. Man braucht immer Alternativen. Wenn das nicht gelingt, sind wir verloren aus meiner Sicht. Neun Millionen pro Tag sind bei den öffentlich-rechtlichen Medien. Das ist der Unterschied. Wenn diese neun Millionen Menschen verbildet werden und merken, dass sie verbildet werden, das fangen die NachDenkSeiten nie auf.
Nein, sonst könnten Sie mich in die Ukraine schicken, dass ich dort Recherchearbeit mache und solche Dinge. Dazu fehlt dann das Geld.
Petra Erler: Schönen Abend noch.
Michael Holmes: Schönen Abend, vielen Dank.
Petra Erler: Vielen Dank.
Infos zum Buch: Petra Erler, Günter Verheugen: „DER LANGE WEG ZUM KRIEG – Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung“, Heyne Verlag.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten
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