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Titel: Nachrüstung 2.0 im Handstreich – oder: Eine neue Friedensbewegung, jetzt oder nie!
Datum: 20. Juli 2024 um 14:00 Uhr
Rubrik: Aufrüstung, Friedenspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Die von Kanzler Scholz auf dem NATO-Jubiläumsgipfel in Washington völlig überraschend angekündigte Stationierung von Marschflugkörpern und Hyperschallraketen mittlerer Reichweite in Deutschland ist nichts anderes als eine „Nachrüstung 2.0“ im Handstreichverfahren. Wenn jetzt keine kraftvolle neue Friedensbewegung Sand ins Getriebe streut, wächst die Gefahr russischer Präventivschläge ins Unermessliche. Von Leo Ensel.
Man halte für einen Moment den Atem an, setze sich für drei, vier Minuten hin und mache sich klar, was letzte Woche eigentlich genau passiert ist. Denn es ist so ungeheuerlich, dass es einem die Sprache verschlägt:
Unser Bundeskanzler, der einen Eid abgelegt hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, verkündete Mittwoch vergangener Woche im Handstreich von der Hauptstadt des Großen Bruders aus, man habe beschlossen, unser Land und dessen gesamte Bevölkerung – mehr als 84 Millionen Menschen – in Geiselhaft zu nehmen, sprich: sie im Krisen- und erst recht im Kriegsfalle zur Zielscheibe gegnerischer Präventiv- oder Vergeltungsschläge zu verwandeln! (Und dies verkaufte er uns auch noch fröhlich als „Erhöhung der Sicherheit im besten Sinne“.)
Nachrüstung 2.0
Nichts anderes bedeutet die völlig überraschende Ankündigung, die USA würden ab 2026 – selbstverständlich nur zur Abschreckung und um eine durch Russland verursachte „Sicherheitslücke“ zu schließen – wieder, wie weiland im Herbst 1983, Tomahawk-Cruise-Missiles mit einer Reichweite bis zu 2.500 Kilometern, Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und noch in der Entwicklung begriffene, von gegnerischen Abwehrsystemen praktisch nicht mehr zu eliminierende Dark-Eagle-Hyperschallraketen mit einer Reichweite von etwa 2.750 Kilometern in Deutschland (vermutlich in Wiesbaden) stationieren. Waffensysteme, mit denen von deutschem Boden aus Moskau, St. Petersburg und andere Städte im Westen Russlands attackiert sowie gegnerische Kommandostellen, Bunker und Radaranlagen pulverisiert werden können. Außerdem würden ab jetzt Deutschland, Frankreich, Italien und Polen gemeinsam eigene bodengestützte Marschflugkörper oder auch eine ballistische Rakete entwickeln, die bei einer Reichweite von circa 2.000 Kilometern Ziele in Russland erreichen können. Damit wird Deutschland selbst zur Zielscheibe, denn nach wie vor gilt der brandgefährliche Selbstzündungsmechanismus: „Rampen für Raketen sind Untergangsmagneten!“
Noch vor weniger als fünf Jahren wären diese Maßnahmen laut dem 1987 von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichneten (und im Februar 2019 von Donald Trump gekündigten) INF-Vertrag, der uns über 30 Jahre lang vor einem Atomkrieg in Europa bewahrt hatte, verboten gewesen. Die Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten. Drei Tage später kündigte Kremlsprecher Dmitrij Peskow entsprechende Gegenmaßnahmen an und sagte wörtlich: „Wir haben die Kapazitäten, diese Raketen in Schach zu halten, aber die potenziellen Opfer sind die Hauptstädte dieser europäischen Länder.“ – Man sollte diese Äußerung bitterernst nehmen!
Die Überrumpelung eines ganzen Landes durch dessen gewählten Regierungschef plus Kriegstüchtigkeitsminister ist atemberaubend und präzedenzlos. Entscheidungen solcher Größenordnung können unmöglich mal schnell während eines Jubiläumsgipfels im Hinterzimmer getroffen worden sein. Sie wurden offenbar, wie der Kanzler denn auch einräumte, in aller Stille langfristig vorbereitet. Und in der Tat: Der Investigativjournalist Dirk Pohlmann hatte noch eine Woche vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, am 15. Februar 2022, schon entsprechende US-Pläne veröffentlicht!
Wer zur „Generation 60 plus“ gehört und die Achtzigerjahre einigermaßen bewusst erlebt hat, der fühlt sich fast zu Tode erschreckt an die Nachrüstungsdebatte im Vorfeld der Stationierung der atomar bestückten US-Mittelstreckenraketen Pershing II und (wie heute) Cruise Missiles im Herbst 1983 erinnert. Mit dem kleinen Unterschied, dass es sich damals (1) noch um einen Doppelbeschluss gehandelt, USA und Sowjetunion also vor der Stationierung zwei Jahre lang in Genf (im Endeffekt ergebnislos) verhandelt hatten, die Maßnahme (2) immerhin – damals gegen erbitterten Widerstand der GRÜNEN und von Teilen der SPD – im Bundestag beschlossen wurde und ihr (3) eine massive Aufrüstung der Sowjetunion, Stichwort „SS 20“, im Mittelstreckenbereich vorausgegangen war!
Dieses Mal glaubt man, auf all das verzichten zu können. Es wurde lediglich nebulös auf eine schon lange existierende russische Bedrohung und eine von Moskau verursachte „Sicherheitslücke“ verwiesen.
Sollte damit die Stationierung von Iskanderraketen im Kaliningrader Oblast gemeint sein, so wäre dazu folgendes anzumerken: Diese Stationierung war die Reaktion Russlands auf die Installierung eines Moduls des globalen US-Raketen„abwehr“systems AEGIS vor der russischen Haustür in Polen, das – man nennt dies „offene Architektur“ – mit einer einfachen Veränderung der Software in ein Angriffssystem verwandelt werden kann. Die jetzige aus Washington angekündigte Maßnahme ist demnach eine Gegenreaktion der NATO auf eine Reaktion Russlands. – Der ihrerseits natürlich eine russische Gegen-Gegenreaktion folgen wird …
Dringliche Fragen
Der Handstreich von Washington wirft einige höchst dringliche Fragen auf:
Der „Kollateralnutzen“ oder: Eine neue Friedensbewegung
Aber vielleicht hat der schockierende Handstreich von Washington ja doch zumindest einen „Kollateralnutzen“ zur Folge. Im ‚optimalen‘ Falle könnte er nämlich der berühmte Tropfen sein, der das Fass endlich zum Überlaufen bringt!
ja, dann hätten wir vielleicht noch eine Chance!
Einmal jedenfalls hat eine solche Bewegung selbst den Chef einer Supermacht in seinem Handeln beeinflussen können. „Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!“
Das schrieb im Jahre 2017 ein gewisser Michail Sergejewitsch Gorbatschow.
Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.
Titelbild: Mehaniq/shutterstock.com
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