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Titel: Status vor Grips – Bei höherer Bildung haben natürlich Privilegierte den Hut auf
Datum: 17. Juli 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bildungspolitik, Chancengerechtigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
So „gerecht“ geht‘s zu in Deutschland: Mit den „richtigen“ Erzeugern wird ein Studium praktisch zum Selbstläufer. Sozial benachteiligte Kinder schaffen es dagegen ziemlich selten an die Uni, selbst dann nicht, wenn die Leistung stimmt. Eine neue Studie beweist einmal mehr, dass Aufstiegschancen vor allem eine Frage der Herkunft sind. Echte Besserung versprächen Milliardeninvestitionen in Kitas und Schulen sowie ein Sozialsystem, das Bildung zum zentralen Angelpunkt macht. Auf den Trichter kommt die Regierung nicht. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Es wäre wünschenswert zu wissen, wie viele Tellerwäscher es zeitlebens zum Millionär schaffen. Es dürften nicht allzu viele sein – mit Sicherheit sehr viel weniger als diejenigen, die an den amerikanischen Traum glauben, wonach man mit reichlich Fleiß, Wille und Durchsetzungskraft von ganz unten kommend ganz oben landen kann. Auch Deutschlands politische und wirtschaftliche Eliten hegen und pflegen ein Wohlstandsversprechen, kein so pathetisch-kitschiges, aber eines von ähnlicher Stoßrichtung. Es lautet „Aufstieg durch Bildung“ oder, in einer neueren Wendung, „Chancengerechtigkeit“ und meint: Gib den Menschen Werkzeuge an die Hand, sich zu bilden, dann werden sie reüssieren. Der wesentliche Unterschied zum US-Modell liegt darin, dass dort vorneweg das Individuum des Glückes Schmied zu sein hat, während bei uns der Staat in größerer Mitverantwortung steht, möglichst vielen Bürgern ein möglichst gutes (Berufs-)Leben zu ermöglichen.
Was beide Versionen gemeinsam haben: Die schönen Erzählungen sind eine Täuschung. Um wer zu werden im Kapitalismus, braucht es vor allem eines: Glück. Wobei das Wort im Sinne von „Schicksal“ oder „Zufall“ zu verstehen ist – nämlich dem, in die „richtigen“ Verhältnisse hineingeboren worden zu sein. Genauer gesagt und doch grob vereinfachend: Wer aus einem gebildeten Elternhaus stammt, hat selbst gute Aussichten, dereinst die Karriereleiter zu erklimmen. Diejenigen aus sozial benachteiligten Familien haben in dieser Hinsicht deutlich schlechtere Karten. Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) ermittelt seit 1985 in regelmäßigen Abständen die sogenannten sozialgruppenspezifischen Bildungsbeteiligungsquoten (BBQ). Anhand dieses Instruments kann man ziemlich zielsicher bestimmen, welchen Bildungsweg etwa ein Kind einschlägt, dessen Eltern beide Akademiker sind, und welchen ein Kind, das in einem Arbeiterhaushalt aufwächst.
Steine auf der Karriereleiter
Um das Wirken der BBQs zu verdeutlichen, verwenden die Forscher ein Modell, den „Bildungstrichter“. Die Vorstellung ist die: Oben kommen alle Neugeborenen jeder erdenklichen Herkunft hinein und durchlaufen anschließend verschiedene Bildungsphasen, vom Kindergarten über Grundschule, weiterführende Schule bis gegebenenfalls zu einem Studium. Allerdings gelingt das eben nicht allen, unterwegs gibt es erhebliche „Verluste“. Viele erreichen die Hochschule deshalb nicht, weil sie kein Gymnasium besuchen, nach der mittleren Reife direkt ins Arbeitsleben wechseln oder gar keinen Schulabschluss hinkriegen. Andere machen zwar ihr Abitur, starten danach aber eine Berufsausbildung. Und wieder andere fallen ganz durch, kommen weder zu einer Ausbildung noch zu einem Job.
Natürlich funktioniert das Konzept „Trichter“ nur auf der Bildebene: Oben ist er weit und nach unten verengt er sich. Beim „Bildungstrichter“ flutscht allerdings nicht alles durch, was reingeschüttet wird. Andererseits ließe sich sagen: Je mehr „Steine“ jungen Menschen mit auf den Weg gegeben sind, desto eher verstopft der Abfluss, gerät der Bildungsweg ins Stocken. Gar nicht funktioniert es mit „oben“ und „unten“. Wer bis nach „unten“ durchdringt, also akademische Weihen erlangt, hat es im echten Leben nach „oben“ geschafft, hat mitunter allerbeste Aufstiegschancen. Wer „oben“ stecken bleibt, dessen Zukunftsaussichten sind in der Regel eher mau. Gleichwohl hat das Bild eine große Anschauungskraft, zumal gefüttert mit den zugehörigen Zahlen, gerade denen für Deutschland, das mit seinem stark gegliederten Schulsystem traditionell übermäßig viele „Bildungsverlierer“ hervorbringt.
Arbeiterkinder an Unis krass unterrepräsentiert
In der Vorwoche wurde die neueste Auflage des „Bildungstrichters“ offiziell per DZHW-Brief vorgestellt. An zwei Stellen waren dessen Ergebnisse bereits im vor vier Wochen präsentierten „Nationalen Bildungsbericht“ der Bundesregierung aufgetaucht, ohne dass dies größere Aufmerksamkeit erregt hätte. Dabei schließen die Befunde nahtlos an die insgesamt desaströse Performance des deutschen Bildungssystems an.
Besonders eindrücklich ist das Modell als „Indikator zur Beschreibung der jeweils zu einem Zeitpunkt erreichten Chancengleichheit beim Zugang zur Hochschulbildung“. In der begleitenden Pressemitteilung liest sich das so: „Von 100 Kindern aus akademisch gebildeten Familien beginnen 78 ein Hochschulstudium. Bei nicht-akademisch gebildeten Familien sind es gerade einmal 25 von 100.“
Datengrundlage sind die Bevölkerungs- und Hochschulstatistik, der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes sowie „Die Studierendenbefragung in Deutschland“ aus dem Jahr 2021, die das DZHW gemeinsam mit der AG Hochschulforschung der Universität Konstanz und dem Deutschen Studierendenwerk (DSW) erhoben hat.
Gerecht geht über gleich
Wie sich zeigt, unterscheidet sich das Sozialprofil von Studienanfängern erheblich von dem der altersgleichen Gesamtbevölkerung. 55 Prozent stammen aus akademisch gebildeten Elternhäusern, wo mindestens ein Elternteil einen Studienabschluss vorweisen kann. In der Bevölkerung umfasst diese Gruppe nur 28 Prozent. Nimmt man Kinder aus Elternhäusern mit höchstens einer beruflichen Ausbildung, kehrt sich das Verhältnis um. Unter den Studienneulingen stellen sie 29 Prozent, in der Bevölkerung 52 Prozent. Kinder aus Familien mit komplett fehlender Ausbildung (zehn Prozent der Bevölkerung) bilden an den Hochschulen einen Anteil von kümmerlichen zwei Prozent. Das bedeutet: 92 von 100 Kindern von Eltern, die beide keinen verbrieften Ausbildungsabschluss haben, werden niemals eine Hochschule von innen sehen.
Damit bricht die Verheißung von „Chancengerechtigkeit“ in sich zusammen, ein Begriff übrigens, der in der politischen Kommunikation nicht zufällig dem der „Chancengleichheit“ den Rang abgelaufen hat. „Gleichheit“ klingt zu sehr nach DDR – „wer will denn so was“ –, und gerecht kann selbst ein Neun-zu-null der Bayern gegen Heidenheim sein. Wie die DZHW-Forscher ausführen, wird der Werdegang von Kindern schon viel früher im Bildungsverlauf vorgezeichnet. So besuchen Kinder von Nicht-Akademikern viel seltener Schulen, die zur Hochschulreife führen – von 100 sind es gerade einmal 46. Wobei das Gymnasium nicht der einzige Weg zum Ziel ist. Nicht selten wird der Umweg über berufliche Schulen genommen, worüber sich ebenso eine Hochschulzugangsberechtigung erlangen lässt. Akademikerkinder absolvieren hingegen zu 80 Prozent Schulformen, die den Weg zu Hochschulen eröffnen. Nur zwei weniger bleiben der Uni am Ende trotzdem fern, bei den „bildungsfernen“ Schulkameraden gehen 21 verlustig.
Schulnoten nachrangig für Erfolg
Die familiäre Prägung beginnt aber noch viel eher. Sprösslinge aus bevorteilten Elternhäusern haben häufiger einen Kitaplatz, obwohl gerade ärmeren Familien damit viel mehr geholfen wäre. Privilegierte bekommen im Kleinkindalter sehr viel häufiger vorgelesen, 79 Prozent in Akademikerhaushalten, 24 Prozent bei Eltern ohne Berufsabschluss. Entsprechend groß fallen auch die Unterschiede in puncto Wortschatz aus.
Andererseits ist es ein unzutreffendes Vorurteil, das soziale Umfeld zur Quelle mangelnder Bildung zu erklären. „Gerade bei späteren Übergängen, wie der Entscheidung für oder gegen ein Studium, sind es weniger die Leistungsunterschiede, die soziale Ungleichheiten vermitteln“, bemerkte dazu Soziologin und Studienautorin Sandra Buchholz. Relevanter seien andere Faktoren wie die antizipierten Kosten eines Studiums, die Wahrnehmung der „Eignung“ für ein Studium oder festgefahrene Bildungsvorstellungen von Eltern und Freunden. Eine neuere Studie kam zu dem Ergebnis, dass beim Vergleich sozial besser und schlechter gestellter Schüler die Entscheidung, an eine Uni zu gehen oder nicht, nur zu 15 Prozent auf Unterschiede in den Schulnoten zurückzuführen ist.
Skandal ohne Ende
Was die Lage noch bedrückender macht: Kleine Fortschritte, die zwischenzeitlich zur Hoffnung Anlass gaben, die „Gerechtigkeitslücke“ könnte sich allmählich schließen, sind womöglich bald schon wieder null und nichtig. Bei der vorangegangenen Analyse aus dem Jahr 2018 nahmen von 100 Akademikerkindern noch 79 ein Studium auf. Von 100 Kindern aus einem Nicht-Akademikerhaushalt waren es immerhin 27 – jetzt wieder zwei weniger. Wenn Mitautorin Ulrike Schwabe konstatiert, dass der starke Anstieg der Studienanfängerquote in den vergangenen Jahren „nicht zu einem nennenswerten Abbau herkunftsspezifischer Ungleichheiten beim Zugang zu hochschulischer Bildung geführt“ habe, dann mutet das sogar beschönigend an. Vielmehr kommt die neueste Bestandsaufnahme der von 2012 bedenklich nahe: Damals schafften es 23 Prozent der Kinder aus sozial benachteiligtem Elternhaus an eine Hochschule, heute, 15 Jahre später, gerade einmal zwei Prozent mehr – mit rückläufiger Tendenz.
Realistischer erscheint vor diesem Hintergrund das, was die Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vor einem Monat zum damals präsentierten „Nationalen Bildungsbericht“ zu sagen hatte. Die Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft habe in den vergangenen 20 Jahren offenbar sogar zugenommen, beschied sie. „Das ist nicht nur ein bildungs-, sondern auch ein gesellschaftspolitischer Skandal“, setzte sie nach, und weiter: „Der Anspruch der Politik, Aufstieg durch Bildung und gesellschaftliche Durchlässigkeit möglich zu machen, wird ad absurdum geführt.“ Das gilt schon sehr lange, in Zeiten allgemeiner Kriegsertüchtigung sicher noch viel mehr.
Titelbild: ITTIGallery/shutterstock.com
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