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Titel: Wir sind Kultur. Über geistige Ernährung

Datum: 9. Januar 2012 um 9:28 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Wertedebatte
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Ein Essay von Gert Heidenreich
Bildung ist die Verwandlung geistiger Erfahrung in lebendiges Bewusstsein – Bewusstsein im Sinne von Vorbereitung auf das Leben und von Bestimmung des eigenen Selbst im komplexen Gefüge aller anderen, also bildlich gesprochen: den eigenen Ort in der Welt zu finden und zu verstehen. Genau das ist offenbar kein Ziel der Pädagogik mehr – die Inhalte, die dafür nötig wären, werden zurückgedrängt zugunsten anderer Curricula, deren unmittelbar nützliche Anwendbarkeit im Berufsleben hervorgehoben wird. Der trainierte Mensch, der dabei entsteht, hat als Idealbild der sogenannten Informationsgesellschaft den gebildeten Menschen abgelöst.
Eine Entwicklung, die ich nicht nur für falsch halte. Sie stellt eine Beschädigung der jungen Menschen dar. Warum?

Das Eigentümliche an der Kultur ist, dass jeder gern darüber spricht und glaubt, dass er sie hat, zugleich aber meint, für ihr Bestehen nicht unbedingt den letzten Einsatz riskieren zu müssen. So kommt es zur Dürrenmatt’ schen Sottise, Kultur sei die “Petersilie auf dem Karpfen”. Dürrenmatt beschrieb damit aber nicht die Kultur, sondern ihr öffentliches Verständnis. Genau gesagt: Ihre Verwaltung in der Öffentlichkeit. Da ist sie ein Schmuck, der auch teuer sein darf, wenn es uns gut geht. Mit ihrer Bedeutung hat das nichts zu tun.

Die Bedeutung der Kulturfähigkeit des Menschen wird seitens der Anthropologie nicht mehr in einem luxuriösen Überschuss der Evolution gesehen, sondern als ein entscheidender Faktor im evolutionären Prozess, ja sogar als Reproduktionsvorteil. So betrachtet sind wir Kultur, bestehen wir aus Kultur und überleben wir durch Kultur. Es gibt zu ihr keine Alternative. Üblicherweise grenzen wir den Begriff auf das ein, was wir im engeren Sinn darunter verstehen: Kunst und Kulturtechniken, die sich mit dem Begriff der Bildung verbinden.

Das letzte Jahrhundert hat zu Einwänden gegen den Wert der Kultur geführt: Wie konnte ein Kulturvolk wie das Deutsche die exemplarische Barbarei des Zwanzigsten Jahrhunderts errichten? Da hat doch die Kultur versagt und ihre Bedeutungslosigkeit erwiesen.
Ein verbreiteter Irrtum, in dem eine Erkenntnis verpackt ist. Dass Hitler über Hölderlin gesiegt hat, lag nicht an Hölderlin. Es lag an denen, die Hölderlin preisgegeben haben, um Hitler akzeptabel zu machen. Ein Fall von kultureller Selbst-Korrumpierung im Volksmaßstab, die wiederum die Vorraussetzung war für die kollektive Preisgabe ethischer Normen.
Kultur und Bildung sichern dem Einzelnen nicht a priori die richtige sittliche und politische Entscheidung. Im Gegenteil: Sie fordern zu kritischer Bewertung heraus. Kultur verlangt Entscheidung und ersetzt sie nicht. Dass Barbarei sich durch Kultur nicht aufhalten lässt, ja dass sie oft sogar miteinander auskommen, ist vielfach geschichtlich belegt. Denn der Gegensatz zur Barbarei ist nicht die Kultur, sondern die Zivilisation. Darum kommt alles darauf an, dass wir zivile Zustände in den Köpfen und in der Gesellschaft erhalten.

Was mit Kunst in der Barbarei geschieht, ist hinlänglich bekannt. Sie wird in Dienst genommen und erstarrt. Sie büßt somit die Essenz ein, von der sie lebt: Ihren prozessualen, ihren dialogischen, mithin unfesten Charakter. Sehr verkürzt kann man sagen: wenn Kultur generell die Suche nach Möglichkeiten ist, mit der Welt umzugehen, dann ist die Kunst Suche nach eigenem Ausdruck für die Deutung der Welt. Sobald individuelle Ergebnisse solcher Suche sich so weit durchsetzen, dass sie zu allgemeiner Anerkennung gelangen, also Kultur werden im Sinne von gemeinschaftlicher Vereinbarung, beginnt das individuelle Suchen von neuem, so dass lebendige Kultur ein permanenter Prozess ist, der sich speist aus dem Überholen einer Lebenstechnik und Weltdeutung durch eine jeweils bessere oder zumindest andere und aus der Behauptung des eigenen Ausdrucks gegen den allgemeinen, den man auch Tradition nennt.
Anders gesagt: im dialogischen Prozess der Kultur, und nur als solcher ist sie sinnvoll zu denken, kommt es auf das Individuum und auf die kollektive Adaption in gleichem Maße an. Sowohl die individuelle kulturelle Arbeit, als auch die kollektive Aneignung und Verwandlung setzen Menschen voraus, die fähig sind, in diesem Prozess kritisch zu handeln. Sind sie dies nicht, jubeln sie Scharlatanen zu und halten geschickt inszenierte Aufmärsche für einen Ausdruck von Kultur, wie ein russisches Sprichwort sagt: “Wenn die Fahne flattert, steckt der Verstand in der Trompete.”

Kultur macht das Leben nicht bequem, sondern unruhig. Schönheit ist ebenso beunruhigend wie das Grauen, sonst hätte Rilke nicht vor dem Delphischen Apoll erschrocken festgestellt: “Du musst dein Leben ändern!” Kultur verweist uns auf den prozessualen Charakter des Lebens und braucht zugleich Individuen, die dazu fähig sind, in ihr keinen ewigen Wert, sondern den Dialog zu entdecken, den wir beispielsweise in der Kunst durch Jahrhunderte, sogar Jahrtausende führen können: Wenn wir uns darauf einlassen, finden wir, dass ein Kunstwerk, ganz gleich wie fern uns seine Entstehung liegt, in einen gegenwärtigen Dialog mit uns tritt.

Wer sich auf solche Dialoge einlassen will, bedarf dazu einiger kultureller Voraussetzungen. Deshalb ist Kultur mit Bildung auf Gedeih und Verderb verschwistert. Zumindest seit der Aufklärung, deren Segen ihren Schrecken doch überwiegt, ist unsere Kultur ohne Bildung nicht mehr denkbar.

Wie sieht es heute damit aus?
Wir haben, grob gesagt, starke Bildungsinstitute ohne Kultur. Das liegt weder an den Lehrenden, noch an den Lernenden. Es liegt an dem grotesk falschen Verständnis von Bildung, das sich in der Wissensgesellschaft durchgesetzt hat. Bildung als Konditionierung auf die Praxisbedürfnisse des Staates und seiner Wirtschaft führt zu einer, wenngleich nicht schädlichen Anhäufung von Wissen und Techniken zum Wissenserwerb. Niemand leugnet, dass angelernter Inhalt nicht nur sich selbst repräsentiert, sondern auch den Vorgang des Lernens als einer geistigen Erfahrung.
Unter der Perspektive der Kultur allerdings ist das keine Bildung des Menschen, denn seine hinreichende Ausstattung mit Instrumenten und Informationen setzt ihn noch nicht instand, entscheidungsfähig zu sein, möglichst autonom sein Leben zu gestalten und die Voraussetzungen allgemeiner Menschenwürde anzuerkennen.
Bildung ist die Verwandlung geistiger Erfahrung in lebendiges Bewusstsein – Bewusstsein im Sinne von Vorbereitung auf das Leben und von Bestimmung des eigenen Selbst im komplexen Gefüge aller anderen, also bildlich gesprochen: den eigenen Ort in der Welt zu finden und zu verstehen. Genau das ist offenbar kein Ziel der Pädagogik mehr – die Inhalte, die dafür nötig wären, werden zurückgedrängt zugunsten anderer Curricula, deren unmittelbar nützliche Anwendbarkeit im Berufsleben hervorgehoben wird. Der trainierte Mensch, der dabei entsteht, hat als Idealbild der sogenannten Informationsgesellschaft den gebildeten Menschen abgelöst.
Eine Entwicklung, die ich nicht nur für falsch halte. Sie stellt eine Beschädigung der jungen Menschen dar. Warum?

Ich will es am Beispiel der Literatur erläutern. Häufig stoße ich in Schulen, bei Lesungen vor Deutschleistungskursen – schon dieser Trainer-Titel erzeugt einen Abwehrreflex – auf Abiturjahrgänge, die erstaunlich wenig für ihr Fach gelesen haben, aber über ein ebenso verblüffendes wie überflüssiges germanistisches Fachwissen verfügen. Manche können eine Tautologie von einem Pleonasmus und diesen von einem Hendiadyoin unterscheiden, kennen aber keine Ballade, haben so gut wie nie ein Theaterstück ganz gelesen, oft nur einen Roman, mehr oder weniger vollständig; doch man hat ihnen die strukturellen Unterschiede der literarischen Gattungen und die Schubladen der Literaturepochen beigebracht. Manche wurden mit falschen Texten für die Poesie verdorben, weil es Lyrik gibt, die man erst begreift, wenn man selbst ein paar Lebensabgründe durchschritten hat. Bedeutende Werke kennen viele nur in Auszügen oder gar aus vorgefertigten Interpretationen. Freilich gibt es Gegenbeispiele: Wie überall hängt es auch hier von der Person des Lehrers ab, ob sich die Begeisterung für sein Fach auf die Schüler überträgt. Überwiegend aber tritt eine rudimentäre Literaturwissenschaft an die Stelle von Literaturerfahrung. Das ist gleichbedeutend mit der Zerstörung der Phantasie.
Von der lebenspraktischen Nutzanwendung solcher Germanistisierung des Deutschunterrichts bin ich nicht überzeugt. Schlimmer, viel schlimmer, ist etwas anderes – und dies greift über das Fach weit hinaus in den Bereich der Lebenskultur.

In unserer Gesellschaft können wir – und dies ist ein wahrhaft hoch einzuschätzender Gewinn – Wissen so leicht, so vielfältig und so umfänglich wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte erwerben und verwenden.

Das Internet ist, neben seinen scheußlichen Seiten, der neue Reichtum, der allen verfügbar ist. Das meiste, was heute in der Schule informatorisch gelehrt wird, lässt sich im Netz abfragen, und wenn man gelernt hat, kritisch zu fragen und skeptisch und flexibel mit den Angeboten umzugehen, erhält man richtige und nützliche Antworten. Zumal Wissen dort überwiegend auf neuestem Stand ist, das in den Schullehrplänen oft noch nicht aktualisiert wurde.
Was sich in der gigantischen Informationsbank aber nicht lernen lässt, ist der Umgang mit den eigentlich bedeutenden, tiefgreifenden, schwierigen Vorfällen des Lebens, die auf jeden von uns unausweichlich zukommen. Liebe und Trauer, Eifersucht und Verlust, Abschied und Enttäuschung, Krankheit und Beschädigung, Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit, Mut vor Autoritäten und Todesangst.

Auf diese Situationen bereitet die heutige Schule so gut wie nicht vor. Dabei liegt das Material dafür in unbegrenzter Menge bereit: Es ist die Literatur. In ihr und in den ihr verwandten Künsten Theater und Film lässt sich mittels der Phantasie antizipierend die eigene Empfindung, die eigene Entscheidung an der Stelle der scheiternden oder siegenden Helden erfahren und prüfen. In unserer Phantasie versetzen wir uns in die Lage der fiktiven Personen und lernen, indem wir gleichsam mit ihnen leben, ihre Art der Konfliktlösung kennen; wir erleben ihre Niederlagen, ihre Erfolge, ihren Untergang, ihre Erlösung. In der Literatur ist dieses Wissen der Kulturen über Jahrtausende unter dem Begriff „Schicksal“ versammelt – und nirgendwo sonst erfahren wir so intensiv, dass wir mit den entscheidenden Klippen in unserem Leben nicht allein sind, sondern dass sie schon immer zu den schmerzlichen und schönen Bedingungen menschlichen Seins gehört haben.

Mit solchen Grundereignissen, die uns anfangs immer überfordern, so umgehen zu können, dass wir authentisch bleiben und nicht hilflos und ratlos überwältigt werden, wenn sie eintreten, lässt sich üben: In der Fiktion, in der Kunst. Natürlich ist das Scheitern das größere Thema in der Dichtung, gehört die Erlösung eher in den Bereich der Religion. Die Literatur ist ganz so, wie wir Leser sind: Das Gute bewegt uns, aber das Böse hat unser Interesse, die Abgründe sind faszinierender als die Brücken. Auch erschöpft sich die Literatur nicht in ihrer Funktion als Übungsraum für unsere Vorahnung des Schicksals, ich rede ja hier noch nicht von Kunst. Aber die Möglichkeit, tief verstörende Konflikte, noch bevor sie sich für uns ereignen, am Leben der literarischen und biblischen Gestalten gleichsam spielerisch und auf einer noch nicht existentiellen Ebene seelisch durchleben zu können, bereitet uns – davon bin ich fest überzeugt – besser auf das Erwachsensein vor als jede akkumulierte Quantifizierung der Welt. Vor allem das Wissen um den Zusammenhang unserer Existenz mit der anderer Menschen, seien sie auch fernen Zeiten und Kulturen zugehörig, wird das besonders in der Pubertät häufige Gefühl der Vereinsamung mildern. Das Reich der Phantasie kann auf diese Weise in späteren Jahren unter Umständen Leben retten. Kindern und Jugendlichen dies nicht zu vermitteln, heißt sie zu beschädigen. Antrainierte Information ist dafür kein Ausgleich. Es ist, als ob man den jungen Menschen, bevor man sie ins Leben entlässt, großartige Werkzeuge in die Hände drückt, zehn „Tools“ an jedem Finger, ihnen aber zugleich ein Bein amputiert. Sollen sie doch ins Leben hüpfen, es gibt ja Geh-Hilfen an jeder Ecke, Hauptsache, sie können mit ihren Fingern die Wirtschaft profitabel steuern.

Ich kenne den Einwand, dass es immerhin Ethikunterricht gebe. Ich habe nichts gegen Ethikunterricht, auch nichts gegen Religionsunterricht. Aber niemand kann mir einreden, dass eine theoretische Erörterung der Frage, ob das Gesetz des Staates höher stehe als das sittliche Gesetz in mir selbst, ebenso fesselnd und für junge Menschen nachvollziehbar gestaltet werden kann, wie dies in der Antigone des Sophokles geschieht. Von jener jungen Frau, die ihr Gewissen der Staatsmacht entgegensetzt, beträgt die Zeitstrecke zu Sophie Scholl und der „Weißen Rose“ 2.400 Jahre, die Ideenstrecke ist winzig, der Konflikt bleibt unvermindert aktuell. Hier wird auf ganz andere Weise Auseinandersetzung provoziert und Stellungnahme abgefordert als bei der Erörterung des Kategorischen Imperativs von Immanuel Kant. In einem solchen Prozess erworbene Bildung meinte Demokrit von Abdera vor zweieinhalbtausend Jahren, wenn er feststellt:
“Bildung ist den Glücklichen Schmuck und den Unglücklichen Zuflucht.” Auch diesen Satz macht die historische Distanz heute nicht weniger zutreffend als seinerzeit. Dass die Bedeutung der Bildung jungen Menschen, die von Angeboten zur Ablenkung umschrieen werden, nicht einfach vermittelt werden kann, ist bekannt. Bildung war noch nie einfach, nur jetzt scheint sich einerseits eine Tendenz abzuzeichnen, die der Mühelosigkeit einen besonderen pädagogischen Wert beimisst, andererseits wird immer mehr Stoff in immer kürzere Lernzeiten gepresst. Und das in einer Gesellschaft, die im Zeitvertreib ein Lebensziel und -Glück sieht und die immenses Geld und ein erstaunliches Maß an Phantasie dafür aufwendet, den Menschen von sich selbst abzulenken und ihm dabei das Gefühl zu vermitteln, erst in der Ablenkung sei er ganz bei sich selbst. Die legitime Absicht von Unterhaltung, nämlich Entspannung, wandelt sich in der Zeitvertreibindustrie von einer Pausengestaltung zum Dauerzustand, dessen Folge nicht Erholung, sondern Bewusstseinslosigkeit ist.

Dennoch sollte der Schule möglich sein, zu klären, dass beim Zeitvertreib Lebenszeit vertrieben wird, und zwar im wörtlichen Sinn; dass es trotz der Nachmittagsserien des Fernsehens noch immer einen Unterschied zwischen Komödie und Klamauk gibt; dass jugendlicher Sängerwettstreit in den Medien nicht der Befriedigung von Sehnsüchten dient, sondern ihrer ausbeuterischen Vermarktung; dass das Lesen von Literatur nicht nur gut tut, weil die Gehirnforscher es dringend empfehlen, sondern weil wir dabei Gegenwelten erfahren; dass der alte Grundsatz, nicht für die Schule, sondern für das Leben zu lernen, nicht die Zurichtung für den Arbeitsmarkt meint, sondern tatsächlich das ganze Leben; dass Kultur in den Bildungsinstitutionen etwas mit Kultivieren zu tun hat; und es schadet nicht, dabei an den Ursprung des Wortes, das lateinische colere zu denken, das nicht nur pflegen, sondern auch pflügen heißt. Dabei geht es nicht darum, nette Muster in den Sand zu kratzen. Es geht darum, dass Pädagogik sich selbst wieder ernst nehmen darf und Lehrer nicht als ‚Infotrainer’ missbraucht werden.

Was hier so klingen mag, als räsoniere ein Nöckergreis und klage überholte Bildungswerte ein, ist möglicherweise ein fortschrittliches Plädoyer. Selten wurde in der Neuzeit öffentlich so viel über das Glück geschrieben und gesprochen wie in unserem Jahrzehnt. Fast schien der Begriff ganz der Werbung anheimgefallen, die ihn mit Geld und Gegenständen verklebte. Inzwischen wird darüber fast so viel, wenn auch nicht so gründlich nachgedacht wie in den dreihundert Jahren zwischen Epikur und Epiktet, und die Erörterung der nötigen Ingredienzien zum Lebensglück ernährt die neuen Autoren besser als einst die Philosophen. Doch anders als bei jenen steht Lebenskunst gegenwärtig nicht an vorderster Stelle, denn zu ihr gehören Erkenntnis und Bewertung der Welt, in der ich lebe, und solche wiederum setzen ein gewisses Maß an Bildung voraus. Unsere arbeitsteilige Gesellschaft hingegen hat für nahezu alle Wechselfälle des Lebens Beratungszentren und Service-Angebote geschaffen. Die Lebenshilfe-Buch-Produktion ist beeindruckend; von der alltäglichsten Verrichtung über die komplizierten Fragen der Liebe bis hin zu empfehlenswerten Variationen des Ablebens können wir uns, wenn wir dies als wünschenswert empfinden, auf andere verlassen. Kein Wunder: Je mehr ein Teil der Mediengesellschaft die Betäubung als Ziel sieht, um so dringlicher muss dort Service angeboten werden, wo Betäubung nicht mehr ausreicht.

Nun ist gegen Hilfe ist gar nichts einzuwenden. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass eine Kultur aus Zeitvertreib und Service die Autonomie des Individuums nicht fördert, sondern für überflüssig, ja eigentlich für geschäftsschädigend hält.

Für die kulturelle Vorstellung des emanzipierten Menschen gilt das Gegenteil. Notwendigerweise muss er im Besitz einiger Erfahrungen, und seien es angelesene, sein, die ihn befähigen, möglichst autonom zu handeln und kritische Distanz zu den Angeboten seiner Gegenwart zu wahren. Er sollte seine Urteile nicht geliehen haben, sondern herleiten können. Er sollte immerhin so viel selbst vernetztes Wissen verfügbar haben, um Entscheidungen treffen zu können, die auch späterer Begründung standhalten. Mit anderen Worten, er sollte ein Bewusstsein von sich selbst innerhalb der dialogischen Kultur und von der Vorläufigkeit seiner Ansichten und Einsichten haben. Nicht zuletzt gehört wohl zum gebildeten Menschen, dass er seiner Vernunft nicht Absolutheitsanspruch einräumt, denn einige überlebensnotwendige Maximen und sittliche Imperative sind rational nicht begründbar: Barmherzigkeit, Nächstenliebe, sogar die Menschenrechte sind keine Ergebnisse von Wissenschaft. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, nach eigener Auskunft ein „ konservativliberalen Sozialist“, hat darüber, zugespitzt, gesagt: „Die moderne Chimäre, die dem Menschen totale Freiheit von der Tradition oder jeglichem vorexistentem Sinn verspräche, (…) schickt ihn in eine Finsternis, in der alles mit gleicher Gleichgültigkeit betrachtet wird. Das utopische Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erfinden, die utopische Hoffnung auf grenzenlose Perfektion könnte das wirkungsvollste Instrument des Selbstmords sein, das die menschliche Kultur je geschaffen hat.“

Die Fähigkeit, jede Maxime, sei sie eigener Einsicht entsprungen oder einem allgemein vereinbarten Canon entnommen, stets auf ihr Menschenmaß, ihre Gemäßheit überprüfen zu können, setzt eben jene nicht nur rationale Bildung voraus, die, wie eingangs gesagt, aus der Verwandlung von Wissen in Bewusstsein entsteht. Die Entscheidung, nichts als ein Absolutum anzuerkennen, das sich selbst dazu erklärt – beispielsweise alleinseligmachende Ideologien und Religionen – ist natürlich zugleich eine der Voraussetzungen von Freiheit.

Ich will die Freiheitsfrage hier nicht erörtern, nur so viel: Eine Gesellschaft, in der sich die Idee der persönlichen Freiheit vorrangig ans Geld bindet, verliert möglicherweise den Blick auf die geistige Unabhängigkeit und die Autonomie des Individuums, die, wie ich glaube, einzig durch Bildung erreichbar ist. Die Demokratie, die stets um so mehr beschworen wird, je mehr sie ins Ungefähre gerät, ist vermutlich mehr als alle anderen politischen Organisationsformen darauf angewiesen, mehrheitlich von gebildeten Bürgern gestaltet zu werden; nicht nur, weil ungebildete Wähler leichter von Populisten überzeugt werden, sondern vor allem, weil Demokratie sich zu ihrem Überleben in einem ständigen Prozess der Mängelkorrektur befinden muss, anders gesagt: in permanenter Revision. Wie aber soll dies gelingen, wenn nicht die entscheidenden Mehrheiten in der Lage sind, sich bessere Alternativen zum gegenwärtigen Bestand auszudenken. Bildungslose Bürger wünschen sich meist nur eines: Das Ende aller Komplikationen. Dieser Wunsch führt, realisiert, in die Totalkomplikation, die man auch Katastrophe nennt.

Ich bin zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft diese Zusammenhänge, wenn nicht erkennt, so doch spürt und auf diese Weise dann auch wahrnimmt. In unserer freiheitlichen Gesellschaft mit ihrer Fülle von Medien sind die Einflüsse von veröffentlichten Informationen und Meinungen so komplex, dass wir die Wirkungen und Wechselwirkungen von Kommunikation längst nicht mehr definieren oder gar klassifizieren können. Inzwischen ist kein generationenübergreifender Vorrang bestimmter Multiplikatoren mehr auszumachen. Was für den einen die Tagesschau, sind für die anderen längst Blogs und Twitter und facebook. Nachrichten-Apps auf dem iPhone ersetzen für eine beträchtliche Menge sogenannter User die Tageszeitung. Digitale Enzyklopädien werden weitaus häufiger genutzt als vormals die gedruckten. Und wenn einst beim Aufschlagen des Lexikons an der falschen Stelle, wo man sich vielleicht festlas, der Bildungsvorteil des schönen Umwegs den Leser bereicherte, so ist heute die Menge der Links in einem Artikel eine sehr viel größere Versuchung, die eigene Suche auszuweiten. Das kann, wer Bildung schätzt, nur begrüßen.

Sowohl freie Organisation von privaten Bildungszirkeln und -vereinigungen, Kulturinstituten und Diskussionsforen im Internet, als auch die deutliche Zunahme von Dokumentationen zu Geschichte, Naturgeschichte und Geistesgeschichte in diversen Fernseh- und Rundfunkprogrammen können darauf hin deuten, dass Inhalte, die von den Ausbildungsinstitutionen zugunsten der Konditionierung vernachlässigt werden, gleichsam auf den freien Markt ausweichen. Für die dialogische Kultur ist das ein Prozess, der möglicherweise erfolgreicher ist, als wir messen können. Leider wird das Angebot überwiegend von Bürgern über Fünfzig wahrgenommen.

Der Jungen Generation wird gern angepasstes Verhalten unterstellt. Die Demonstrationen der Studenten haben eine andere Jugend gezeigt. Gegenüber einer Politik, die offensichtlich die Normierung von Prüfungsabläufen für wichtiger hält als die sinnvolle Gestaltung des Bildungsprozesses, hat diese Jugend das richtige Bedürfnis zum Ausdruck gebracht: Bildung wieder mit Umfänglichkeit, Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsfähigkeit zu verbinden.
Sie dafür als “gestrig” zu beschimpfen, wie die damalige und jetzige Bundesbildungsministerin Annette Schavan es bei den ersten Demonstrationen von Schülern vor einem Jahr tat, ist absurd. Im Gegenteil: Diese Jugend spürt, dass sie nicht ausreichend auf die persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte vorbereitet wird, die auf sie zukommen. Und sie fordert diese Vorbereitung ein. Präzise heißt es auf den studentischen Transparenten: „Wir demonstrieren für bessere Bildung!“ – nicht für bessere Ausbildung. Die Reaktionen der politisch Verantwortlichen zeigen bisher ein Ausmaß an Unverständnis, das allenfalls mit Betriebsblindheit zu erklären, keineswegs aber zu rechtfertigen ist. Als ginge es darum, ein paar trotzigen Kindern entgegenzukommen, wird, wie Kastanien in der Wildfütterung, eine leichte Erhöhung des Bafög hingeworfen. Da und dort meinen Kultusminister, sie könnten mit dem Versprechen, Lernstoff zu vermindern, Ruhe erkaufen. Die Kanzlerin erklärt vor dem deutschen Parlament: „Bildung ist mehr denn je der Rohstoff der Deutschen“, und der Bundestag applaudiert, statt in sardonisches Gelächter auszubrechen. Die Formulierung „mehr denn je Rohstoff der Deutschen“ lässt sich nur als kurios deuten, denn einerseits behauptet Frau Merkel, wir lebten noch mehr von Bildung als einst von den Rohstoffen Kohle und Eisenerz, andererseits unterstellt sie, wir selbst bestünden aus Bildung, und zwar „roh“ – was nun offensichtlich unsinnig ist. Denn Bildung im klassischen Sinn ist Veredlung des Menschen, Befreiung aus seinem Rohzustand.
Unfreiwillig enttarnt die Formulierung ein Verständnis von Bildung, das ins Regierungskonzept passt: „Rohstoff“ nämlich enthält keinen Mehrwert. Und was in unserer Gesellschaft keinen Mehrwert hat, ist eben nicht mehr wert als Rohstoff.

Es fällt leicht, solche fahrlässigen Dummheiten aufs Korn zu nehmen. Schlimm ist, dass sie als Parolen einer Politik dienen, die den Mehrwert der Bildung für die Demokratie schlicht nicht begreift. Mit solchen Formeln lassen sich die Studenten, man ist versucht zu sagen: Gott sei Dank, nicht abspeisen. Die jungen Frauen und Männer, die derzeit in ihren Universitäten und auf öffentlichen Straßen und Plätzen auf ihre Lage aufmerksam machen, haben offenbar begriffen, worum es in ihrem Leben gehen wird: um Flexibilität im Denken, die Fähigkeit zur Entscheidung mit der nötigen Skepsis, um den Lebenszusammenhang innerhalb ihrer Kultur, Neugier und permanenten Blick übern Tellerrand, Freude am Wissen, Verantwortung für sich selbst und um wichtige emotionale Grundlagen für ein gelungenes Leben. Stattdessen erfahren sie, dass sie für einen Arbeitsmarkt konditioniert werden, der dann, wenn sie ihn erreichen, längst andere Voraussetzungen haben wird.

Es ist lehrreich für einen sogenannten Altachtundsechziger wie mich, einer Studentenversammlung in einer besetzten Universität zuzuhören. Ich hatte die Gelegenheit im Audimax der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Selbstverständlich war es ein Dejavu. Und doch wieder nicht. Diese Studenten heute verfügen über eine bessere Diskussionskultur. Wo wir ausgebuht oder zugejubelt haben, herrscht hier eine fast lautlose Zeichensprache, mittels derer ständig Zustimmung, Ablehnung, Kritik und Einwand geäußert werden – während die Rede hörbar bleibt.

Natürlich hat auch diese Generation Schwierigkeiten, die eigenen Ziele treffend zu formulieren. Wo die 68er seinerzeit versucht haben, dieses Land für sich geistig bewohnbar zu machen, geht es heute darum, das Land lebenswert zu erhalten. Und welche Aufgabe wäre angemessener für eine Generation, die jetzt anfängt, sich zu orientieren?

Man soll die jungen Menschen nicht anlügen, indem man behauptet, sie hätten derzeit durch unser Bildungssystem gute Aussicht auf ein gelungenes Leben. Man soll nicht versuchen, sie mit ein paar Häppchen weniger Lernstoff und etwas mehr Geld stillzustellen. Man sollte nicht, wie die Bundesministerin Schavan, Polizeieinsätze gegen Universitätsbesetzer gutheißen und zugleich auf Ermüdung der Proteste spekulieren. Solche Arroganz treibt die Jugend am Ende auf die Barrikaden. Auch dazu hat übrigens Demokrit schon zutreffend gesagt: “Es gibt Verstand bei den Jungen und Unverstand bei den Alten. Denn nicht die Zeit lehrt denken, sondern eine frühzeitige Erziehung und Naturanlage.”
(18.02.2010.)

Die obige Rede Gert Heidenreichs zur Feier „20 Jahre Kulturforum Starnberg“ wurde am 13.12.2009 in der Sendung DIE AULA des SWR Hörfunks ausgestrahlt. Die Wiedergabe auf kulturpixel.de erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Bildzitate entstammen dem in den Jahren 1977 bis 1983 entstandenen Bilderzyklus “Café Deutschland” von Jörg Immendorf (“Café Deutschland I”, 1977/78, und “Caféprobe”, 1980).
Gert Heidenreich studierte Germanistik, Philosophie, Soziologie und Theatergeschichte in München. 1986 wurde er mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet und war von 1991 bis 1995 Präsident des P.E.N.-Clubs (West). Bekannt wurde er nicht nur als Schriftsteller, Journalist, Regisseur und Dramaturg, sondern auch durch seine Hörbücher und als Hörfunk- und Fernsehsprecher. (Quelle: br-online.de.) Zu den Autoren seiner Hörbücher – die man nicht kaufen muss, sondern auch über einen Online DVD Verleih beziehen kann – zählen Friedrich Ani, Lucette ter Borg, Jürgen Roth und Hans Well, Lilian Noetzel, Elia Barceló, Uwe Timm, Friedrich Dürrenmatt, Georges Simenon, Paolo Coelho, Emile Zola, Guy de Maupassant, Nikolaj Gogol, Prosper Mérimée, Italo Svevo, Pierre Loti, Johannes Mario Simmel, Martin Suter, Raymond Chandler, F. Scott Fitzgerald, Salman Rushdie und der Dalai Lama; aus meiner Sicht herausragende Titel sind: J. R. R. Tolkien, Hobbit, Elbenwald und Der Herr der Ringe; Umberto Eco, Der Name der Rose; Grimms, Andersens und Hauffs Märchen; Charles Darwin, Die Fahrt mit der Beagle; Herbert Rosendorfers Deutsche Geschichte sowie Auszüge aus Karl Marx, Das Kapital. Leichtere Kost bieten Erotische Mysterien und – durchaus dazu passend – eine Thomas-Gottschalk-Biographie. – Nichts gegen HDTV, aber: Auch ein gutes (Hör-) Buch ist ein paar Mouseclicks wert …

Anmerkung WL: Der Essay von Gert Heidenreich ist zwar schon etwas älter, aber aktueller denn je.


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