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Titel: Auf der Suche nach neuen Ideen – Vom „Ego-Kapitalismus“ zur katholischen Soziallehre

Datum: 13. Juli 2024 um 14:00 Uhr
Rubrik: Neoliberalismus und Monetarismus, Rezensionen
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„Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“, schrieb Karl Marx im „Kommunistischen Manifest“. Und auch der britische Starökonom John Maynard Keynes wusste um die Macht der Ideen. Im Schlusswort seines Hauptwerks „General Theory“ erklärte er: „Die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen sind, sowohl wenn sie im Recht als auch wenn sie im Unrecht sind, einflussreicher als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat nicht durch viel anderes regiert.“ Ganz in der Tradition der Geistesgrößen seines Fachs stehend, beschäftigt sich auch der Ökonom Patrick Kaczmarczyk in seinem neuen Buch „Raus aus dem Ego-Kapitalismus“ mit den Ideen, die die Welt beherrschen. Eine Rezension von Thomas Trares.

„Tatsächlich bestimmt kaum etwas unseren wirtschaftspolitischen Kurs so entscheidend wie unsere Vorstellungen über die Welt“, schreibt Kaczmarczyk. (S. 15) Wie der Titel bereits erahnen lässt, gerät sein Buch letztendlich zu einer Abrechnung mit dem Neoliberalismus und der ihn tragenden wissenschaftlichen Denkschule, der Neoklassik – also mit jenen Ideen, die in den vergangenen 40 Jahren den wirtschaftspolitischen Diskurs geprägt haben.

Der „Ego-Kapitalismus“ als Ideologie

Statt von Neoliberalismus spricht Kaczmarczyk auch gern von „Ego-Kapitalismus“, ein Begriff, der bei einer Unterredung mit dem Influencer Wolfgang M. Schmitt entstanden ist und der namensgebend für sein neues Buch werden sollte. Was genau darunter zu verstehen ist, erklärt Kaczmarczyk wie folgt: „Die dem Ego-Kapitalismus zugrunde liegende Ideologie geht davon aus, dass in einer Volkswirtschaft alle Akteure unabhängig voneinander agieren und jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich ist. Arbeitslosigkeit und Armut werden zum Problem der Faulheit beziehungsweise der eigenen geringen Produktivität. Übermäßiger Reichtum hingegen wird zum Ergebnis von Genialität und Unternehmergeist. Das wirtschaftlich erfolgreiche Land wird für seine Reformen gelobt, das krisengeschüttelte für Korruption und fehlende ‚Strukturreformen‘ kritisiert.“ (S. 15)

Kaczmarczyk selbst ist Entwicklungsökonom und derzeit als wirtschaftspolitischer Referent und Berater tätig, unter anderem für die Vereinten Nationen in Genf wie auch für das SPD-Wirtschaftsforum in Berlin. 2022 bereits erschien sein Erstlingswerk „Kampf der Nationen“. Darin stellte er der neoliberalen Wettbewerbsideologie des „Höher, Schneller, Weiter“ einen Politikansatz gegenüber, der auf den Ideen des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter fußt und auf einen aktiven, unternehmerisch agierenden Staat setzt. Ähnlich verfährt Kaczmarczyk auch in seinem neuen Buch. In diesem hält er dem „Ego-Kapitalismus“ die Positionen der katholischen Soziallehre entgegen, zu deren wirtschaftspolitischen Grundpfeilern die Bekämpfung von Armut, die Orientierung am Gemeinwohl wie auch eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik gehören.

Soziale und ökologische Krise

Zunächst jedoch arbeitet sich Kaczmarczyk ausführlich am „Ego-Kapitalismus“ ab. Dazu wälzt er jede Menge Daten: Statistiken über Pro-Kopf-Einkommen, Armut und Ungleichheit, aber auch über die CO2-Konzentration in der Atmosphäre, und das nicht nur für Deutschland, sondern auch für die USA, China und die Welt insgesamt. Das Ergebnis: Der „Ego-Kapitalismus“ hat die Welt in eine soziale und ökologische Krise gestürzt. Die Erfolge, die im Globalen Süden in puncto Armutsbekämpfung nach 40 Jahren Globalisierung erzielt wurden, gehen fast allein auf China zurück, also auf ein Land, das gerade nicht auf Kapitalismus setzt. Und selbst im reichen Deutschland ist die Bilanz ernüchternd, die Ungleichheit extrem. „Zwei Familien besitzen mehr als 41,5 Millionen Menschen“, betont Kaczmarczyk. (S. 52)

Wesentliche Bestandteile des neoliberalen Paradigmas sind „der Glaube an die Segnungen des heiligen, weil allwissenden und allmächtigen Marktes“, das Prinzip Eigenverantwortung und die „Individualisierung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme“. Produktion, Einkommen und Beschäftigung sind sozusagen ein „natürliches Ergebnis“, das unmittelbar dem individuellen Optimierungskalkül entspringt. Das Sinnbild neoliberaler Politik ist die Agenda 2010 mit ihrem Prinzip des „Forderns und Förderns“ – „ein Euphemismus für einen Ansatz mit der Peitsche, der Arbeitslose mit ökonomischer Gewalt in Arbeit zwingen soll“, wie Kaczmarczyk bemerkt. (S. 82)

Die Mechanik des Nutzens und des Eigeninteresses

Entstanden ist die Neoklassik im späten 19. Jahrhundert in Anlehnung an die klassische Mechanik, die damals das Denken in der Physik bestimmte. Der Ökonom William Jevons sprach seinerzeit auch von der „Mechanik des Nutzens und des Eigeninteresses“. Damals glaubte man, die Mechanik wäre auf dem Weg zu einer einzigen, allumfassenden Theorie. „Eine solche Welt der allgemein gültigen ‚Gesetze‘, die sich im Idealfall mit einer einzigen Formel beschreiben könnte, wollte man in der Ökonomie ebenfalls haben“, schreibt Kaczmarczyk. (S. 96) Der Mensch wurde als „Vergnügungsmaschine“ konzipiert, die Neoklassik als „harte und wertneutrale Wissenschaft“, deren Gesetze ebenso wenig hinterfragt werden dürfen wie das Gesetz der Schwerkraft.

Dieses „bisher dominierende, technokratische Framing des Ego-Kapitalismus“ will Kaczmarczyk nun überwinden, er will weg vom neoliberalen hin zum progressiven Freiheitsbegriff der christlichen Soziallehre, der durchaus auch klassisch-liberale Positionen wie materielles Wachstum und die Akkumulation von Gütern umfasst. „Die Heilsgeschichte ist keine Vertröstung auf eine entfernte Gegenwart. Sie beginnt bereits im Hier und Jetzt und hat auch eine materielle Komponente“, schreibt Kaczmarczyk (S. 154 f.).

Die Prinzipien der Soziallehre

Gleichwohl geht die Soziallehre noch weit über den neoliberalen Freiheitsbegriff hinaus. Das Recht auf Privateigentum etwa ist dort eng mit dem Prinzip der „allgemeinen Bestimmung der Güter“ verknüpft. Im deutschen Grundgesetz findet sich dieses Prinzip in Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, heißt es dort. Ferner lässt sich aus der „unverhandelbaren und unteilbaren Würde des Menschen“, dem Eckpfeiler der katholischen Soziallehre, der „Primat des Menschen im Produktionsprozess“ oder anders formuliert das Prinzip des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital ableiten. Dieses umfasst nicht nur die Forderungen nach einem Recht auf Arbeit, nach humanen Arbeitsbedingungen und einer angemessenen Entlohnung und Verteilung, sondern auch ein System der sozialen Absicherung mit Vollbeschäftigung als dem „Pflichtziel für jede auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl ausgerichtete wirtschaftliche Ordnung“. (S. 168)

Fazit:

In einer Zeit, in der immer mehr Menschen den beiden großen Amtskirchen den Rücken kehren, mutet es schon etwas verwegen an, ausgerechnet in der christlichen Soziallehre das Leitbild für die künftige Wirtschaftspolitik zu sehen. Dieses Einwands ist sich Kaczmarczyk auch durchaus bewusst. So stellt er etwa fest, dass „es trotz zunehmender Säkularisierung und trotz der Glaubwürdigkeitsverluste der Kirche das Christentum ist, das unsere Moralvorstellungen geprägt hat und einen hohen Einfluss auf unsere gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen ausübte (und weiterhin ausübt)“. Und weiter schreibt er: „Gerade, weil wir uns dessen heute weniger bewusst sind, lohnt es sich meines Erachtens, unsere Sinne dafür zu schärfen.“ (S. 136)

Das kann man durchaus so sehen, und nimmt man nun auch noch die Zeit vor dem Jahr 2020 zum Maßstab, dann hat Kaczmarczyk auch durchaus ein schönes Buch mit einem interessanten und wichtigen Inhalt geschrieben. Gleichwohl weist sein Werk aber auch eine markante Leerstelle auf. Denn Kaczmarczyk schreibt und doziert viel über Krisen, vor allem über die soziale und ökologische, die aktuelle Krise von Rechtsstaat und Demokratie sowie eines sich immer autoritärer gebärdenden Staates kommt in seinem Buch jedoch irgendwie gar nicht vor.


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