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Titel: Ein Vabanquespiel mit Höchsteinsatz – oder: Stell dir vor, der Krieg kommt näher, und keinen juckt’s!
Datum: 13. Juli 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
In den letzten Monaten wurden im Westen einige grundlegende Entscheidungen getroffen, die – einzeln und erst recht in ihrer Gesamtheit – dazu geeignet sind, den Krieg in der Ukraine dramatisch zu eskalieren. Sowohl europäische NATO-Staaten wie Deutschland und Frankreich, aber auch die USA selbst könnten bald in Sekundenschnelle direkte Kriegsparteien werden. Der fällige Aufschrei in den betroffenen Ländern? Fehlanzeige! Von Leo Ensel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Nachrichten der vergangenen Wochen:
Prompt tauchten am 12. Juni in Kuba, rund 200 Kilometer vor der US-Küste, vier Schiffe der russischen Marine, darunter die Fregatte „Admiral Gorschkow“ und das Atom-U-Boot „Kasan“, auf, die mit SS-N-23 Zirkon-Hyperschall-Marschflugkörpern bewaffnet sind. Parallel dazu wurden im Westen Russlands Übungen mit taktischen Nuklearwaffen abgehalten.
Über die Gründe, die den amerikanischen Präsidenten bewogen haben, mit dem von ihm durchaus erkannten Risiko eines dritten Weltkrieges nun deutlich sorgloser umzugehen, kann man nur spekulieren. Seine Entscheidung zeitigte jedenfalls mindestens zwei gravierende Konsequenzen:
Das russische Außenministerium bestellte daraufhin die US-Botschafterin Lynne Tracy ein und erklärte die USA zur Konfliktpartei. Für die Attacke sei Washington hauptverantwortlich, da die Zieldaten für ATACMS, basierend auf US-Aufklärungsdaten, von den Amerikanern bereitgestellt bzw. programmiert würden. Moskau kündigte Konsequenzen an, der Angriff werde „nicht ungestraft bleiben“. – Dazu der Investigativjournalist Dirk Pohlmann lakonisch: „Die russischen Maßnahmen sind die letzte diplomatische Stufe vor einer Kriegserklärung.“ Mit anderen Worten: Die Lage steht kurz davor, außer Kontrolle zu geraten!
Dass beide Hauptakteure sich dessen durchaus bewusst sind, beweist ein Telefongespräch, das US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 25. Juni mit seinem russischen Kollegen Andrei Beloussow führte. Es war der erste Kontakt auf dieser Ebene seit dem 15. März 2023.
Selenskyj fordert als weiteren Eskalationsschritt benachbarte NATO-Staaten dazu auf, von ihrem Luftraum aus russische Raketen über ukrainischem Territorium zu bekämpfen. Die NATO ihrerseits stellt nun F-16-Kampfflugzeuge für die Ukraine zur Verfügung, die offenbar auch von rumänischen Flugplätzen aus operieren sollen. Sie werden mit weitreichenden JASSM-Marschflugkörpern und AIM-120-Luft-Luft-Raketen ausgerüstet sein. Dass infolge dessen der Krieg auf NATO-Territorium übergreifen könnte, liegt auf der Hand.
Der Krieg kommt näher – oder: Die unterschiedlichen Eskalationsstrategien
Jede dieser Maßnahmen wäre geeignet, den Krieg dramatisch zu eskalieren. Was sie in ihrer Gesamtheit anrichten könnten, das mag man sich nicht ausmalen. Und dabei ist die Bedeutung des Zufalls, der ja beim Ausbruch des I. Weltkrieges eine verhängnisvolle Rolle spielte, noch gar nicht miteinkalkuliert.
Man sollte sich jedenfalls nicht in falscher Sicherheit wiegen: Dass Moskau nach den kriminellen ukrainischen Attacken auf das russische Raketenabwehrsystem geradezu gespenstisch zurückhaltend reagierte – aus dem Kreml gab es überhaupt keine Stellungnahme, lediglich ein zweitrangiger Politiker protestierte lauthals –, dass es auch seiner Ankündigung, der ukrainische Angriff auf Sewastopol werde „nicht ungestraft bleiben“, bislang keine Taten folgen ließ, ist keineswegs vermeintlicher Schwäche geschuldet. Laut General a. D. Harald Kujat, der die aktuelle Situation für gefährlicher als die Kubakrise einschätzt, verfolgen die USA und Russland unterschiedliche Eskalationsstrategien, was in einer zugespitzten Situation fatale Folgen haben könnte: „Während die USA in kleinen kontrollierten Schritten versuchen, das Risiko des Gegners zu vergrößern und das eigene Risiko zu minimieren, ist Russlands Toleranzschwelle hoch. Aber es ist nicht klar, wann eine Eskalation diese überschreitet. Dann erfolgt jedoch eine schnelle und sehr harte Gegenreaktion.“ Es liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, dass Russland in nicht allzu ferner Zukunft, scheinbar unprovoziert und aus heiterem Himmel, mit einem Eskalationsschlag auf erheblich höherem Niveau reagieren könnte.
By the way: Und der unabhängige Beobachter, will sagen: das prospektive Opfer dieser Salto-mortale-Strategien, fragt sich fassungslos, ob es nicht längst allerhöchste Eisenbahn ist, dass beide Seiten endlich einmal Deeskalationskonzepte entwickeln und umsetzen …
Der Kulminationspunkt – dies zu erkennen, muss man kein Militärfachmann sein – wird dann erreicht sein, wenn eine der kriegführenden Seiten sich definitiv in die Ecke gedrängt fühlen und ohne Gesichtsverlust keinen Ausweg mehr sehen sollte. Spätestens dann könnte die Situation wirklich außer Kontrolle geraten. Sollte die von allen Akteuren gegenwärtig verfolgte Eskalationsstrategie sich bruchlos fortsetzen und im letzten Moment nicht doch noch die Diplomatie die Oberhand gewinnen, dann ist die Gefahr, dass der Krieg zumindest auf andere europäische Staaten übergreifen oder gar zu einer direkten Konfrontation zwischen beiden atomaren Supermächten führen wird, extrem groß.
Und ob Deutschland dann als Kriegspartei angesehen und entsprechend behandelt wird, das entscheidet, wenn es Spitz auf Knauf steht, keine völkerrechtliche Rabulistik bei Maischberger, Lanz, Miosga oder in der Bundespressekonferenz, sondern – ob es uns passt oder nicht – einzig und allein Moskau, das sich seiner Interpretation gemäß verhalten wird! In Russland gibt es längst Stimmen namhafter Politikberater, die sogenannte „präventive nukleare Vergeltungsschläge“ fordern und dafür plädieren, „die Angst zurückzubringen“.
Unser Land wird sich dann in einer dramatischen Lage befinden, denn zahlreiche militärpolitische Maßnahmen der letzten Jahrzehnte haben uns längst zur Zielscheibe im Krisen-, gar Kriegsfall gemacht. Bevorzugte Ziele russischer Attacken in Deutschland – ob nuklear oder ‚konventionell‘ – wären unter anderem: Wiesbaden (künftiges NATO-Hauptquartier für den Ukraineeinsatz), Stuttgart (Sitz des Europäischen Kommandos der Vereinigten Staaten), Bremerhaven (Drehscheibe für US-Truppentransporte Richtung NATO-Ostgrenze), Grafenwöhr (Truppenübungsplatz für die Ausbildung ukrainischer Streitkräfte), Büchel (Atomwaffenlager für die ‚nukleare Teilhabe‘) und natürlich das pfälzische Ramstein (Zentralmodul der globalen US-Kampfdrohneneinsätze). Und selbstverständlich würde dies – „Rampen für Raketen sind Untergangsmagneten!“ – erst recht für die Orte der ab 2026 wieder in Deutschland stationierten amerikanischen Cruise Missiles und Hyperschallraketen gelten.
Kurz: Was im Moment von den Hauptverantwortlichen zu beiden Seiten der Front, also in Washington und Moskau sowie mit Abstrichen in Kiew, Brüssel, Paris, London und Berlin inszeniert wird, ist nichts weniger als ein Vabanquespiel mit Höchsteinsatz, für das wir alle, falls es schiefgehen sollte, mit unserem Leben bezahlen werden.
Aber warum nimmt die Bevölkerung all das immer noch in scheinbarer Gelassenheit hin?
„Boiling frog“ – oder: Die schleichende Gewöhnung …
Stellen wir uns für einen Moment vor, am 27. Februar 2022 hätte Bundeskanzler Scholz in seiner „Zeitenwende-Rede“ nicht nur die Bereitstellung von 100 Milliarden Sonderschulden für die Aufrüstung der Bundeswehr angekündigt, sondern zudem der Ukraine für die folgenden 30 Monate Hilfen im Gesamtwert von rund 34 Milliarden Euro versprochen, darunter die Lieferung von u.a. 340.000 Schuss Munition 40mm, 2.425 Sturmgewehren, 13.000 Panzerabwehrhandwaffen, 262 Aufklärungsdrohnen, 155.000 Schuss Flakpanzermunition, fünf Mars-Mehrfachraketenwerfern, 36 Rad-Haubitzen RCH 155, 14 Panzerhaubitzen 2000, 120 Marder-Schützenpanzern, 50 Leopard-Kampfpanzern, drei HIMARS-Raketenwerfern und drei Patriot-Luftverteidigungssystemen sowie die Ausbildung von über 10.000 ukrainischen Soldaten an diversen Waffensystemen. Er hätte Präsident Selenskyj erlaubt, mit deutschen Waffen russisches Territorium zu attackieren, und schließlich gefordert, Deutschland müsse nun kriegstüchtig werden, er rechne mit einem Krieg mit Russland „in fünf bis acht Jahren“. Als Erstes würden bald wieder amerikanische Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von über 2.000 Kilometern sowie ultramoderne Hyperschallraketen in Deutschland stationiert. Der Aufschrei, der anschließend durch das Land gebraust wäre, hätte den Kanzler vermutlich hinweggefegt.
Heute ist all das, was noch vor zweieinhalb Jahren im Bereich des Undenkbaren war, längst krude Realität, die, wenn überhaupt, nur noch mit fatalistischem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird. Wie ist das möglich?
Die Antwort liefert uns das sogenannte „Boiling-Frog-Syndrom“: Setzt man einen lebendigen Frosch in kochendes Wasser, spürt er die drohende Gefahr und springt sofort weg. Setzt man ihn aber in einen Topf mit kaltem Wasser und erhitzt diesen ganz langsam, verhält er sich ganz anders. Da Frösche Kaltblüter sind und ihre Körpertemperatur der Umgebung anpassen, spürt er die Gefahr nicht und bleibt sitzen – so lange, bis es für einen Absprung zu spät ist.
Wir sollten daher, nicht zuletzt angesichts unserer kaltblütigen Journalisten und Politiker, eines nicht vergessen: Der Frosch, der, ohne es zu merken, langsam aber sicher lebendigen Leibes verkocht wird, sind – wir!
Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.
Titelbild: Creativa Images/shutterstock.com
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