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Titel: Die Rolle der NGOs „im Kampf gegen Desinformation“ – Ein Insiderbericht
Datum: 16. Juli 2024 um 11:00 Uhr
Rubrik: Überwachung, Erosion der Demokratie, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Andrew Lowenthal hat sich mehr als zwei Jahrzehnte lang beruflich für digitale Rechte eingesetzt und musste dann feststellen, wie seine Kollegen und Partnerorganisationen von der Verteidigung digitaler Rechte radikal umschwenkten und sich dem „Kampf gegen Desinformation“ verschrieben. Ein Bericht aus dem Inneren des NGO-Systems von Andrew Lowenthal, übersetzt aus dem Englischen von Maike Gosch.
Ich wusste, dass die Dinge in meiner Welt nicht gut standen, aber die Wahrheit war dann noch viel schlimmer, als ich es erwartet hatte.
Mein Name ist Andrew Lowenthal. Ich bin ein progressiv (im Deutschen etwa: links-liberal, Anm. d. Übers.) denkender Australier und war fast 18 Jahre lang Geschäftsführer von EngageMedia, einer in Asien ansässigen NGO, die sich für Menschenrechte im Online-Bereich, Meinungsfreiheit und offene Technologien einsetzt. Mein Lebenslauf umfasst auch Stipendien am Berkman Klein Center der Harvard University und am Open Documentary Lab des MIT. Die längste Zeit meiner Karriere war ich sehr von meiner Arbeit überzeugt, bei der ich dachte, es ginge um den Schutz und die Erweiterung digitaler Rechte und Freiheiten.
In den letzten Jahren musste ich jedoch mit wachsender Verzweiflung beobachten, wie sich in meinem Fachgebiet ein dramatischer Wandel vollzog. Plötzlich begannen Organisationen und Kollegen, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet hatte, den Fokus immer weniger auf Presse- und Meinungsfreiheit zu legen und sich auf ein neues Gebiet zu konzentrieren: den Kampf gegen „Desinformation“.
Schon lange vor den #TwitterFiles und sicherlich, bevor ich einem Aufruf von Racket folgte, die freiberufliche Mitarbeiter suchten, um zu helfen, „die Mainstream-Propagandamaschine auszuschalten“, hatte ich meine Bedenken über die Instrumentalisierung des „Kampfs gegen Desinformation” als Zensur-Instrument geäußert. Für Teammitglieder von EngageMedia in Myanmar, Indonesien, Indien oder den Philippinen war der neue Konsens der westlichen Eliten, den Regierungen mehr Macht zu geben, darüber zu entscheiden, was online gesagt werden durfte, das genaue Gegenteil der Arbeit, die wir leisteten.
[Lesen Sie dazu auch den Artikel Die Twitter-Files und der Censorship Industrial Complex]
Als die Regierungen von Malaysia und Singapur „Fake News“-Gesetze einführten, unterstützte EngageMedia Netzwerke von Aktivisten, die dagegen kämpften. Wir führten Workshops zur digitalen Sicherheit für Journalisten und Menschenrechtsaktivisten durch, die Bedrohungen durch staatliche Übergriffe, sowohl virtuell als auch physisch, ausgesetzt waren. Wir entwickelten eine unabhängige Video-Plattform, um die Zensur der großen Technologieunternehmen zu umgehen, und unterstützten Aktivisten in Thailand, die sich gegen Versuche der Regierung wandten, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. In Asien war staatliche Einmischung in die Meinungs- und Pressefreiheit die Norm. Progressive Aktivisten, die nach mehr politischer Freiheit strebten, wandten sich oft an den Westen für moralische und finanzielle Unterstützung. Aber jetzt richtete sich der Westen selbst gegen den Grundwert der freien Meinungsäußerung – und das im Namen des „Kampfes gegen Desinformation“.
Bevor ich damit beauftragt wurde, Anti-Desinformationsgruppen und ihre Geldgeber für dieses Racket-Projekt zu recherchieren, dachte ich, ich hätte eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie groß diese Industrie war. Ich war zwei Jahrzehnte lang im Bereich der digitalen Rechte tätig und sah das rasche Wachstum von Anti-Desinformationsinitiativen aus nächster Nähe. Ich kannte viele der wichtigsten Organisationen und ihre Leiter, und auch meine Organisation, EngageMedia, selbst war Teil von Anti-Desinformationsprojekten.
Nachdem ich Zugang zu den Aufzeichnungen der #TwitterFiles erhalten hatte, erfuhr ich, dass das „Ökosystem“ viel größer war und weit mehr Einfluss hatte, als ich mir vorgestellt hatte. Bis jetzt haben wir fast 400 Organisationen weltweit zusammengetragen, und wir fangen gerade erst an. Einige Organisationen sind legitim. Es gibt Desinformation. Aber es gibt auch viele Wölfe im Schafspelz.
Ich habe auch unterschätzt, wie viel Geld unter dem Deckmantel der Anti-Desinformation in Thinktanks, den universitären Bereich und NGOs fließt, sowohl von Regierungen als auch von privaten Stiftungen. Wir sind immer noch dabei, dies zu berechnen, aber ich schätzte es auf Hunderte Millionen Dollar jährlich und ich bin wahrscheinlich immer noch naiv – Peraton erhielt einen Vertrag über eine Milliarde Dollar vom Pentagon.
Besonders war ich mir nicht über den Umfang und das Ausmaß der Arbeit von Gruppen wie dem Atlantic Council, dem Aspen Institute, dem Center for European Policy Analysis und Beratungsunternehmen wie Public Good Projects, Newsguard, Graphika, der Media Forensics Hub an der Clemson Universität und anderen bewusst.
Noch alarmierender war, wie viel militärische und geheimdienstliche Finanzierung involviert ist, wie eng verbunden die Gruppen untereinander sind und wie stark sie sich in die Zivilgesellschaft einmischen. Graphika erhielt zum Beispiel einen Drei-Millionen-Dollar-Zuschuss vom Verteidigungsministerium sowie Gelder von der US-Marine und -Luftwaffe. Der Atlantic Council (berüchtigt für sein Digital Forensics Lab) erhält Mittel von der US-Armee und den Marines, von den Firmen Blackstone, Raytheon, Lockheed und dem NATO STRATCOM Center of Excellence und anderen.
Wir haben lange Zeit klar zwischen „zivil“ und „militärisch“ unterschieden. Aber in der „Zivilgesellschaft“ gibt es jetzt eine Vielzahl von militärfinanzierten Gruppen, die sich vermischen, ja miteinander verschmelzen und eins werden mit denen, die sich für Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten einsetzen. Graphika arbeitet auch für Amnesty International und andere Menschenrechtsaktivisten. Wie passen diese Bereiche Dinge zueinander? Welche moralischen Grenzen verschwimmen hier?
E-Mails von Twitter zeigen eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Militär- und Geheimdienstbeamten und „Elite-Progressiven“ aus NGOs und der akademischen Welt. Unterschriften wie „they/them“ (Pronomina für Personen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren, Anm. d. Übers.) mischen sich mit E-Mail-Endungen wie .mil, @westpoint, @fbi und anderen. Wie kam es dazu, dass das FBI und das Pentagon, einst die erklärten Feinde der Progressiven für ihre Angriffe auf die Black Panthers und die Friedensbewegung, ihre Kriegstreiberei und ihre übermäßige Finanzierung, mit ihnen zu verschmelzen und zu kollaborieren begannen? Sie treffen sich bei Planspielen zu Wahlen und teilen Häppchen bei Konferenzen, die von Oligarchen-Philanthropen organisiert werden. Diese kulturelle und politische Verschiebung hätte einst einen großen Bruch dargestellt, aber jetzt ist es so einfach geworden, wie sich gegenseitig bei E-Mails in „cc“ zu setzen.
Noch schlimmer ist es, dass Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes im Bereich der digitalen Rechte gelobt werden. 2022 nahm US-Außenminister Anthony Blinken prominent an der RightsCon teil, der größten Konferenz im Bereich der digitalen Rechte (eine Veranstaltung, die EngageMedia 2015 auf den Philippinen mitorganisierte – Blinken erschien damals nicht). Blinken leitet das Global Engagement Center (GEC), eine der wichtigsten US-Regierungsinitiativen gegen Desinformation (siehe #TwitterFiles 17), und wird nun beschuldigt, seine eigene Desinformationskampagne im Zusammenhang mit dem Hunter-Biden-Laptop initiiert zu haben – die „russische Informationsoperation“ unterzeichnet von 50 ehemaligen US-Geheimdienstlern.
Vormalige Gegner sind jetzt durch viele Verbindungen und Allianzen, von der Terrorismusbekämpfung über die Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus bis hin zu „Minority Report“-artiger Polizeiarbeit im Alltag, wie zu einem gemeinsamen Netz versponnen.
Ich habe auch unterschätzt, wie offen viele Organisationen sich für die Überwachung von Narrativen aussprachen, die manchmal sehr offensichtlich vom Kampf gegen Desinformation in den Bereich der Überwachung von abweichender Meinung abdriftete. Das Virality Project der Stanford University empfahl, dass Twitter „wahre Geschichten über Impfnebenwirkungen” als „Standard-Fehlinformation auf Ihrer Plattform“ klassifiziert, während das Algorithmic Transparency Institute von „zivilem Mithören” und „automatisierter Datensammlung” aus „geschlossenen Messaging-Apps” sprach, um „problematische Inhalte” zu bekämpfen, d.h. von der Ausspionierung einfacher Bürger. In einigen Fällen war das Problem schon im Namen der NGO selbst erkennbar – das Automated Controversy Monitoring beispielsweise betreibt „Toxicity Monitoring” (Schädlichkeitskontrolle) zur Bekämpfung von „unerwünschten Inhalten, die Sie stören”. Es geht nicht mehr um Wahrheit oder Unwahrheit, es geht nur noch um die narrative Kontrolle.
Regierungen und philanthropische Oligarchen haben die Zivilgesellschaft kolonialisiert und werben jetzt für Zensur, wobei sie Denkfabriken, die akademische Welt und NGOs als Handlanger nutzen. Wenn man das den Kollegen sagt, schließen sich jedoch die Reihen, um ihre Regierungs-, Militär-, Geheimdienst-, Big-Tech- und Milliardärs-Gönner zu schützen. Das Feld wurde gekauft. Es ist kompromittiert. Das anzuprangern ist nicht willkommen. Wenn Sie das tun, werden sie sehr schnell aussortiert.
Die Twitter Files zeigen auch, wie sehr die NGO- und Akademikerwelt in die inneren Kreise der Big-Tech-Elite aufgenommen wurde, die ihr die neuen Werte der Unterdrückung freier Meinungsäußerung aufdrückten. Das erklärt zum Teil ihre Feindseligkeit gegenüber Elon Musk, der sie aus dem „Club“ warf, ohne von all den „ungebildeten Rechten” zu sprechen, die er zurück auf die Plattform ließ. (Musks Intervention ist zwar eine Verbesserung, aber offensichtlich inkonsistent und bringt ihre eigenen Probleme mit sich).
Obwohl Mitglieder der saudischen Königsfamilie große Anteile an Twitter halten, sowohl des alten Twitter als auch des neuen Twitter, hatten NGOs und die akademische Welt vor Musk kaum etwas zu den Eigentümern der Firma zu sagen. Dies ist dasselbe saudische Regime, das Journalisten ermordet, ein System der Geschlechterapartheid überwacht, Schwule hinrichtet und für mehr CO2-Emissionen verantwortlich ist, als man sich vorstellen kann. Dies sollten Standardanliegen für Progressive sein, die aber vorher weggeschaut haben.
In vergangenen Zeiten hätten die Akteure im Bereich „digitale Rechte“ die #TwitterFiles so aufmerksam verfolgt, wie wir es bei den Enthüllungen von Wikileaks oder Snowden getan haben. Ein Großteil derselben Akteure, die einst Wikileaks und Snowden lobten, sind aber diejenigen, die jetzt selbst kompromittiert wurden. Die Dateien zeigen deutlich, dass schwerwiegende Zensuraktivitäten durch NGOs und die akademische Welt ermöglicht oder ignoriert wurden, oft nicht, weil die Informationen falsch waren, sondern weil die Ideen von den falschen Leuten kamen.
Die Alte Normalität
Trump und der Brexit werden oft als Wendepunkt zitiert, eine große politische Neuorientierung, bei der sich die kulturellen Eliten nach links verschoben und die Arbeiterklasse nach rechts bewegte. Die NGO- und Akademikerklasse (Eliten entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis) reagierte, indem sie ihre Anliegen immer enger mit der Unternehmens- und Regierungsmacht verband und umgekehrt.
Brexit und Trump haben die Autorität und den Status der Experten- und Managerklasse ernsthaft erschüttert. Diese Ereignisse wurden als die Folge von bösen Akteuren (Rassisten, Frauenfeinden, Russen), Dummheit oder „Desinformation“ dargestellt. Die übliche linke Klassen- und materialistische Analyse wurde durch eine einfache Geschichte von Gut und Böse ersetzt.
Die Corona-Krise machte die Dinge noch seltsamer. Big Media und Big Tech verloren teilweise die Verbindung zur materiellen Realität, indem sie Kritik verunglimpften, die zuvor normal war, und explizit Themen von sozialen Medien verbannten – wie die Diskussion über einen möglichen Laborunfall oder Impfstoffe, die keine virale Übertragung verhindern. Ein Großteil der Gesellschaft stimmte solchen Verboten zu, schwieg oder trieb sogar, wie im Fall des Virality Project und seiner Partner, die Zensur voran.
Eine Gruppe von nordamerikanischen und europäischen Anti-Desinformationseliten hatte in der Zwischenzeit NGOs in Asien, Afrika und Lateinamerika langsam davon überzeugt, dass ihr größtes Problem nicht zu wenig, sondern zu viel Freiheit im Online-Bereich war, deren Lösung mehr Unternehmens- und Regierungskontrolle war, um Menschenrechte und Demokratie zu schützen.
Da fast die gesamte Finanzierung für solche zivilgesellschaftlichen Initiativen aus den USA und Europa stammt, hatten diejenigen im Rest der Welt die Möglichkeit, die Finanzierung zu verlieren oder bei diesem Schwenk mitzugehen. So viel zum Thema „Dekolonisation“ der Philanthropie.
Natürlich gab es schon immer philanthropische Kontrolle, aber bis 2017 war meine Erfahrung damit marginal. Top-Down-Anleitung und Konformität schlichen sich nach Trump ein und explodierten während der Corona-Krise. In meinem Kopf gab es keinen Zweifel daran, dass ein Versagen, sich an offizielle Pandemieerzählungen zu halten, zu einer Streichung der Finanzierung führen würde. Bei EngageMedia versuchten wir, im Rahmen unserer „Pandemic of Control“-Reihe Alarm über den neuen Autoritarismus zu schlagen:
Die „genehmigte” Pandemiereaktion wurde um jeden Preis verteidigt. Die Medien machten abweichende Sichtweisen als Fake News und Fehlinformationen lächerlich, und Social-Media-Plattformen nahmen widersprechende Ansichten von ihren Feeds herunter und brachten dadurch Stimmen zum Schweigen, die einen Impfpass, Lockdowns und andere Maßnahmen hinterfragten.
Und während in den meisten Ländern die Beschränkungen gelockert werden, bleiben sie in anderen bestehen. Darüber hinaus bleibt ein Großteil der Infrastruktur bereit, und die Bevölkerung selbst wurde gut für neue Maßnahmen gefügig gemacht, von digitalen IDs bis zu digitalen Währungen der Zentralbank und darüber hinaus.
Solche Bedenken über Rechte und Übergriffe waren bedauerlicherweise selten in unserem Bereich. Die Kontrolle über die Mittel durch einen philanthropischen Sektor, der weitgehend in inhaltlicher Übereinstimmung mit der Regierung operiert, erklärt einen Großteil der zunehmenden Konformität in diesem Bereich. Noch besorgniserregender ist jedoch, dass viele, wenn nicht die meisten der ausgebildeten Aktivisten und Intellektuellen in diesen Organisationen diesem jüngsten Umschwung gegen die Meinungsfreiheit zustimmen. Beim Schreiben dieses Artikels erinnere ich mich an eine Veranstaltung zu Medienkompetenz/Desinformation, an der ich 2021 an einer australischen Universität teilnahm – ein Teilnehmer beklagte, dass die Ursache unserer Probleme zu viel freie Rede sei; alle vier Panel-Mitglieder stimmten nacheinander zu. Auch unabhängig von der Geldfrage zeigt sich, dass viele Elite-Herzen und -Köpfe bereits gewonnen wurden.
Gleichzeitig haben viele Angst, eine andere Meinung zu haben, und flüstern ihre abweichende Meinung nur im Flur zwischen den Sitzungen. Das Beil des gecancelt-Werdens hängt über den Köpfen derjenigen, die sich vom Konsens abwenden, und die Getriggerten sind schussbereit. Es herrscht eine sadistische Freude, wenn ein „Verachtenswerter“ seine verdiente Strafe bekommt.
Indem sie weitreichende staatliche Interventionen in die Meinungsfreiheit des Bürgers legitimiert haben, haben das Anti-Desinformationsfeld und seine ideologischen Verbündeten, einschließlich Kanadas Justin Trudeau, Amerikas Joe Biden und der ehemaligen neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern, autoritären Regimen eine viel größere Berechtigung gegeben, dasselbe mit ihren eigenen Bürgern zu tun.
Desinformation gibt es natürlich, und sie muss angegangen werden. Die größten Quellen von Desinformation sind jedoch Regierungen, Unternehmen und zunehmend selbst ernannte Experten der Anti-Desinformationskampagnen, die in der Corona-Krise und vielen anderen Themen falsch lagen.
Die Instrumentalisierung der Anti-Desinformation zur Zensur und Diffamierung ihrer Gegner führt genau dazu, wovor die Expertenklasse Angst hatte: einem geringeren Vertrauen in die Autorität. Die moralische Verkommenheit des Virality Projects, das Big Pharma schützte, indem es die Zensur tatsächlicher Impfstoff-Nebenwirkungen befürwortete, ist mehr als erstaunlich. Stellen Sie sich vor, dies für ein Autounternehmen zu tun, dessen Airbags unsicher waren, weil es die Leute davon abhalten könnte, Autos zu kaufen.
Es war nicht immer so. Im letzten Jahrhundert waren die Hauptbefürworter der Meinungsfreiheit Liberale und Progressive wie ich selbst, die häufig die Rechte von Menschen verteidigten, deren Werte sie manchmal nicht teilten und die in der damaligen Mainstream-Gesellschaft Amerikas sehr unbeliebt waren, wie z.B. die übertriebene Überwachung der muslimischen Gemeinschaft während des Krieges gegen den Terror.
Auch ganz grundlegend scheint es den meisten nicht in den Sinn zu kommen, dass eines Tages der Spieß umgedreht werden könnte. Das Ergebnis ist ein absurdes Theater. Feedback wird nicht angenommen, Kurskorrekturen werden nicht vorgenommen, ein Zusammenbruch der Konzepte setzt ein.
Während Progressive wahrscheinlich glauben, dass sie gerade am längeren Hebel sitzen, glaube ich vielmehr, dass wir nur benutzt werden. Unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit rollt die Unternehmensmaschine über uns hinweg. Die US-Regierung und ihre Verbündeten, denen klar geworden ist, dass die zukünftigen Konflikte sich im Informationsbereich abspielen, haben nach und nach die Übernahme der unabhängigen, oppositionellen Organisationen, die sie eigentlich kontrollieren sollten, geplant und durchgeführt.
Einige sagen, dieser Wandel begann mit dem Vorwand der „humanitären Intervention“, der für die Balkankonflikte entwickelt wurde. Er wurde weiter vorangetrieben, als Condoleezza Rice einen feministischen Deckmantel für die Invasion Afghanistans lieferte. Die Eliten greifen die Ideen, die ihren Zwecken dienen, auf, höhlen sie aus und nutzen sie für ihre Anliegen. Die Vermögensungleichheit verschärfte sich während der Corona-Krise erheblich, auch wenn die Machtzentren sich vermehrten. „Progressive“ sagten dazu kaum ein Wort.
Dieser kulturelle Wandel beruht nur teilweise auf einer organischen Entwicklung. Das Virality Project zeigt, wie mächtige Menschen zynisch gut gemeinte Ideen über den Schutz der Gesundheit der Menschen nutzten, während sie in Wirklichkeit die Interessen von großen Pharmakonzernen schützten und förderten und die Infrastruktur für zukünftige Informationskontrollprojekte ausbauten.
Im Februar 2021 traf ich mich mit einer führenden Anti-Desinformations-Organisation, FirstDraft – jetzt Information Futures Lab an der Brown University –, um eine Zusammenarbeit zu besprechen. Das Treffen wurde unangenehm, als sie behaupteten, die philippinische #Kickvax-Kampagne sei impfgegnerisch. Fast die Hälfte des EngageMedia-Teams und die meisten Führungskräfte waren Filipinos. Die Kampagne war in Gesprächen mit ihnen aufgetaucht, also wusste ich, dass es sich tatsächlich um eine Anti-Korruptionskampagne handelte, die sich auf den chinesischen Impfstoff konzentrierte, daher der Name: SinoVac + kick backs = #Kickvax (kick backs = Provisionszahlung, oft als illegale Zahlung im Zusammenhang mit Korruption, Anm. d. Übers.).
Die Kampagne erhob ernsthafte Vorwürfe bezüglich des SinoVac-Beschaffungsprozesses. 2021 setzte Transparency International die Philippinen auf Platz 117 von 180 Ländern in Bezug auf Korruption. Linker Aktivismus auf den Philippinen hat sich seit Langem gegen Korruption unter den Eliten gerichtet.
Trotzdem sagte mir das Personal von FirstDraft erneut sehr entschieden, dass #Kickvax impfgegnerische Fehlinformationen verbreite. Ich bekam einen „Kommen Sie vom anderen Stern und/oder sind Sie eine potenzielle Bedrohung?“-Blick, bevor das Treffen beendet wurde. Es kam zu keiner Zusammenarbeit.
In den #TwitterFiles habe ich seitdem gesehen, wie tief FirstDraft in die Bemühungen verwickelt war, berechtigte Fragen rund um den Impfstoff zu unterdrücken. Es war eines ihrer Kernthemen. FirstDraft war auch Teil der Trusted News Initiative, einer Art Virality Project für die traditionellen Medien. Das Information Futures Lab führte ein Projekt durch, um „die Nachfrage nach Impfstoffen zu erhöhen“. Mitbegründerin Stefanie Friedhoff ist auch Teil des COVID-19-Reaktionsteams des Weißen Hauses.
Nicht nur Reaktion, eine neue Vision
Die Streichung der Regierungsfinanzierung für den Zensurindustrie-Komplex ist ein kritischer erster Schritt, um die Meinungsfreiheit wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Die wichtigsten Führer des Komplexes müssten auch vor dem Kongress aussagen.
Westliche Oligarchen finanzieren ebenfalls eine große Menge an Zensurarbeit und haben viel zu viel Macht über Politik und Zivilgesellschaft. Auch die Steuervergünstigungen für Philanthropie müssen geändert werden. Es geht nicht darum, all dieses Geld aus dem Bereich zu entfernen, sondern es sollte eine Ergänzung sein, nicht der Hauptbestandteil.
Die Zivilgesellschaft muss aufhören, sich mit Big Tech zu verbrüdern und riesige Summen Geld anzunehmen. Dies hat ebenfalls zur Vereinnahmung und zum Rückgang der eigentlichen Überwachungsrolle geführt.
Natürlich müssen neue Finanzierungsmodelle entwickelt werden, um sich von all diesem Geld zu lösen, was schon an sich eine gewaltige Aufgabe ist. Da ein beträchtlicher Teil des Anti-Desinformationsfeldes im Wesentlichen Zensurarbeit ist, wird allein die Halbierung der verfügbaren Mittel sofort einen großen Unterschied machen.
Klarere Grenzen müssen gezogen werden. Ich bin im Allgemeinen nicht für „Deplatforming“ (Entzug des Zugangs zu einer öffentlichen oder digitalen Plattform, Anm. d. Übers.), aber jeder, der Militär-, Verteidigungs- oder Geheimdienstgelder annimmt, sollte nicht Teil von zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsveranstaltungen sein. Dazu gehören der Atlantic Council (einschließlich DFRlabs), Graphika, das Australian Strategic Policy Institute, das Center for European Policy Analysis und viele andere – die Liste ist lang. Wenn wir die Datenbank der „Anti-Desinformations“-Gruppen und ihrer Geldgeber weiter vervollständigt haben, können wir hier weitere hinzufügen.
Mehr dezentralisierte, Open-Source- und sichere Plattformen sind erforderlich, um sich gegen die Übernahme des Bereichs durch Unternehmen, Philanthropie und Regierung zu wehren. Es gibt nur wenige Menschen, die mal eben 44 Milliarden Dollar zur Hand haben (der Kaufpreis, den Elon Musk für Twitter zahlte, Anm. d. Übers.). Die Herausforderung besteht darin, die breite Öffentlichkeit zu erreichen, die so viele Nutzer zu großen Plattformen treibt. Bitcoin hat gezeigt, dass solche dezentralisierten Netzwerkeffekte möglich sind, aber dies muss im Bereich der sozialen Medien realisiert werden. Nostr scheint hier ein gewisses Potenzial zu haben.
Das noch größere Problem ist eine Kultur, die weit verbreitete Zensur unterstützt, insbesondere unter ihren früheren Wächtern, Progressiven, Liberalen und der Linken. Die Meinungsfreiheit ist für die Menschen, die einst die Meinungsfreiheitsbewegung anführten, zu einem schmutzigen Wort geworden. Dies zu ändern, ist ein langfristiges Projekt, das erfordert, zu zeigen, dass Meinungsfreiheit in erster Linie dazu da ist, die Machtlosen zu schützen, nicht die Mächtigen. Zum Beispiel hat die Zensur wahrer Geschichten über Impfverletzungen durch das Virality Project uns der Ausbeutung durch große Pharmakonzerne ausgesetzt und uns unsicherer gemacht. Mehr Meinungsfreiheit hätte zu einer besser informierten und besser geschützten Gesellschaft geführt.
Das Wichtigste ist, zu starken Prinzipien der freien Meinungsäußerung zurückzukehren, auch für Ideen, die wir nicht mögen. Der Spieß wird eines Tages umgedreht werden. Wenn dieser Tag kommt, wird die Meinungsfreiheit nicht der Feind von Liberalen und Progressiven sein, sondern der bestmögliche Schutz gegen Machtmissbrauch.
„Raue Kanten sind der Preis, den wir für eine freie Gesellschaft zahlen.“
Dieser Artikel wurde zuerst im englischen Original auf racket.news veröffentlicht.
Autorenprofil:
Andrew Lowenthal arbeitet seit über 25 Jahren im Bereich Menschenrechte und Technologie. Fast 18 Jahre lang war er Geschäftsführer von EngageMedia, einer gemeinnützigen Organisation im Bereich digitale Rechte, offener und sicherer Technologie sowie Dokumentation im asiatisch-pazifischen Raum.
Aktuell ist er Geschäftsführer von liber-net, einer Initiative für digitale Bürgerrechte.
Er arbeitete mit Matt Taibbi an den #TwitterFiles und leitete die Kartierung des Zensur-Industriekomplexes für Racket News. Außerdem half er bei der Koordination der Westminster Declaration.
Er schreibt auf Substack bei NetworkAffects und twittert unter @NAffects.
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