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Titel: Steuer- oder Staatsschuldenreform?

Datum: 11. Juli 2024 um 14:36 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Schulden - Sparen, Steuern und Abgaben
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Die Forderung nach einer Reform der Schuldenbremsen findet immer mehr Befürworter. Was auf den ersten Blick als politischer Fortschritt erscheinen mag, erweist sich allerdings als ein für gemeinwohldienliche Zwecke untaugliches Mittel mit äußerst gefährlichen Nebenwirkungen. Demokraten sollten daher zur Finanzierung zusätzlicher Kollektivgüter auf Steuerreformen drängen. Von Paul Steinhardt.

„Klimapolitik“ – verstanden als der Versuch, mit staatlichen „Anreizen“ Verhaltensänderungen zu bewirken, die in der Lage sind, die Erderwärmung zu stoppen – ist offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Auf der politischen Tagesordnung sollten daher Anpassungen an den Klimawandel stehen, die, wie Wolfgang Streeck überzeugend argumentiert, „viel weniger abstrakt“ sind und einen „unmittelbar einleuchtenden Nutzen“ haben.

Womit die Frage aufgeworfen ist, warum sich dann die Politik die Rettung des Weltklimas auf die Fahnen geschrieben hat. Nach Meinung Streecks, weil sich die Kosten der Klimapolitik privatisieren lassen, während „Anpassung […] kollektive Güter, die kollektiv zu finanzieren sind, erfordert“. Die meisten kapitalistischen Länder könnten aber solche Finanzierungen nicht mehr stemmen, weil „immer höhere Kosten für die technische Vor- und Nachbereitung sowie die soziale Legitimation kapitalistischer Produktion im Verhältnis zu ihren Erträgen“ anfielen.

Womit Streeck insinuiert, ein Staat müsse die Staatsausgaben aus seinen „Erträgen“ in Form von Zwangsabgaben wie Steuern refinanzieren. Bereits Johann Gottlieb Fichte hat erkannt, dass dieses „Müssen“ nur für Staaten gilt, die nicht über ein Geldschöpfungsmonopol verfügen. Ein Staat dagegen, dem es exklusiv erlaubt sei, Geld zu „drucken“, habe niemals ein Finanzierungproblem, denn Steuern kämen in diesem Fall lediglich die Funktion zu, „dem Landesgelde die allgemeine Gültigkeit zu versichern“.

Den Weg hin zu „Geldsouveränität“ in diesem Sinne sehen viele Ökonomen mit den Staatsanleihekaufprogrammen der EZB beschritten, was die Mehrheit der Ökonomenzunft als Ausdruck einer „fiskalischen Dominanz“ verurteilt und eine (wachsende) Minderheit als Ausdruck „wirtschaftlicher Vernunft“ begrüßt.

Im Folgenden möchte ich mit Argumenten aus meinem Buch „Die Europäische Zentralbank: Herrschaft abseits von Volksouveränität“ kurz begründen, warum es aus einer Gemeinwohlperspektive politischer klüger ist, statt auf eine Reform von Staatsschuldenbremsen auf Steuerreformen zu setzen.

Konstitutionalisierung des Steuerstaatsprinzips

Schuldenbremsen dienen dazu, staatliche Ausgaben weitestgehend unter einen steuerlichen Finanzierungsvorbehalt stellen zu können. In Art. 109 (3) Satz 1 des Grundgesetzes wird unmissverständlich festgehalten, dass „die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind“. Das heißt, Staatsausgaben sollen weitgehend eine Funktion der Steuereinnahmen sein, um damit der „Verschwendungssucht“ demokratisch legitimierter Volksvertreter eine Grenze zu ziehen.

Das erklärt, warum für erhöhte staatliche Ausgaben nun verstärkt eine „Reform“ der Regeln der Staatsverschuldung immer mehr Anhänger findet. Insbesondere die Grünen möchten Staatsausgaben – sei es nun für den „Kampf“ gegen den beschworenen Klima-GAU oder gegen das Böse namens „Putin“ – ermöglichen, für die Steuerzahler vermutlich nicht bereit sind zu bezahlen; was schon einmal ein guter Grund ist, einer Reform der Regeln der Staatsverschuldung mit Skepsis zu begegnen.

Vor allem aber ist eine Reform der Schuldenbremsen beliebig unwahrscheinlich, denn das Steuerstaatsprinzip ist auf allen politischen Ebenen konstitutionalisiert. Schon eine Reform der deutschen Schuldenbremse im Grundgesetz dürfte daran scheitern, dass sich dafür die erforderlichen politischen Mehrheiten nicht finden lassen. Darüber hinaus ist sie ohne eine vorausgehende Reform der europäischen Fiskalregeln kaum denkbar. Alle diesbezüglichen Versuche sind aber im Sande verlaufen – aus nachvollziehbaren Gründen: Fiskalpolitik ist ein Mittel, um sich im europäischen Standortwettbewerb einen Vorteil zu verschaffen.

Es herrscht weitgehend Einigkeit, dass eine flexiblere Fiskalpolitik daher eine Fiskalkapazität auf der europäischen Ebene erforderlich macht. Den dafür erforderlichen Kompetenztransfer von der nationalen auf die europäische Ebene mag man sich zwar wünschen, aber er ist beliebig unwahrscheinlich. Es dürfte kein Land bereit sein, fiskalische nationale Kompetenzen auf Organe der EU zu transferieren.

Die EZB: Weißer oder schwarzer Ritter?

Scheitert die Schuldenfinanzierung als Alternative zur Steuerfinanzierung aber nicht – wie Streeck behauptet – schon an der Tatsache, dass „potenziell kreditgebende Kapitalbesitzer eine weitere dramatische Erhöhung der staatlichen Schuldenlast ohne Erhöhung ihrer Risikoprämie und ohne drastische Senkung von anderweitigen Ausgaben der öffentlichen Haushalte“ „nicht hinnehmen würden“?

Keineswegs. Zur Lösung dieses Problems kann die EZB ein entsprechendes Staatsanleihen-Kaufprogramm auflegen. Die „Kapitalbesitzer“ haben dann guten Grund, Staatsanleihen zu zeichnen, denn es wird ihnen eine Rendite garantiert, da das Bonitätsrisiko in diesem Fall von der EZB übernommen wird. Die von der EZB seit 2016 aufgelegten Staatsanleihen-Aufkaufprogramme haben exakt diesen Effekt.

Die Staatsanleihenkäufe werden nichtsdestotrotz von insbesondere „progressiven“ politischen Kräften überwiegend gutgeheißen. Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 diese staatlichen Subventionen des Finanzsektors dagegen als demokratisch nicht legitimiert kritisiert. Sie hätten ökonomische Verteilungswirkungen gehabt, die unabdingbar einer Verhältnismäßigkeitsprüfung durch gewählte Volksvertreter bedürft hätten.

War es aber nicht gerade die Tatsache, dass die EZB ihre Entscheidungen ohne vorherige langwierige demokratische Prozeduren treffen konnte, die es ihr erlaubten, beherzt den oftmals irrationalen Finanzmärkten die Stirn zu bieten? Diese Frage wird von progressiven Ökonomen uneingeschränkt bejaht. Darüber hinaus wird die EZB dafür gelobt, für ihre Mitgliedsländer fiskalpolitisch in die Bresche gesprungen zu sein.

Ausgeblendet wird von diesem „Weißen Ritter-Narrativ“, dass die EZB ihre Geldmacht in Griechenland, Zypern, Portugal, Irland, Spanien und Italien zwischen 2011 und 2015 zum Einsatz gebracht hat, um „Strukturreformen“ gegen den Willen gewählter Volksvertreter und auf Kosten der Mehrheit der Bürger dieser Länder zu erzwingen. Hat die EZB sich aber nicht mit dem Start der Staatsanleihenkäufe 2016 von einem fiskalpolitischen Falken zu einer fiskalpolitischen Taube gewandelt?

Wie immer man diese Frage beantworten mag, es ist klar, dass man ihr mit den Ankaufprogrammen ein Mittel an die Hand gegeben hat, der Fiskalpolitik gewählter Regierungen einen Riegel vorzuschieben. Davon Gebrauch gemacht hat sie in Italien 2018, als eine Regierung aus „linken“ und „rechten“ Populisten die Umsetzung ihrer „teuren“ sozialpolitischen Wahlversprechen verunmöglichte. Sie hat dazu angekündigt, weniger italienische Staatsanleihen anzukaufen – und später dann diese Ankündigung in die Tat umgesetzt – und mit dem damit verbundenen Anstieg von deren Renditen den fiskalpolitischen Spielraum der gewählten italienischen Regierung wirksam beschnitten.

Ganz ähnlich hat man versucht, die französischen „Rechtspopulisten“ in die Schranken zu weisen. Der auffällige Anstieg der Renditen auf französische Staatsanleihen seit dem Wahlerfolg des Rassemblement National lässt vermuten, dass die EZB die Ankäufe französischer Staatsanleihen reduziert hat. In jedem Fall aber lehnt sie es explizit ab, den „Spread“ (die Renditedifferenz zu deutschen Staatsanleihen) mithilfe des Ankaufs französischer Staatsanleihen zu schließen.

Wer meint, dass der Kampf für „die Demokratie“ den Kampf gegen „Rechts“ quasi-logisch impliziert, der wird die EZB für ihre wehrhafte „Geldpolitik“ loben. Wer dagegen der Überzeugung ist, dass „Demokratie“ unabdingbar erfordert, dass die Wähler auch eine Partei wählen können, die aus Sicht der EZB und anderer wehrhafter Demokraten eine „falsche“ Politik verfolgt, der wird der der EZB mit den Anleiheankäufen zukommenden exekutiven Handlungsmacht wenig abgewinnen können.

Überfinanzierung des Finanzsektors

Gegen eine Staatsfinanzierung mithilfe von Staatsanleihe-Kaufprogrammen spricht aber auch, dass damit die Finanzmärkte noch weiter destabilisiert werden, denn sie befördern ein „marktbasiertes“ Finanzsystem, in dem Staatsanleihen über Repurchase Agreements (Repos) zu Geld geworden sind – womit es zu einer Hebelung von Bankengeld kommt, weil mit dem Kauf von Staatsanleihen zwar Geld aus dem Geldkreislauf genommen, durch ihre Verwendung als eine Art von Geld aber wieder in den Geldkreislauf zurückgeführt wird.

Es wird nun von niemandem bestritten, dass mit solchen „Finanzinnovationen“ Schattenbanken in die Lage versetzt wurden, Kredite in gewichtigem Umfang zu vergeben. Was nach der großen Finanzkrise 2008 von der europäischen Politik als ein Problem erachtet wurde, wird inzwischen in einem Papier der Europäischen Kommission als Vorteil gepriesen, um ein „breiteres Spektrum an Finanzierungsquellen“ zu erschließen. Keineswegs wird allerdings bestritten, dass mit diesen Finanzierungsalternativen Risiken verbunden sind. Zugegeben wird auch, dass man sie in der Vergangenheit nicht erkannt hat. Diese epistemischen Hürden glaubte man aber aus dem Weg geräumt zu haben. Daher sei es an der Zeit, die „Schattenbanken“ aus dem Schatten zu holen, um „marktbasierte“ Alternativen zur Bankenfinanzierung nachhaltig nutzbar zu machen.

Der Kapitalismus sei, so Joscha Wullweber, dadurch charakterisiert, dass Unternehmen einen Vorschuss an Kapital benötigen, „um in Maschinen, Gebäude, Rohstoffe, Löhne etc. investieren zu können, bevor Waren im großen Stil produziert, verkauft und Profite erwirtschaftet werden“. Dieses Kapital beschafften sich Unternehmen in der Regel durch die Aufnahme von Krediten, „die [aber] zunehmend über das Schattenbankensystem bereitgestellt“ würden. Es sei daher unerlässlich, dass Zentralbanken weiterhin mit Staatsanleihekäufen in großem Umfang in die Finanzmärkte intervenieren, um nicht einen Wirtschaftscrash heraufzubeschwören.

Warum aber sollten Banken nicht wieder verstärkt Investitionskredite vergeben? An einem Mangel an Geld kann es nicht liegen. Banken können Geld in beliebiger Menge produzieren. Zugegeben, eine Geschäftsbank mag risikoaverser als eine leichter regulierte Schattenbank sein. Es darf aber keinen Dissens darüber geben, dass Kredite nur vergeben werden sollten, wenn die Bonität des Kreditnehmers das auch rechtfertigt. Denn ansonsten kommt es unvermeidlich zu Minsky-Blasen und einer damit verbundenen Schuldendeflation.

Damit soll nicht bestritten werden, dass eine Beendigung der Subventionierung von Schattenbanken durch Staatsanleihenankäufe zu „Liquiditätsabwärtsspiralen“ führen kann, die die Finanzstabilität gefährden können. Damit aber kann nicht gerechtfertigt werden, sie ad infinitum fortzuführen, denn es gibt Alternativen zur gegenwärtigen auf Privatgeld basierenden Geldordnung der Eurozone.

Steuer- statt Schuldenfinanzierung

Zur Finanzierung progressiver Vorhaben auf die EZB zu setzen, wird nach Meinung Leon Wanslebens vom Max-Planck-Institut „selbst mit den besten Absichten die selbstzerstörerischen Zyklen der finanziellen Expansion verstärken, während ihr Ansatz der makroökonomischen Politik uns immer tiefer in die Finanzialisierungsfalle führt“. Nach seiner Meinung sollte daher der erhöhte Finanzierungsbedarf öffentlicher Haushalte primär über Steuererhöhungen gedeckt werden.

Wirtschaftsliberalen wird das Anlass sein, eine stärkere „Konsumorientierung des Steuersystems“ ganz oben auf die politische Agenda zu setzen. Alle indirekten Steuern aber haben eine soziale Schlagseite. Sie belasten die unteren und mittleren Einkommensbezieher ungleich höher als die Besserverdiener. Eine verstärkte Konsumbesteuerung ist aber nicht nur sozial ungerecht, sondern wird auch die Nachfrage nach Konsumgütern reduzieren.

Das sind gute Gründe, so Wolfgang Edelmüller richtig, sich für die „Forcierung von direkten Steuern mit Grenzsteuersätzen entlang einer als ‚gerecht‘ empfundenen Progressionskurve (‚Treppenkurve‘) einzusetzen.

Darüber hinaus sind Steuererhöhungen aufgrund der finanziellen Größenordnungen der Anpassungsinvestitionen auch im Rahmen einer souveränen Geldordnung unvermeidlich. Denn während es einem Staat nie an finanziellen Mittel fehlen kann, zu finanzieren, was immer er zu finanzieren gedenkt, kann es ihm an realen Ressourcen fehlen, um die entsprechenden Vorhaben zu realisieren. In diesem Fall muss er mit zielgerichteten Steuern entsprechende reale Produktionskapazitäten von einer auf eine andere Verwendung umlenken. Andernfalls scheitern nicht nur die Anpassungsinvestitionen, sondern ist eine nachfrageinduzierte Inflation unausweichlich.

Steuerreform schlägt also Geldreform? So einfach ist die Sache nicht. Ohne Geldsouveränität wird das Steuersystem so ausgestaltet sein müssen, dass mit Steuereinnahmen Staatsausgaben weitgehend gedeckt werden können. Aufgrund dieser Abhängigkeit der Staatsausgaben von Steuereinnahmen werden dann aber die Interessen von Unternehmen und „Leistungsträgern“, deren Einkommen erst eine entsprechend hohe Besteuerung ermöglichen, politisch primär gefördert, wie bereits Fichte richtig erkannte.

Der Weg zu einer souveränen Geldordnung führt aber nicht über eine Reform der Schuldenbremsen und eine beschleunigte Fortsetzung der Staatsanleihenkäufe durch die EZB. In einem ersten Schritt gilt es, die Entscheidungen von Zentralbanken an majoritäre Staatsorgane zu binden. Da es auf europäischer Ebene aber kein solches Organ gibt, muss auf einer progressiven politischen Agenda zunächst die Rückkehr zu nationalen Währungen stehen.

Titelbild: Deacons docs/shutterstock.com


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