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Titel: Die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz

Datum: 5. Juli 2024 um 10:16 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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Im Westen weitgehend unbekannt, sind die „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ ein zentraler Bestandteil der asiatisch-afrikanischen Identität. Ende letzter Woche fand in Peking eine internationale Jubiläumskonferenz statt, um das 70-jährige Bestehen dieser Prinzipien zu feiern. Ähnlich wie die Charta der Vereinten Nationen betonen sie Souveränität, territoriale Integrität, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Aggressionsverzicht und Gleichberechtigung in den internationalen Beziehungen als Grundlage jeder friedlichen Koexistenz. Hervorgegangen aus den antikolonialistischen Bewegungen, wurden sie zunächst von China und Indien und später von der gesamten Blockfreienbewegung und darüber hinaus festgeschrieben. Sie sind heute aktueller denn je und finden Widerhall bei den BRICS, der Shanghai Cooperation Organisation und im gesamten globalen Süden. Von Stephan Ossenkopp.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In den westlichen Medien findet sich keine Zeile über die Feierlichkeiten in Peking, obwohl sie in Anwesenheit zahlreicher internationaler Delegationen in der Großen Halle des Volkes abgehalten wurden. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping verwies in seiner Rede darauf, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit nationale Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen ausbreiteten und in dessen Folge das Kolonialsystem zusammenbrach. Er erinnerte daran, dass 1955 im indonesischen Bandung 29 asiatische und afrikanische Staaten zu einer historischen Konferenz zusammenkamen, bei der die Fünf Prinzipien die Grundlage für die Abschlusserklärung bildeten. Auch in der Bewegung der blockfreien Staaten, die sich Anfang der 60er Jahre formierte, seien die Prinzipien zur Leitlinie erklärt worden. Ebenso habe die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1970 eine Erklärung über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung verabschiedet, die ebenfalls die Fünf Prinzipien in den Mittelpunkt stellte.

Zum Verständnis ist sicherlich eine Rückblende notwendig. Knapp zwei Jahre nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg fand Anfang April 1947 in der indischen Hauptstadt Delhi die Asian Relation Conference statt. Dort wurden vorrangig Entwicklungs- und Gleichberechtigungsfragen diskutiert, die den asiatischen Staaten besonders dringend auf der Seele brannten. Mehr als 190 Delegierte und 50 Beobachter aus verschiedenen Ländern Süd- und Zentralasiens, aber auch aus England, Australien, den USA und den Vereinten Nationen nahmen vor Tausenden von Zuschauern daran teil. Indische Journalisten sprachen von einem Meilenstein in der Geschichte Asiens. Westliche Beobachter kritisierten die Konferenz allerdings als zu anti-westlich. Was die meisten Teilnehmer beflügelte, war die Tatsache, dass Indien seit kurzem eine eigene provisorische Regierung hatte, die das riesige Land nach langem Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit führen sollte. Neben Mahatma Gandhi war Jawaharlal Nehru die wichtigste Führungspersönlichkeit in diesem Prozess.

Nehru, eine Schlüsselfigur der indischen Unabhängigkeitsbewegung und enger Vertrauter Gandhis, war von 1947 bis 1964 der erste Premierminister des unabhängigen Indien. Während seiner Amtszeit besuchte 1954 der chinesische Außenminister Zhou Enlai Indien. Zhou und Nehru veröffentlichten am 28. Juni eine gemeinsame Erklärung, die die Fünf Prinzipien (auf Hindi Panchsheel) enthielt. Zhou soll sie bereits während der Verhandlungen über Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden neuen unabhängigen asiatischen Mächten formuliert haben. In ihrer Erklärung hieß es, dass diese Prinzipien nicht nur für ihre beiden Länder, sondern auch für die Beziehungen zwischen allen anderen Nationen von entscheidender Bedeutung seien, da sie eine solide Grundlage für Frieden und Sicherheit in der Welt darstellten. Angesprochen fühlten sich insbesondere alle neu entstandenen Nationen, die ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit sichern und ihre Entwicklung vorantreiben wollten. Die Prinzipien lauteten wörtlich: Gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität des anderen, gegenseitiger Nichtangriff, gegenseitige Nichteinmischung, Gleichberechtigung und gegenseitiger Nutzen sowie friedliche Koexistenz – daher der Name.

Quelle: Talia Whyte

Wenige Jahre später fand im September 1961 im damals jugoslawischen Belgrad auf Initiative von Nehru, Gamal Abdel Nasser, dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Republik (einem Zusammenschluss von Ägypten und Syrien), und Josip Broz Tito, dem Präsidenten Jugoslawiens, das erste Gipfeltreffen der Nichtpaktgebundenen statt. Anfangs nahmen 25 Staaten teil. Beim sechsten Gipfel 1979 im kubanischen Havanna waren es bereits 92, und heute sind es 120 Staaten, die zuletzt in der ugandischen Hauptstadt Kampala zu einem Spitzentreffen zusammenkamen. Mit den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz war von Anfang an auch der Grundsatz der Nichtpaktgebundenheit verbunden. Für die Einladung zu den Gipfeltreffen wurden Kriterien formuliert: Erstens muss die Politik des Landes unabhängig sein und auf friedlicher Koexistenz beruhen; zweitens muss das Land nationale Befreiungsbewegungen unterstützen; drittens darf es keinem Militärbündnis angehören, das es in die Streitigkeiten der Großmächte hineinziehen könnte; viertens darf das Land kein bilaterales Bündnis mit einer Großmacht haben; fünftens dürfen sich keine ausländischen Stützpunkte auf dem Territorium des Landes befinden.

Konflikte gab es natürlich immer wieder. Im Jahr 1962 kam es an der Grenze zwischen China und Indien zu schweren Kämpfen, die aber nach einem Monat wieder beendet wurden. In der Folge waren die Beziehungen zwischen China und Indien 26 Jahre lang eher frostig. Die indische Premierministerin Indira Gandhi versuchte 1984 mit einer Geheimmission die indisch-chinesischen Beziehungen aufzutauen. Die Verhandlungen wurden jedoch Ende Oktober 1984 abgebrochen, als Frau Gandhi einem Attentat zum Opfer fiel. Erst als ihr Sohn und Nachfolger im Amt des Premierministers, Rajiv Gandhi, Anfang 1989 nach Peking flog und vom damals 84-jährigen chinesischen Präsidenten Deng Xiao Ping empfangen wurde, brach das Eis. Der Besuch wird seither als historischer Akt und Neubeginn gewertet.

Quelle: Mint

Chinesische Kommentatoren schreiben bis heute in regelmäßigen Abständen, dass Indien eines der wenigen Länder sei, das Missverständnisse und Konflikte abmildern könne. Der Grundtenor: China und Indien haben viele gemeinsame Interessen, die ihre Meinungsverschiedenheiten überwiegen. Grenzstreitigkeiten, die im Grunde ein Problem und Erbe der Kolonialzeit sind, sollten kein Hindernis sein, ihre Partnerschaft voranzubringen. In vielen Kommentaren wird davon gesprochen, dass China und Indien gemeinsam ein Asiatisches Jahrhundert einläuten könnten – eine Vision, die schon die Pioniere der blockfreien Bewegung hatten. Wenn Indiens strategische Unabhängigkeit jeglichem Druck von außen standhält, wird sich kein Keil zwischen die beiden asiatischen Giganten treiben lassen. Ein friedlich koexistierendes Tandem China-Indien würde so Stabilität in ganz Asien garantieren.

Den Ausdruck „Asiatisches Jahrhundert“ soll schon der bereits erwähnte chinesische Staatspräsident Deng Xiaoping 1988 bei seinem Treffen mit seinem indischen Amtskollegen Rajiv Gandhi verwendet haben. Heute spricht beispielsweise der indische Außenminister Subramanian Jaishankar wieder von einem asiatischen Jahrhundert. Denn Indien und China sind beide Mitglieder der BRICS und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Als der chinesische Präsident Xi Jinping 2014 Indien besuchte und der indische Premierminister Narendra Modi diesen Besuch im Jahr darauf erwiderte, zeichnete sich ein weiterer Schritt der Annäherung hin zu einem harmonischen Miteinander ab. Aufbauend auf diesem Erbe hat der chinesische Staatspräsident Xi Jinping auf der eingangs erwähnten Konferenz zum 70. Jahrestag der Vereinbarung über die Fünf Prinzipien gesagt, dass Länder, die sich in ihren Gesellschaftssystemen, ihrer Ideologie, ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrem Glauben, ihrer Entwicklung und ihrer Größe voneinander unterscheiden, wenn sie sich an die Fünf Prinzipien halten, eine Beziehung des gegenseitigen Vertrauens, der Freundschaft und der Zusammenarbeit führen können.

Quelle: X / Hussein Askary

Die Fünf Prinzipien seien ein Weg zur friedlichen Beilegung historischer Streitigkeiten und zur Überwindung überkommener, engstirniger, antagonistischer und konfrontativer Haltungen, wie sie in der Blockpolitik und der Politik der Einflusssphären zu finden seien. China biete heute eine zeitgemäße Version der Fünf Prinzipien an, nämlich die Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit, die, wie Xi sagte, die Kerninteressen und zentralen Anliegen aller Länder respektiere, was eine gleichberechtigte und geordnete Welt ermögliche, in der jedes Land seinen Platz in einem multipolaren System finden und seine Rolle im Einklang mit dem Völkerrecht spielen könne.

Der chinesische Staatspräsident bot sogar konkrete Hilfe bei der Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens an. Unter anderem die Gründung eines Forschungszentrums des Globalen Südens, 1.000 Stipendien und 100.000 Ausbildungsplätze für Vertreter der Länder des Globalen Südens. Alle Probleme – von der Ukraine-Krise über den Palästina-Israel-Konflikt bis hin zu den Spannungen auf der koreanischen Halbinsel, in Myanmar und Afghanistan – könnten konstruktiv gelöst werden, erklärte Xi. Die Rede war eine der wenigen optimistischen Zukunftsvisionen in einer Zeit, in der einige noch auf Eskalation und Großmachtpoker setzen.

Der Artikel erschien zuerst auf der Plattform „Die Multipolare Welt“.

Titelbild: Xinhua


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