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Titel: Unsichere Hoffnung auf eine gute Zukunft

Datum: 2. Juli 2024 um 10:49 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Länderberichte
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Krisen und Kriege im Nahen und Mittleren Osten untergraben das Recht auf Bildung. Aleppo, Juni 2024. Das Schuljahr geht zu Ende. Vor den langen Sommerferien bereiten die Schüler in Syrien sich auf die Prüfungen vor. Für die Älteren geht es um das Abitur, um das Baccalaureat, für die anderen um die Jahresabschlusszeugnisse. Das zentralistische Schulsystem ist ein Relikt aus der Zeit des französischen Mandats (1920-1946), das die Syrer, wie auch die Libanesen, beibehalten haben. In anderen Teilen der arabischen Welt, die vom britischen Mandat oder – nach dem 2. Weltkrieg – von den USA geprägt wurden, herrschen britische oder US-amerikanische Schulsysteme vor. Eine Reportage von Karin Leukefeld aus Aleppo.

In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens ist eine gute Schulbildung für die Kinder ein „Muss“ für die Familien. Den Kindern mit guter Schul- und Ausbildung den Weg für eine bessere Zukunft zu ebnen, ist Lebensinhalt und Aufgabe der Eltern. Doch anhaltende Krisen, Sanktionen, wirtschaftliche Probleme, Kriege und Kriegsdrohungen berauben die Jugend in den betroffenen Ländern ihres Rechts auf Sicherheit, Gesundheit und des Rechts auf Bildung.

Libanon

Im Libanon mussten Ende Juni die Prüfungen für rund 3.000 Schülerinnen und Schüler aus dem Südlibanon unter dem Schutz der libanesischen Streitkräfte in Schuleinrichtungen im Landesinneren stattfinden. Beteiligte berichteten, dass israelische Kampfjets während der Prüfungen in Tiefflügen die Schallmauer über den Prüfungsorten durchbrachen, um die Menschen einzuschüchtern.

Rund 90.000 Menschen wurden seit Oktober 2023 wegen der anhaltenden gegenseitigen Angriffe von Hisbollah und Israel aus dem Südlibanon evakuiert. Für Kinder und Jugendliche stockte der Schulunterricht. Während die Hisbollah Militärbasen, Abschussrampen und Überwachungsanlagen der israelischen Streitkräfte angreift, attackiert Israel Agrarflächen und Wohnhäuser auch im Landesinneren des Libanon. Die Waffen könnten sofort schweigen, wenn ein Waffenstillstand im Krieg gegen Gaza erreicht werde, so die Hisbollah. Doch der Waffenstillstand kommt nicht voran und Israel hat in den letzten Wochen wiederholt erklärt, nun den Libanon „in die Steinzeit“ zu bomben.

Gazastreifen

Im Gazastreifen sprechen die Vereinten Nationen, Zusammenschlüsse von Universitäten und Akademikern weltweit von einem „Educide“, der systematischen Vernichtung der Bildung für die betroffenen Gesellschaften. Der englische Begriff wird aus „Education“, auf Deutsch Bildung, und „Genocide“, der massenhaften Vernichtung (von Menschen), zusammengesetzt. Die Situation im Gazastreifen seit Beginn des israelischen Krieges vor fast neun Monaten und das Schweigen der westlichen Regierungen, die Israel weiter mit Waffen, Ausrüstung, Munition und militärischer Aufklärung unterstützen, wird mit Entsetzen kommentiert.

In dem englischsprachigen Internetportal University World News, einem „Globalen Fenster auf die Hochschulbildung“, werden die israelischen Angriffe auf die Hochschulen im Gazastreifen und die „komplette Zerstörung des Bildungssystems in Gaza“ scharf kritisiert. 23.000 Lehrer und Professoren hätten bis zum Beginn des Krieges an den sieben Universitäten mehr als 625.000 Studierende unterrichtet (Stand 27. Februar 2024), heißt es. 4.327 Studierende und 231 Lehrer und Professoren sowie Mitarbeiter seien getötet worden. Die massive Zerstörung von Schulen, die teilweise und komplette Zerstörung der Universitäten sei, wenn man der Sprachregelung der Völkermordkonvention folge, eine Form des „Educide“, eine vollständige und teilweise Vernichtung des Bildungssystems im Gazastreifen.

Die UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF wies im April 2024 darauf hin, dass acht von zehn Schulen (76 Prozent) im Gazastreifen ganz oder teilweise zerstört seien. 620.000 Schülerinnen und Schüler könnten keinen Unterricht mehr besuchen. Die Angriffe auf die Bildungseinrichtungen zerstörten nicht nur den Unterricht, sondern „untergraben die Grundlage für nachhaltiges gesellschaftliches Wachstum und Entwicklung“, so Talal al-Hathal, Direktor der Stiftung „Bildung über alles“, in Doha (Katar).

Syrien

Trotz vieler Probleme können die meisten Schülerinnen und Schüler in Syrien ihre Abschlussprüfungen wahrnehmen. Es scheint, als würden für die Zeit der Prüfungen alle Kräfte mobilisiert, um die Kinder zu unterstützen. Eltern sorgen sich darum, dass ihre Sprösslinge gute Lernbedingungen haben, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Die Prüflinge selber sind angespannt und besuchen die von den Schulen angebotenen Kurse oder, wenn die Eltern es sich leisten können, private Lehrer, um Unsicherheiten im Lehrstoff zu überwinden. Strommangel und die enorme Hitze in diesem Juni stellen alle Beteiligten vor eine große Herausforderung.

Die Prüfungstage beginnen mit einer Art Ausnahmezustand. Landesweit wird am frühen Morgen das Internet für mehrere Stunden abgeschaltet. Begründet wird die drastische Maßnahme damit, dass die Prüfungsaufgaben für alle Prüfungsfächer zentral erstellt werden und an jedem Prüfungstag per Internet an die Prüfungsstellen verschickt werden. Damit niemand sich auf welchem Weg auch immer Informationen über die Prüfungsfragen verschaffen kann, bleibt das Internet für die Allgemeinheit an diesen Tagen von 6:00 Uhr früh bis 10:00 oder auch 11:00 Uhr abgeschaltet.

In Idlib und im Nordosten wird das syrische Schulsystem nicht anerkannt

In Idlib und im Nordosten Syriens können die Prüfungen nicht durchgeführt werden. Sowohl die dogmatischen Islamisten von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die Idlib kontrollieren, als auch die kurdisch geführte Autonome Verwaltung im Norden und Osten Syriens (AANES), erkennen das Schulsystem Syriens nicht an und verhindern die Durchführung der Prüfungen.

Mustafa Abdul Ghani leitet in Aleppo die Bildungsdirektion

In Aleppo organisiert die Bildungsdirektion der Provinzbehörde seit Jahren, dass Schülerinnen und Schüler aus diesen Gebieten nach Aleppo kommen können. Mustafa Abdul Ghani, Leiter der Bildungsdirektion, berichtet von einem Angebot an die Schülerinnen und Schüler, zwei bis drei Wochen in Aleppo zu verbringen, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten und diese dann auch in Aleppo abzulegen. „Die Autonomiebehörde im Nordosten – die ja verschiedentlich mit den syrischen Behörden kooperiert – lässt die Schülerinnen und Schüler nach Aleppo oder auch nach Deir Ez-Zor fahren, damit sie an den zentralen Abschlussprüfungen teilnehmen zu können“, sagt Abdul Ghani im Gespräch mit der Autorin in Aleppo. „Doch die Islamisten geben den Schülern und Schülerinnen keine Genehmigung, blockieren die Straßen nach Aleppo und führen Kontrollen durch.“ Die Zeugnisse und Abschlussnoten seien für die Jugendlichen wichtig, weil das syrische Schulsystem international anerkannt sei. Man wisse nicht, welche Abschlüsse die Kinder in den Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung erhalten würden.

Die Bildungsdirektion in Aleppo biete den Schülerinnen und Schülern Transport, Unterkunft und Verpflegung, Strom, Wasser und psychologische Hilfe an, um sich in Aleppo auf die Prüfungen vorzubereiten, sagt Abdul Ghani. 45 Schulen und andere Einrichtungen seien für die Unterkunft vorbereitet worden, Schulmaterial und Bücher würden zur Verfügung gestellt. Lehrerinnen und Lehrer hätten die Aufsicht und Betreuung übernommen. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF unterstütze, wenn auch nicht mehr so wie in früheren Jahren, sagt er. Die meiste Hilfe komme von syrischen privaten und öffentlichen Hilfsorganisationen.

Um an den Prüfungen teilnehmen zu können, müssten die Kinder „15 Jahre alt sein und sich mit einem Personalausweis und ihren Zeugnissen anmelden“. In diesem Jahr seien 9.500 Schülerinnen und Schüler aus den Gebieten, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert würden, nach Aleppo gekommen. Mehr als 200 Schülerinnen und Schüler seien auf eigene Faust sogar aus Idlib gekommen. „Sie nutzten den Übergang bei Khan Scheikhun, Hilfsorganisationen haben den Transport organisiert und finanziert.“ 7.200 der Schülerinnen und Schüler seien in den öffentlichen Schulen untergebracht, die anderen wohnten in der Zeit der Prüfungen bei Verwandten.

Teamwork und mehr für den Erfolg. Die Lehrerin Fatima al-Kurdi in der Eingangshalle einer Schule in Masaken Hanano

Mustafa Abdul Ghani und Osama Sorour vom Bildungsministerium (Damaskus), der die Prüfungen in Aleppo beaufsichtigt, begleiten die Autorin nach Masaken Hanano am Stadtrand von Aleppo. Dort sind zwei der Schulen, in denen die Prüflinge untergebracht sind. In einer Schule sind Mädchen, in der anderen Jungen. Im Eingangsbereich und auf den Fluren sind viele Zeichnungen, die den Kindern Sinn und Ziel des Schulunterrichts und des Lernens nahebringen sollen. „Konzept, Fähigkeiten, Strategie, Profit, harte Arbeit, Erneuerung, Teamwork“ steht in Kreisen, die um eine Glühbirne angeordnet sind, die den „Erfolg“ symbolisiert.

Eine Mädchengruppe kommt aus Jaraboulus, das an der syrisch-türkischen Grenze liegt und von türkisch unterstützten islamistischen Milizen kontrolliert wird

Die Schülerinnen und Schüler wohnen und lernen in den Schulzimmern, die mit Schränken, Matratzen, Stühlen und Tischen ausgestattet sind. Auf jedem Flur gibt es Bäder, die Kinder erhalten Gutscheine, um sich Essen zu kaufen. In den früheren Jahren wurde Essen verteilt, das von privaten Hilfsorganisationen vorbereitet wurde, doch in diesem Jahr fehlt dafür das Geld, erklärt Herr Abdul Ghani. Die Jungen und Mädchen kommen aus Dörfern und kleinen Städten in den ländlichen Gebieten von Idlib, Hama und Aleppo. Die Schülerinnen und Schüler in den beiden Schulen in Masaken Hanano kommen aus dem Nordosten von Aleppo, aus Ain Arab/Kobane, Manbij, Jaraboulus und Al Bab.

Schülerinnen aus Ain Arab/Kobane müssen erst ihr Arabisch auffrischen. Eine Großmutter (Mitte) begleitet ihre Enkelin.

An diesem Tag ist prüfungsfrei und die jungen Leute bereiten sich in kleinen Gruppen oder mit Lehrern auf die nächsten Prüfungen vor. Eine Gruppe der Mädchen aus Ain Arab/Kobané musste zunächst die arabische Sprache auffrischen. Die kurdische Autonomiebehörde hat an den Schulen Arabisch abgeschafft und der Unterricht findet nur noch in Kurdisch, zumeist Kurmanci statt. Dennoch gehört die arabische Sprache der Bevölkerung weiterhin zum Alltag. Eine der Schülerinnen wird von ihrer Großmutter begleitet, die mit den Mädchen zusammen in dem Klassenraum wohnt. Sie wollte unbedingt bei ihrer Enkelin bleiben, sagt Lehrerin al-Kurdi. Die meisten der befragten Mädchen wollen Apothekerinnen werden. Der Beruf der Lehrerin steht nicht hoch im Kurs, stellt die Lehrerin Fatima al-Kurdi fest, die die Mädchenunterkunft beaufsichtigt. Doch sie zwinkert mit den Augen, als sie das sagt, und die Mädchen lachen.

Osama Sorour (2. v.links) vom Bildungsministerium beaufsichtigt die Prüfungen. Die drei Jungen bereiten sich auf das Abitur vor

In der Schule, wo die Jungen untergebracht sind, wird mit einem Lehrer gerade Mathematik gepaukt. In einem anderen Klassenraum bereiten sich drei ältere Jungen auf das Abitur vor. Zwei von ihnen kommen aus Manbij und Ain Arab/Kobane. Der dritte Schüler sagt, er komme aus Raqqa. Seine Familie lebe aber in Manbij, weil Raqqa völlig zerstört sei. Er wolle Betriebswirtschaft studieren, um später den Betrieb seines Vaters übernehmen zu können, sagt der Schüler. Er werde Syrien auf keinen Fall verlassen. Seine beiden Mitprüflinge planen nach dem Abitur ein Studium zum IT-Ingenieur und Medizin. Sie denken darüber nach, Syrien zu verlassen, doch wie und wohin, ist unklar.

Viele junge Männer haben in den letzten Jahren Syrien verlassen, weil sie nicht in der syrischen Armee dienen und auch nicht von den verschiedenen bewaffneten Gruppen für den Krieg rekrutiert werden wollten. Die Erklärung des syrischen Verteidigungsministeriums (Ende Juni 2024), Rekruten und Reservisten aus dem Militärdienst bis Ende des Jahres zu entlassen und die Dauer der Wehrpflicht für junge Männer neu zu regeln, sorgt in Syrien und vor allem bei den Familien für Aufatmen.

Daumen hoch: Die Schüler hoffen auf ein gutes Zeugnis für die Zukunft

Der Mathematikunterricht ist inzwischen abgeschlossen, die Jungen versammeln sich neugierig im Flur, um die ausländische Journalistin zu befragen. „Nehmen Sie mich mit nach Deutschland“, sagt ein Schüler mit roten Haaren und Sommersprossen. Alle lieben deutschen Fußball und wollen auch wissen, wie es denn mit der Schule in Deutschland sei. Während Mustafa Abdul Ghani sich zu Einzelgesprächen mit einigen Jungen zurückzieht, verfolgt Osama Sorour interessiert den Austausch zwischen den Jungen und der Autorin. Schließlich werden Fotos und Selfis mit der deutschen Journalistin gemacht, bevor die Jungen zur nächsten Unterrichtsstunde zusammengerufen werden.

Die syrische Jugend habe es schwer, sich eine Zukunft in Syrien vorzustellen, sagt Osama Sorour. Die Probleme seien sehr groß, der Krieg habe alles verändert. „Unsere Aufgabe ist, den Kindern die beste Schulbildung mitzugeben. Gute Zeugnisse können ihren Weg in die Zukunft ebnen.“

Bildnachweis: Alle Bilder © Karin Leukefeld


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