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Titel: Wagenknechts Wagnis – Eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW, Teil 5

Datum: 2. Juli 2024 um 9:01 Uhr
Rubrik: BSW, Wahlen
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Berlin, Anfang Juli 2024, die Wahl zum Europäischen Parlament liegt einige Wochen zurück – ebenso die Kommunalwahlen in mehreren Bundesländern. Wie hat das BSW in Malchin bei Gerold Lehmann und seinen Weggefährten abgeschnitten? Lesen Sie heute den fünften und letzten Teil des Berichts von Ramon Schack. Für alle Interessierten verlinken wir hier noch einmal Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4 zum Nachlesen.

„Damit habe er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet. Aus der Kommunalwahl ist Gerold Lehmann in Malchin als Stimmenkönig herausgegangen. Der Malchiner Frontmann des „Bündnis Sarah Wagenkecht“ (BSW) brachte es am vergangenen Sonntag bei der Wahl zur Stadtvertretung auf 1242 Stimmen.“, schreibt der Nordkurier.

Weiter heißt es in dem Artikel:

„Nicht zuletzt an Lehmanns Wahlergebnis liegt es, dass das BSW künftig zu den stärksten Kräften im Stadtparlament gehört und hier künftig mit fünf Abgeordneten mitmischt.“

„Es ist ein großer Vertrauensbeweis, und die Malchiner haben offenbar honoriert, dass ich mich in der vergangenen Legislatur als Stadtvertreter, damals noch für die Linke, in vielen Bereichen des städtischen Lebens engagiert habe“, freut sich Lehmann.

Im Insa-Sonntagstrend, einer im Auftrag der Bild am Sonntag durchgeführten Umfrage, erreicht das BSW einen neuen Höchstwert. Die junge Partei steigt auf neun Prozent, den bisher höchsten gemessenen Wert für das BSW auf Bundesebene. Das BSW ist also dabei, die Parteienlandschaft der Republik zu verändern, und stellt die Konkurrenz vor strategische Herausforderungen.

Gemäß den Beobachtungen des Verfassers dieses Beitrages kommt der Zuspruch inzwischen aus allen Milieus und ist so dynamisch wie das sprunghafte Anwachsen dieser Partei. Die Hans Böckler Stiftung gab Ende letzten Jahres eine Studie bezüglich der bisherigen Parteienpräferenzen der potenziellen BSW-Wähler heraus. Doch ist diese ein halbes Jahr später noch aktuell? Wer sind die Menschen, die das BSW wählen wollen? Wie sieht ihr soziodemografisches Profil aus? Und mit welchen Parteien haben sie bisher sympathisiert?

Dedo S. ist nicht nur Wähler des BSW, sondern auch dessen Mitglied. Sein Alter sieht man dem studierten Historiker nicht an, als er zum verabredeten Treffpunkt an der U-Bahn-Station Ullsteinstraße in Berlin-Tempelhof erscheint. Dedo wohnt nur einige Hundert Meter entfernt, möchte aber erst in einem vietnamesischen Imbiss eine Suppe zur Stärkung zu sich nehmen. Obwohl er den Großteil seines Berufs-und Erwachsenenlebens in Ost-Berlin als Bürger der DDR verbracht hat, ist ihm sein heutiger Wohnort Tempelhof schon seit seiner Schulzeit vertraut, als er dort sein Abitur an einem örtlichen Gymnasium machte.

Das war in der Nazizeit, womit die Frage nach Dedos Geburtsjahr eine Berechtigung erfährt. „Ich wurde im Februar 1928 geboren, bin also 96 Jahre jung!”, verkündet er schmunzelnd und fügt hinzu: „Momentan bin ich das älteste BSW-Mitglied in Deutschland, aber das muss ja nicht so bleiben!“

Nach dem Imbiss bittet Dedo zu einem Kaffee in seine Wohnung. Den etwa zehnminütigen Fußweg absolviert er ohne Gehhilfen und in flottem Tempo. „Vor Corona ging ich regelmäßig schwimmen und in die Sauna, aber das vertrage ich nicht mehr so gut. Aber meine täglichen Spaziergänge lasse ich mir nicht nehmen“, berichtet er, während er die Tür zu seiner Wohnung aufschließt.

Dedo S. vor seiner Wohnung in Berlin-Tempelhof. Foto: Ramon Schack

Neben seiner körperlichen Aktivität sieht er auch in seinem politischen Engagement den Grund für seine Fitness und Langlebigkeit. „Meine Enkeltochter hat mir neulich gestanden, dass sie bei der Europawahl die Tierschutzpartei gewählt hat. Nichts gegen deren Anliegen, aber in der heutigen Zeit der akuten Kriegsgefahr dürfen doch die Stimmen nicht zersplittert werden, das habe ich ihr auch gesagt“, erläutert Dedo, während er dem Gast Kaffee einschenkt.

Für ihn, der als 17-Jähriger noch durch das brennende Berlin des Jahres 1945 gerannt ist, als Flak-Helfer in Hitlers Armee dienen musste, ist es Pflicht, sich für den Frieden einzusetzen. Deshalb trifft man ihn regelmäßig auf politischen Kundgebungen, wie zuletzt bei der BSW-Wahlkampfveranstaltung am Neptunbrunnen in Berlin zur Europawahl oder kurz danach auf der Wahlparty.

Dedo S. bei der BSW-Wahlkampfveranstaltung in Berlin, Juni 2024. Foto: Hans Joachim Genzel

Dedo berichtet von einer Anekdote, die sich einige Tage zuvor zugetragen hatte.

„Ich war zu einem Klassentreffen von Schülern meiner verstorbenen Frau, die als Lehrerin tätig war, eingeladen. Das Klassentreffen fand auf einem Ausflugsdampfer statt, der über den Müggelsee fuhr. Gegen Ende der Veranstaltung verabschiedete ich mich und erwähnte noch, dass ich jetzt Mitglied beim Bündnis Sahra Wagenknecht bin, wofür ich von den ehemaligen Schülern meiner Frau Applaus erhielt. Das hatte mich doch erstaunt.“

Dedo blättert in einigen Alben und Tagebüchern und berichtet dabei, wie er 1945 das Kriegsende mit seinem Vater auf deren Grundstück bei Königs Wusterhausen erlebte.

„Wir hatten uns im Keller versteckt, meine Mutter und Schwester waren nach Halberstadt evakuiert wurden. Plötzlich sah ich, wie ein sowjetischer Soldat über den Gartenzaun kletterte. Da wussten wir, der Krieg ist vorbei.“

Dedo, der noch in der Republik von Weimar das Licht der Welt erblickte, im NS-Staat aufwuchs, später in der DDR sein Erwachsenleben verbrachte und fast als Rentner Bundesbürger wurde, erzählt weiter, wie der junge Russe nach Brot fragte und was für ein Glück er und seine Familie hatten, denn wenig später fanden sie sich alle – Vater, Mutter, Dedo und seine Schwester – unversehrt in Berlin-Lichtenberg wieder; eine Seltenheit in dieser Zeit.

Dedos Familie betrachtete die DDR als Chance. Sein 1984 verstorbener Vater, das erfuhr er erst viel, viel später, war schon seit 1919 Mitglied der KPD, also schon zum Zeitpunkt der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. In der DDR machte Dedo nach seinem Studium der Geschichte als Historiker Karriere, trotzdem sah er einiges kritisch in der Führungsebene der SED, deren Mitglied er war.

„Ja, Oskar Lafontaine war bisher in fünf Parteien, ich erst in vier, in der SED, PDS, die Linke und nun das BSW“, wirft er lachend ein, während er sich eine Strickjacke überzieht. „Dabei soll es denn aber auch bleiben“, erklärt er augenzwinkernd.

So viel ist klar: Dedo interpretiert das BSW als eine linke Partei, die in der Tradition der Friedenspolitik steht. Der Partei die Linke konnte er nicht verzeihen, dass sie in dieser Frage nicht eindeutig geblieben ist.

„Ich halte solche Begrifflichkeiten für überholt”, macht Kirsten O. deutlich, die mit ihrem Mann und den zwei Söhnen gerade von Berlin aufs Land bei Oranienburg gezogen ist. Kirsten O., eine 40-jährige Grundschullehrerin, wuchs tief im Westen der Republik bei Mainz auf, kam aber nach dem Studium nach Berlin. „Wissen Sie, wenn sie sieben Jahre in einer Grundschule im Wedding tätig waren, dann wissen sie, dass Integration nur durch eine Begrenzung der Zuwanderung gelingen kann. Alles andere sind linke Luftschlösser“, gibt sie zu bedenken, während sie sich auf dem Grundstück ihres neuen Anwesens umschaut. „Ich komme aus einer CDU-Familie, mein Vater ist immer noch in der Partei, bin konservativ-liberal erzogen wurden, Helmut Kohl war das Idol der Familie. Im Studium, erst recht in Berlin, war ich damit eine Art Paradiesvogel, aber erst durch meinen Beruf habe ich die Widersprüche zwischen der Realität und den Utopien kennengelernt. Gegen Rassismus bin ich wirklich gefeit, sonst wäre ich wohl nicht mit einem Mann zusammen, dessen Vater aus Indien stammt. Und wenn jemand meine Söhne schief anschaut, schaue ich schiefer zurück. Aber natürlich hat Sahra Wagenknecht recht, wenn sie darauf aufmerksam macht, dass Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen eine Bereicherung sein können. Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt.“

Ihr Mann arbeitet als Augenarzt in einem Krankenhaus in Reinickendorf, während Kirsten O. sich aktuell um die Erziehung der Söhne kümmert, die Grundschüler sind. Abschließend erklärt sie dem Autor dieser Reportage:

„Ich bin also direkt von der CDU zum BSW gewechselt, vorläufig bin ich mit der neuen Partei zufrieden, wobei ich die Aufnahmemodalitäten etwas übertrieben finde.“

In Brandenburg – dort, wo Kirsten O. jetzt mit ihrer Familie lebt – wird am 22. September ein neuer Landtag gewählt. Während die Linke in einem ihrer Stammländer darum kämpfen muss, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, ist das BSW auf 17 Prozent und damit zur zweitstärksten Partei angewachsen …

Ramon Schacks Buch „Wagenknechts Wagnis – eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW“ erscheint im Oktober 2024 im Ammian Verlag.

Titelbild: Shutterstock / Achim Wagner


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