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Titel: Viele Unsicherheiten bleiben – zur ersten Wahlrunde der Parlamentswahl in Frankreich

Datum: 1. Juli 2024 um 15:00 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Wahlen
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Die erste Runde der kurzfristig angesetzten französischen Parlamentswahlen ist Geschichte. Wie viele Umfragen im Vorfeld schon angedeutet hatten, konnte die ultrarechte Partei „Rassemblement National (RN)“ wie schon bei den Europawahlen die meisten Stimmen erzielen. Damit ist allerdings noch keine Entscheidung gefallen, wie es politisch in Frankreich weitergeht. In den meisten Wahlkreisen steht nächste Woche noch eine Stichwahl an, da dort keiner der Kandidatinnen oder Kandidaten die gesetzlich vorgeschriebenen Quoren erfüllt hat. Zudem bleibt es sehr unwahrscheinlich, dass sich nächste Woche klare Mehrheiten abzeichnen werden. Fest steht nur: Der klare Verlierer des gestrigen Abends ist der „Macronismus“. Von Sebastian Chwala.

Die Zahlen der ersten Wahlrunde: Das RN führt knapper, als es die Medien behaupten

Zunächst einmal die nackten Zahlen dieses ersten Wahlgangs. Anders als von den französischen Medien etwas manipulativ berichtet und in Folge von der deutschen Presse übernommen, erzielte das RN landesweit keine 33 Prozent, sondern „nur“ 29,25 Prozent der Stimmen. Hier addierten die Medien einfach die Stimmenanteile der Kandidaten des locker mit dem RN verbündeten Noch-Parteivorsitzenden der rechtskonservativen „Republikaner“ hinzu. Dieses Wahlbündnis wurde aber niemals wirklich finalisiert, und selbst viele Wähler dürften nicht unbedingt gewusst haben, ob sie für die Kandidaten der „regulären“ oder der „Ciotti“-Republikaner gestimmt haben. Das Linksbündnis der „Neuen Volksfront“ (NFP) erzielte den offiziellen Zahlen des Innenministeriums zufolge 27,99 Prozent. Hier sind Stimmen für Kandidaten, die sich zur Linken bekennen, aber aus diversen Gründen nicht die offiziellen Kandidaten der NFP waren, nicht mit einberechnet. Das „macronitische“ Lager landete mit 20,04 Prozent nur noch auf Platz Drei. Die Wahlbeteiligung stieg im Vergleich zur letzten „regulären“ Parlamentswahl 2022 auf 66,71 Prozent an. Im Juni 2022 hatte sie nur 47,51 Prozent betragen.

Diese landesweiten Zahlen haben allerdings nur statistischen Wert, denn im französischen Mehrheitswahlrecht fallen die Entscheidungen auf der Ebene der 577 Wahlkreise, die jeweils den Kandidaten, der spätestens im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen erhält, in die Nationalversammlung entsenden. Um bereits im ersten Wahlgang gewählt zu werden, reicht es auch nicht, wenn nur 50 Prozent der Wählerstimmen erreicht werden, sondern es muss auch das Quorum von 25 Prozent der registrierten Wähler überschritten werden. Nur die recht hohe Wahlbeteiligung am gestrigen Sonntag war deshalb der Grund, dass bereits mehrere Dutzend Kandidaten auf Anhieb ein Mandat in der Nationalversammlung erhielten, nämlich 37 auf Seiten des RN und 32 auf Seiten der NFP. Auch zwei Vertreter des „Macronismus“ schafften dies sowie fünf Kandidaten, die formal keinem der Lager angehören.

Über die Verteilung der restlichen 501 Mandate muss demzufolge nächste Woche in einer zweiten Wahlrunde entschieden werden. Auch hier gelten spezielle Regeln, deren Reichweite auch durch die Höhe der Wahlbeteiligung mitbestimmt werden. So qualifizieren sich zwar der Erst-und Zweitplatzierte, aber jeder weitere Kandidat, der mehr als 12,5 Prozent der Stimmen aller im Wählerverzeichnis registrierten Personen erhält, darf ebenso erneut antreten. Die Wähler sorgten mit ihrer Stimmabgabe gestern dafür, dass sich nächsten Sonntag in 306 Wahlkreisen tatsächlich drei Kandidaten erneut um die Stimmen der Wähler bewerben dürfen. Dieser Wert ist ein absoluter Rekord und das Ergebnis der politischen Dreiteilung im Land.

Das RN wird nicht von den „Abgehängten“ gewählt

Betrachtet man Wahlergebnis sowohl räumlich als auch soziologisch, fällt eine massive Polarisierung auf. So führte die Explosion der Wahlbeteiligung dazu, dass das Linksbündnis seine Dominanz im städtischen und den räumlich verdichteten Regionen stärken konnte, das RN dominiert die ländlicheren Regionen. Auch die Wählerschaften unterscheiden sich teils deutlich. So wird die Linke hauptsächlich von jungen Geringverdienern gewählt, während das RN in der Generation der 35- bis 50-jährigen Durchschnittsverdiener besonders gut abschneidet. Der Mythos vom Rechtsruck der europäischen jungen Generation, wie er nach den Europawahlen in aller Munde war, muss also zumindest relativiert werden. Der „Macronismus“ dagegen hat diese Wahlen nur aufgrund des hohen Zuspruchs der Rentner nicht noch deutlicher verloren.

Das gestrige Wahlergebnis zeigte erneut, dass politischen Frontlinien zwar zwischen Stadt und Land verlaufen, hier aber nicht davon gesprochen werden kann, dass eine generelle Verarmung des ländlichen Raums die Erfolge des RN dort erklärt. Vielmehr ist es die viel zu kurz greifende Suche nach sozial schlechter gestellten gesellschaftlichen sozialen Gruppen. Verbunden mit einem durch die „postkoloniale“ Geschichte größer als in Deutschland ausgeprägten Rassismus, werden Menschen aus Familien mit Migrationserfahrung viel häufiger zum alleinigen Grund aller Probleme im Land stilisiert. Hier spielen die privaten Medien eine inzwischen unerträgliche Rolle, welche den sozial und kulturell durchmischten städtischen Raum als Hort von Kriminalität, Gewalt und (unfranzösischem) kulturellem Separatismus brandmarken. Tatsächlich wird der ländliche Raum aber von einer massiven staatlichen Dysfunktionalität geprägt. Der Abbau staatlicher Infrastruktur in der Breite sowie mangelnde Qualität der vorgefundenen Dienstleistungen lässt bei vielen Menschen den Eindruck entstehen, unangemessen durch Steuern und Gebühren ausgepresst zu werden, während diese Gelder anschließend in die Taschen der „assisté“ (deutsch: arbeitslose, nichtweiße Faulpelze) wandern. Zudem zeichnet sich der ländliche Raum durch eine große Zahl von Kleinunternehmern sowie Grund-und Hausbesitzer aus, die linken Vorstellungen nach stärker öffentlich geförderten und kollektiv gestalteten Formen von Eigentum kritisch gegenüberstehen.

So ist es zu erklären, dass die vollkommen wirtschaftsliberalen Forderungen des RN, die inzwischen längst allgemein bekannt sind, nicht zu einer schwindenden Zustimmung zu dieser Partei führen. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass das RN sich noch nicht in der Regierungsverantwortung desavouiert hat und als Gesicht der Partei in den letzten Wochen eben nicht die in Deutschland immer wieder gern in den Vordergrund gerückte Marine Le Pen, sondern der junge Parteivorsitzende Jordan Bardella wahrgenommen wird. Zwar spekuliert Le Pen höchstpersönlich damit, mit großen Chancen in den nächsten Präsidentschaftswahlkampf zu ziehen, aktuell hat sie sich aber eher ein wenig in die zweite Reihe zurückgezogen.

Die politischen Mehrheitsverhältnisse sind völlig unklar

Ob all diese beschriebenen Verwerfungen innerhalb der französischen Gesellschaft dafür reichen, dass nächste Woche eine Regierung unter der Führung Jordan Bardellas die Amtsgeschäfte übernehmen kann, bleibt weiterhin unklar. Die Hürde von 289 Mandaten zu überspringen, scheint für das RN und etwaige Unterstützer sehr hoch. So hat die NFP bereits angekündigt, alle ihre drittplatzierten Kandidaten in Wahlkreisen, in denen ein Vertreter des RN in die zweite Wahlrunde eingezogen ist, zurückzuziehen. Der „Macronismus“ beginnt ebenfalls langsam, auf diese Linie einzuschwenken, auch wenn man sich weiterhin nicht wirklich dazu durchringen möchte, im Einzelfall die „Extremisten“ von La France insoumise (LFI) offiziell zu unterstützten. Die politische Gleichsetzung des ultrarechten RN und der linken Bewegung LFI war schließlich Kernelement des „macronitischen“ Wahlkampfs. Daran ändern auch Aufrufe des Staatspräsidenten Macron, jetzt eine „breite republikanische Front zu bilden“, erst einmal wenig. Ohnehin entscheiden am Ende die Wähler. Hier bleibt offen, ob und wie stark der Wille ist, eine RN-Regierung zu verhindern.

Klar ist nur, dass der „Macronismus“ nicht mehr die stärkste Kraft in der Nationalversammlung sein und damit nicht mehr den politischen Ton im Land angeben wird. Staatspräsident Macrons Möglichkeiten zu Verfahrenstricks und Verordnungen funktionieren nur, wenn eine „macronitisch“ gefärbte Regierung im Amt ist, die ihre verfassungsrechtlich möglichen Wege nutzten kann, um Gesetze am Parlament vorbei zu beschließen. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, steht Macron handlungsunfähig da, denn die formalen politischen Entscheidungen fällt der Premierminister. In Anbetracht der Kräfteverhältnisse, die sich im neuen Parlament abzeichnen, dürfte es schwierig werden, eine rechtsliberale Koalition zu konstruieren. Allerdings ist im Moment auch überhaupt noch nicht absehbar, welche politische Formation Mehrheiten organisieren kann. Sicherlich wäre es möglich, dass eine trotz des Erfolges des RN letzten Endes gestärkte Linke aus dem zweiten Wahlgang hervorgeht und dem „macronistischen“ Block für die Zusicherung einer leichten Wende in sozial-und wirtschaftspolitischen Fragen eine Zusammenarbeit anbietet. Die ideologischen Differenzen dürften hier aber eigentlich viel zu groß sein.

Möglicherweise wird auch eine Rechtskoalition zwischen den „Republikanern“ und dem RN möglich. Im schlimmsten Fall droht der politische Stillstand, da es unmöglich wird, einen Premierminister zu finden, der eine Mehrheit der Nationalversammlung hinter sich weiß. Eines ist aber klar: Sollte sich eine politische Koalition herausbilden, muss Staatspräsident Macron deren gewünschten Kandidaten für das Amt des Regierungschefs auch ernennen. Eine Möglichkeit, diesem die Ernennung zu verweigern, besteht faktisch nicht. Da Staatspräsident Macron in drei Jahren aufgrund der Amtszeitbegrenzung des Präsidentenamts auf zwei Wahlperioden nicht wieder kandidieren darf, droht er für den Rest seiner Amtszeit zu einer politisch nicht mehr handlungsfähigen Repräsentationsfigur zu verkommen. Ob er im nächsten Jahr die Möglichkeit erneut nutzt, kurzfristig Neuwahlen auszurufen, darf bezweifelt werden. Und ob er so weit geht, den Artikel 16 der Verfassung zu ziehen, der ihm im Falle innerer Unruhen für mindestens einen Monat faktisch alle politische Macht in die Hände gibt, ebenfalls.

Titelbild: Igor Paszkiewicz/shutterstock.com


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