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Titel: Über Faschismus und andere Übel: Ein Gespräch mit Luis Britto García
Datum: 23. Juni 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Länderberichte, Rechte Gefahr
Verantwortlich: Redaktion
Der Autor und Kolumnist Luis Britto Garcia ist einer der bekanntesten und angesehensten Intellektuellen Venezuelas. Britto Garcia war immer schon überzeugter Anhänger der Bolivarischen Bewegung, dennoch ist er ein unabhängiger Denker, der die Regierung kritisiert, wenn es nötig ist. In diesem Interview spricht er über Faschismus und Korruption sowie über seine Hoffnungen auf einen Sieg der Chavisten bei den kommenden Präsidentschaftswahlen am 28. Juli. Von Cira Pascual Marquina.
Sie haben kürzlich einen Artikel über den Faschismus geschrieben, ein Thema von weltweiter Bedeutung. Wie würden Sie das Phänomen aus heutiger Sicht beschreiben?
In seinem grundlegenden Werk „Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism, 1933-1944“ beschreibt Franz Leopold Neumann den Faschismus kurz und bündig als das vollständige Zusammenspiel von Großkapital und Staat. Wenn die Interessen des Großkapitals zu politischen Interessen werden, dann ist Faschismus nicht weit. Der Faschismus nutzt gesellschaftliche Krisen, er präsentiert sich als Allheilmittel, während er Unterdrückung und Ungleichheit forciert. Kapitalismus in der Krise schafft Arbeitslosigkeit, Knappheit und Elend. Der Faschismus stellt sich als eine magische Alternative dar.
Der Faschismus hat charakteristische Merkmale. Er wird in der Regel vom Großkapital finanziert und schafft politische Strukturen wie den Unternehmerstaat, in dem Wirtschaftslenker eine zentrale Rolle spielen. Er ist elitär, seine Führung kommt in der Regel aus der Oberschicht oder der oberen Mittelschicht. Seine Anhänger rekrutiert der Faschismus in der Mittelschicht, insbesondere bei denen, die in der Krise ohne Perspektive sind.
Der Faschismus ist fromm: der Papst segnete Hitler, Mussolini, Franco, Pétain und Salazar, die hohe lateinamerikanische Kirchenhierarchie gab Pinochet ihren Segen.
Der Faschismus ist arbeiterfeindlich: Er verbietet Gewerkschaften und löst sie auf, reduziert Löhne und baut Arbeitnehmerrechte ab. Er leugnet den Klassenkampf, fungiert aber als Polizist des Kapitals im Klassenkampf.
Der Faschismus ist gewalttätig: Er schafft paramilitärische Gruppen zur Unterdrückung von Gewerkschaften und Oppositionsparteien.
Der Faschismus ist rassistisch: Er hält sich für genetisch überlegen, diskriminiert und will so genannte „minderwertige Rassen“ ausrotten. Der Faschismus ist frauenfeindlich: Er verbannt die Frauen in den häuslichen Bereich, in die Kinderbetreuung und in die Kirche.
Der Faschismus ist plagiatorisch: Er stiehlt die rote Fahne vom Kommunismus, das Hakenkreuz von den Hindus, das Liktorenbündel vom klassischen Rom.
Er ist anti-intellektuell: Er diskriminiert und verfolgt Avantgardisten und kritische Denker. Denkt daran, was Göring sagte: „Wenn ich das Wort Kultur höre, greife ich zum Revolver.“
[Der argentinische Intellektuelle] Atilio Borón fügt in seiner Analyse des heutigen Faschismus zwei Merkmale hinzu. Die klassische Form des Faschismus befürwortete die staatliche Intervention in die Wirtschaft, die heutige Version ist neoliberal und lehnt Staatsintervention ab, obwohl sie davon profitiert. Der klassische Faschismus war antijüdisch, während die Neofaschisten pro-zionistisch sind.
Ich glaube, so haben wir ein ziemlich vollständiges Bild.
Der Faschismus manifestiert sich in der Regel auf der Straße. Er tauchte hier bei den „Guarimbas“ [den gewalttätigen Straßenprotesten] 2014 und 2017 und auch bei der kurzzeitigen Pro-Guaidó-Mobilisierung 2019[1] auf. Heutzutage ist der Faschismus in den Straßen von Caracas kaum noch präsent. Das ist zweifellos ein Sieg für das Volk und für die Regierung. Wie kam das zustande?
Dieser Tage gibt es immer noch Straßendemonstrationen zugunsten radikaler Oppositionskandidaten, aber sie sind klein und ohne Gewalt. Während der Guarimbas gab es nicht nur zügellose Gewalt auf den Straßen, es gab Wohnungen und Häuser, die in Lager, Hochburgen und Waffendepots für die Faschisten verwandelt wurden. Die Bewegung war gut organisiert und finanziell gut ausgestattet.
Aus meiner Sicht waren die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung 2017 ein wirksames kulturelles Abwehrmittel und ein Wendepunkt: Die faschistische Gewalt ging über Nacht zurück. Denn Guarimbas und andere faschistische Unternehmungen sind auf Mobilisierung, finanzielle Unterstützung und die Aussicht auf schnellen Sieg angewiesen. Das alles war weg und deshalb ist im Moment nichts zu sehen von faschistischer Mobilisierung.
Sie schrieben vor kurzem eine Kolumne mit dem Titel „Caiga quien caiga“[2], die sich in Chavista-Kreisen weit verbreitete. Es war ein Weckruf gegen Korruption. Erzählen Sie uns von dem Artikel.
Die Mehrheit der Venezolaner, die in der PSUV eingeschlossen, sind ehrliche Leute. Aber offensichtlich haben bestimmte Akteure ‒ nennen wir sie Ideologen und Praktiker der kapitalistischen Plünderung ‒ Teile der Regierungspartei infiltriert und haben Leute gefunden, die ihnen zuhören und Macht geben.
Niemand kann mich überzeugen, dass die Leute, die die Betrügereien begangen haben, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben, Sozialisten sind. Es ist zwingend, die wahren Ursachen dieses Problems ausfindig zu machen.
Mich beunruhigt die Anfälligkeit einiger PSUV-Mitglieder für „Abenteuer“ korrupter Personen.
Jair Bolsonaro hat die Präsidentschaft in Brasilien mit der Unterstellung gewonnen, die Regierung Dilma Rousseff sei extrem korrupt. Die Justiz hat sowohl Rousseff als auch ihren Vorgänger Lula da Silva davon entlastet, aber ein Teil der Wählerschaft verließ die Arbeiterpartei und entschied sich stattdessen für einen katastrophalen Kandidaten.
Der Traum, mit kapitalistischen Tricks über Nacht reich zu werden, hat einige Leute erfasst. In Wirklichkeit bringt er totalen Ruin. Ich habe die Menschen vor solchen Verlockungen gewarnt, aber die Gier und das Versprechen auf leichten Reichtum packen weiterhin die Phantasie der Leute.
Einmal habe ich Chávez davon überzeugt, sein Veto gegen ein Gesetz einzulegen, das die Privatisierung von Flüssen, Seen und Lagunen und die Dezentralisierung ihrer Verwaltung vorsah. Das war ein wichtiger Sieg gegen Korruption.
Ich habe auch darauf hingewiesen, dass es für den Petro [venezolanische Kryptowährung] keinen klaren Rechtsrahmen und keine Kontrollen gab. Jetzt sehen wir die tragischen Ergebnisse[3].
Diejenigen, die sich der PSUV anschließen, müssen sich eindeutig zu den nationalen, den sozialistischen und den antiimperialistischen Prinzipien der Parteicharta bekennen und jegliche Pläne zur Auslieferung des Landes an ausländisches Kapital aufgeben.
Ich habe computergestützte Kontrollmechanismen in der öffentlichen Verwaltung vorgeschlagen. Leider bevorzugen einige Leute weiterhin die Geheimhaltung und missachten die bestehenden Regeln.
Die Opfer all dessen sind die Menschen, deren Lebensbedingungen hätten verbessert werden können mit der Investition der kolossalen Geldsummen, die verschwundenen sind.
Aber es gibt noch ein Problem: Die Menschen, die unter den Folgen leiden, könnten sich bei den kommenden Wahlen mit einem Strafvotum revanchieren.
Bis zur Präsidentschaftswahl sind es keine drei Monate mehr. Wie sehen Sie das derzeitige Wahlpanorama?
Die Rechten haben bei vergangenen Wahlen erhebliche Stimmenzahlen bekommen, aber sie waren stets völlig gespalten. Obwohl sie in der Vergangenheit Siege in wichtigen Bundesstaaten wie Miranda und Zulia hatten, konnten sie wenig daraus machen, weil es ihnen nicht gelang, eine einheitliche Front zu bilden.
Diesmal ist die Rechte immer noch zersplittert und ihre Kandidaten sind nicht sehr bekannt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es zweifelhaft, ob sie genug Schwung für einen Sieg aufbringen können.
Auf der anderen Seite bleibt die PSUV ‒ trotz Herausforderungen wie Korruptionsskandalen, aufgeschobenen Arbeitsreformen und den schwerwiegenden Auswirkungen der US-Blockade ‒ die am stärksten gefestigte politische Kraft in Venezuela. Obwohl diese Faktoren, die wir erörtert haben, einen Teil ihres Rückhalts in der Wählerschaft verringern könnten, ist es meiner Meinung nach am wahrscheinlichsten, dass die PSUV gewinnt.
Übersetzung: Amerika21
Titelbild: Symbolisch erhängte Anhänger von Hugo Chaves („Chavistas“) während der Gewaltproteste 2014 in Venezuela – Quelle: Telesur
Venezuela: Sanktionen, Einflussnahme und Souveränität
US-Regierung verschärft Sanktionspolitik gegen Venezuela und mischt sich in den Wahlkampf ein
“Die Klassenidentität ist entscheidend, um so ziemlich alles in Venezuela zu verstehen”
[«1] Juan Guaido, Vertreter der Hardliner-Opposition, ernannte sich Anfang Januar 2019 selbst zum „Interimspräsidenten“ und versuchte über drei Jahre lang vergeblich, die Regierung Maduro mit allen Mitteln zu stürzen
[«2] „Caiga quien caiga“ (Wer stürzen muss, stürzt) bedeutet, dass eine Person, die Straftaten begeht, unabhängig von ihrer Stellung in Politik, Militär oder Wirtschaft zur Rechenschaft gezogen wird
[«3] Britto García bezieht sich auf die Verhaftung des Ex-Ministers und PDVSA-Präsidenten Tareck El Aissami, der in einen Korruptionsskandal mit Kryptowährungen verwickelt war. Zahlreiche weitere involvierte Personen wurden ebenfalls verhaftet
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