NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Die strategischen Interessen der USA in der Ukraine und die Vergesslichkeit des Regierungssprechers

Datum: 21. Juni 2024 um 11:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
Verantwortlich:

US-Vizepräsidentin Kamala Harris hatte auf dem sogenannten „Friedensgipfel“ in der Schweiz am 15. Juni öffentlich erklärt: „Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“ Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund von der Bundesregierung wissen, ob diese die Einschätzung der USA teilt und was für Deutschland im Falle der Ukraine dominiert, die von Harris angesprochene „Nächstenliebe“ oder die strategischen Interessen. Die Antwort des Regierungssprechers offenbarte massive Erinnerungslücken hinsichtlich der neueren Geschichte Europas seit 1991. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die zitierte Aussage der US-Vizepräsidentin beim „Friedensgipfel“ in der Schweiz war mitnichten ein Fauxpas. Im offiziellen und auf der Seite des Weißen Hauses veröffentlichten Protokoll der Rede wird diese Aussage sogar extra abgesetzt und betont:

Bodenschätze statt „Freiheit und Demokratie“

Die geostrategische Relevanz der Ukraine im Kampf gegen Russland und China wird im Washingtoner Establishment völlig offen kommuniziert. Exemplarisch sei auf die jüngsten Darlegungen von Lindsey Graham, einem politischen Schwergewicht im US-Senat, verwiesen. Dieser erklärte am 9. Juni in einem Interview mit CBS News völlig unverhohlen:

„Sie (die Ukraine) sitzen auf 10 bis 12 Billionen Dollar an wichtigen Mineralien. Sie könnten das reichste Land in ganz Europa sein. Ich möchte dieses Geld und dieses Vermögen nicht Putin überlassen, damit er es mit China teilt. Wenn wir der Ukraine jetzt helfen, kann sie der beste Geschäftspartner werden, den wir uns je erträumt haben. Diese 10 bis 12 Billionen Dollar an wichtigen Bodenschätzen könnten von der Ukraine und dem Westen genutzt werden, anstatt sie an Putin und China zu verschenken. Lassen Sie uns eine Lösung für diesen Krieg finden. Aber sie sitzen auf einer Goldmine. Putin 10 oder 12 Billionen Dollar für wichtige Mineralien zu geben, die er mit China teilen wird, ist lächerlich.“

Die Mär des Regierungssprechers von „75 Jahren Frieden in Europa“

Regierungssprecher Steffen Hebestreit hatte in seiner Antwort auf die Frage der NachDenkSeiten darauf verwiesen, dass Europa angeblich vor dem 24. Februar 2022 „mehr als 75 Jahre Frieden“ gekannt habe. Angesichts der sogenannten Jugoslawienkriege von 1991 bis 1995 mit über 100.000 Todesopfern, die die heutigen Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Mazedonien umfasste, sowie dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien von März bis Juni 1999 mit abertausenden zivilen Todesopfern und umfassend zerstörter ziviler Infrastruktur (Rundfunksender, Kraft- und Umspann- sowie Petro- und Chemiewerke, Brücken, Schulen und Krankenhäuser) lässt einen die Antwort des Kanzlersprechers staunend zurück.

Es spricht allerdings vieles dafür, dass Hebestreit diese Kriege nicht bewusst ignoriert, sondern, wie ein Großteil der in Westdeutschland sozialisierten Funktionseliten, die damaligen Kriege auf dem Balkan tatsächlich nicht Europa zuordnet und diese Kriegshandlungen, maßgeblich von dem gerade wiedervereinigten Deutschland (z.B. durch den Alleingang bei der Anerkennung Kroatiens) mit angeheizt, bis heute nicht im kollektiven westdeutschen Gedächtnis verankert sind. Zeit, dies zu ändern!

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz am 17. Juni 2024

Frage Warweg
Bleiben wir beim Friedensgipfel in der Schweiz. Die US-Vizepräsidenten hat dort ja öffentlich erklärt, ich zitiere nur ganz kurz: Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist. – Mich würde interessieren: Teilt die Bundesregierung denn diese Einschätzung hinsichtlich ihres eigenen Agierens in der Ukraine?

Regierungssprecher Hebestreit
Die Bundesregierung unterstützt die Ukraine bei ihrem Kampf gegen den brutalen und durch nichts zu rechtfertigenden russischen Angriffskrieg. Das tun wir militärisch, humanitär, politisch und finanziell, und das tun wir so lange, wie es nötig ist.

Zusatzfrage Warweg
Die US-Vizepräsidentin hat ja klar die Motivation dargelegt und gesagt, das geschehe vor allem aus strategischem Interesse. Mich würde einfach interessieren, wie da die Bewertung der Bundesregierung ist. Was dominiert da, die angesprochene Nächstenliebe oder die strategischen Interessen?

Hebestreit
Herr Warweg, ich tue mich jetzt schwer mit dem Begriff der Nächstenliebe, weil er – – –

Zuruf Warweg
Nicht von mir!

Hebestreit
Sie haben ihn ja gerade – – – Ich habe ja nicht Sie persönlich angegriffen, sondern ich habe den Begriff definiert und gesagt, dass ich mich damit schwertue. Es geht vielmehr um die europäische Friedensordnung, die durch das russische Vorgehen schwer beschädigt, wenn nicht zerstört worden ist. Diese Friedensordnung, die diesem Kontinent nach vielen Hunderten Jahren Krieg mehr als 75 Jahre Frieden beschert hat, ist etwas, das uns sehr teuer sein sollte, und das helfen wir zu verteidigen, damit der Aggressor – noch einmal: ein Aggressor, der ohne jede Rechtfertigung ein anderes Land überfallen hat – mit seinem Angriffskrieg keinen Erfolg haben kann, nicht aus Nächstenliebe, sondern weil es um unser aller Sicherheit geht. Es geht um die Friedensordnung, die im Übrigen auch Russland und sein Vorgänger, die Sowjetunion, in der KSZE-Akte mit unterzeichnet haben, die nächstes Jahr ihr 50. Jubiläum begehen wird. Darum geht es in diesem Fall.

Zusatz Warweg
Sie haben jetzt von 75 Jahren ununterbrochenem Frieden in Europa gesprochen. Das heißt, die völkerrechtswidrige Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO bewerten Sie nicht als Krieg.

Hebestreit
Herr Warweg, ich glaube, darüber haben wir in der Vergangenheit von dieser Bank aus mit Ihnen schon mehrfach geredet, und darauf würde ich Sie dann für heute verweisen. Ich glaube, – – – Nein, darauf verweise ich jetzt einfach. Es ist spät.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 17.06.2024


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=117019