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Titel: Vor Antrittsbesuch: Bundesregierung nennt Aussagen des argentinischen Präsidenten Milei „geschmacklos“

Datum: 20. Juni 2024 um 14:31 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Länderberichte, Neoliberalismus und Monetarismus
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Argentiniens Präsident Javier Milei wird am 22. und 23. Juni zu einem Antrittsbesuch in Deutschland erwartet. Zuvor hatte der selbsternannte „Anarchokapitalist“ Ende Mai massive Verstimmungen mit Spanien provoziert, weil er sowohl den spanischen Regierungschef Pedro Sanchez als auch dessen Ehefrau unter anderem als „Feigling“, „korrupt“, und „Gespött der Welt“ beschimpft hatte. Madrid hatte daraufhin den Botschafter aus Argentinien abberufen. Die NachDenkSeiten wollten vor dem Hintergrund des Milei-Besuches wissen, ob die Bundesregierung, die bisher nicht auf die Beschimpfungen des Regierungschefs des EU-Landes Spanien reagiert hatte, plant, diese verbalen Ausfälle sowie die von den radikalen neoliberalen Wirtschaftsmaßnahmen provozierten gesellschaftlichen Verwerfungen in Argentinien (z.B. massiver Anstieg der Armutsrate) in den Gesprächen mit Milei zu thematisieren. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hintergrund: Kettensägen-Liberalisierung, Mileis „Mixer“ und die daraus resultierende Massenarmut

Nur zehn Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember 2023 hatte Milei das erste Präsidialdekret angekündigt, um die Liberalisierung der Märkte weiter voranzutreiben. Es bestand aus 366 Artikeln, die fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens betrafen. Unter anderem sah das Dekret weitreichende Reformen im Bereich des Arbeitsrechts, des Mietrechts sowie die freie Nutzung des Luftraums durch ausländische Militärs, die Deregulierung des Verkaufs von Ländereien an ausländische Investoren und umfangreiche Privatisierungen von strategischen Staatsunternehmen vor wie z.B. Energía Argentina S.A., das staatliche Unternehmen zur Förderung und Vermarktung von Wasserstoff und fossilen Brennstoffen.

Die vorgesehenen Änderungen beim Arbeitsrecht beinhalten unter anderem die Einschränkung des Streikrechts sowie die Möglichkeit, streikende Arbeiter regulär zu entlassen, ebenso wie die Abschaffung der Geldstrafen für Unternehmen, die Arbeitskräfte illegal beschäftigen.

In Argentinien, einem Land mit für lateinamerikanische Verhältnisse bisher sehr umfassenden Gesetzen zum Schutz der Arbeitnehmer und einem hohen Organisationsgrad der Arbeiter, selbst innerhalb des informellen Sektors, der in Argentinien über 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmacht, haben solche „Reformvorhaben“ besonders einschneidende Konsequenzen.

Ende Dezember 2023 legte die Regierung unter Milei dann den nächsten umfassenden Gesetzentwurf mit 664 Paragrafen vor, das sogenannte Ley Omnibus, ein im Wortsinne Ermächtigungsgesetz, das die Deregulierung weiter vorantreibt und dem Präsidenten Gesetzgebungsbefugnisse ohne Beteiligung des Parlaments einräumt.

Die von Milei angekündigten Maßnahmen, die ihm und seiner Partei Libertad Avanza einen mit extrem hohen sozialen Kosten erkauften Haushaltsüberschuss verschafft haben, bestehen, wie etwa das auf Lateinamerika spezialisierte Portal Amerika21 ausführt, einerseits aus der „Kettensäge“ und andererseits aus dem „Mixer“.

Bei der „Kettensäge“ handelt es sich um umfassende Kürzungen und Streichungen der Staatsausgaben. Um das politische Programm umzusetzen und die Wirtschaftsziele zu erreichen, ging die Regierung innerhalb kürzester Zeit auf einen brutalen Sparkurs. So wurde tausenden staatlichen Angestellten gekündigt. Es folgten Streichungen von Subventionen für den öffentlichen Nahverkehr, Energie und Wasser sowie für Medikamente.

Außerdem wurde die Deckelung der Preise für Grundnahrungsmittel abgeschafft; die Lebensmittellieferungen an Suppenküchen und für die Schulspeisung wurden größtenteils eingestellt. Anfang Mai veranlasste die Regierung nach einer richterlichen Anordnung Razzien in Suppenküchen und in den Wohnungen von Leitern sozialer Organisationen. Das brutale Vorgehen der Polizeikräfte sowie das Sammeln und Speichern von Informationen über die politischen Organisationen und Einzelpersonen spiegeln die repressive Strategie der „libertären“ Regierung wider, jede Art von Widerstand und Protest im Keim zu ersticken. Die Oppositionsparteien, Menschenrechtsorganisationen und soziale Bewegungen Argentiniens sprechen in diesem Zusammenhang von „politischer Verfolgung“.

Von der „Kettensäge“ sind auch staatliche Universitäten betroffen: Der Etat wurde bei einer Inflationsrate von über 200 Prozent nicht entsprechend angepasst, weshalb ein normaler Ablauf der Lehr- und Forschungstätigkeiten nur noch extrem eingeschränkt gewährleistet werden kann. Viele Universitäten können noch nicht einmal Zahlungen für die extrem gestiegenen Stromkosten aufbringen.

Im Falle des „Mixers“ wiederum handelt es sich um das „Verflüssigen“ von bestimmten staatlichen Ausgaben wie z.B. den Rentenzahlungen oder dem Bildungshaushalt, die aus dem Vorjahr übernommen und nicht an die Inflation angepasst werden. Dazu gehört auch eine Deckelung der Löhne für Arbeitnehmer.

Massive Verarmung und Einbruch der Kaufkraft

Das sorgt für eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung. Stark betroffen sind davon unter anderem die Rentner. Seit dem Amtsantritt Mileis wurden die Löhne bei einem allgemeinen Preisanstieg von 90 Prozent nur um 58 Prozent angepasst.

In Folge der Maßnahmen von Milei kam es zu einem dramatischen Rückgang der Kaufkraft, der in vielen Haushalten dazu führt, dass Familien sich verschulden müssen, nur um Grundnahrungsmittel kaufen zu können. Viele Familien, selbst der bisher für lateinamerikanische Verhältnisse recht umfangreichen Mittelschicht, sehen sich mittlerweile gezwungen, die Anzahl der täglichen Mahlzeiten zu reduzieren.

Laut jüngsten Angaben der renommierten Beobachtungsstelle für die soziale Verschuldung der Katholischen Universität Argentiniens stieg die Armut innerhalb von 90 Tagen, zwischen Ende 2023 und März 2024, so sprunghaft an wie in den letzten zwei Jahrzehnten nicht. Aktuell leben 55,5 Prozent der argentinischen Bevölkerung in Armut. Im Dezember 2023 waren es noch 44,7 Prozent. Ähnlich dramatisch sind die Anstiege auch im Bereich der extremen Armut. Im März 2024 stieg die Zahl der in extremer Armut lebenden Argentinier auf 17,5 Prozent, drei Monate zuvor lag die Zahl noch bei 9,6 Prozent.

Der sozialdarwinistische Zynismus von Milei zeigte sich besonders exemplarisch bei einer Veranstaltung Ende Mai auf einer Veranstaltung an der Universität Stanford. Angesprochen auf die bereits zitierten Zahlen und massiv gestiegene Armut, erklärte der „Anarchokapitalist“:

„Halten Sie die Menschen für so dumm, dass sie nicht in der Lage sind, richtige Entscheidungen zu treffen? Es wird ein Moment kommen, in dem die Leute kurz vor dem Verhungern sind, und dann werden sie schon eine Entscheidung treffen, um nicht zu sterben.“

Eklat zwischen spanischer Regierung und Milei

„Es gibt keinen Präzedenzfall, dass ein Staatsoberhaupt in die Hauptstadt eines anderen Landes kommt, um die Institutionen zu beleidigen. Wir haben in gutem Glauben alle Gastfreundschaft angeboten, die der Präsident der Argentinischen Republik verdient. Dies ist ein einmaliger Fall in der Geschichte der internationalen Beziehungen.“

So die Erklärung des spanischen Außenministers José Manuel Albares, der zudem den argentinischen Präsidenten zu einer „öffentlichen Entschuldigung“ aufrief.

Dieser hatte zuvor den spanischen Ministerpräsidenten als „arrogant“, „totalitär“, „eine unheimliche Person“, „einen Feigling“, „lächerlich“ und „ein Gespött der Welt“ bezeichnet sowie behauptet, Sanchez hätte einen „Minderwertigkeitskomplex“ ihm gegenüber. Die Ehefrau des spanischen Ministerpräsidenten bezeichnete er als „korrupt“.

Diese Ausfälle eines fremden Staatsoberhauptes gegen den Regierungschef eines engen EU-Partners Deutschlands wurden bisher weder vom Auswärtigen Amt noch von Kanzler Scholz verurteilt.

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 17. Juni 2024

Frage Warweg
Frau Deschauer – die Frage geht auch an Herrn Hebestreit -, ich war verwundert, zu sehen, dass von Deutschland, als Milei die Gattin des spanischen Regierungschefs aufs Übelste beschimpft hat, keinerlei Reaktion kam, das in irgendeiner Form zu verurteilen.

Plant die Bundesregierung zumindest bei dem Treffen hier in Deutschland, die Causa aufzugreifen, dass ein fremder Regierungschef, im konkreten Fall Milei, die Gattin des Regierungschefs eines EU-Landes und auch ihn selbst massiv beschimpft, ohne dass es zu irgendwelchen diplomatischen Konsequenzen oder Reaktionen aus Deutschland kommt?

Regierungssprecher Hebestreit
Herr Warweg, ich denke, erst einmal hat der spanische Premierminister die richtigen Worte dazu gefunden. Ich denke, die Worte des argentinischen Präsidenten stehen für sich. Auch wie wir dazu stehen, wie der Bundeskanzler dazu steht, ist klar. Sollte das Thema noch einmal aufkommen, wird der Bundeskanzler ihm sicherlich das Nötige dazu sagen.

Ich denke aber auch, diese Regierung ist nicht dabei, ständig alles, was Zweite über Dritte sagen, zu kommentieren. Von Zeit zu Zeit schon, aber in diesem Fall ist das nicht der Fall. Ich denke, es ist auch so eindeutig und so geschmacklos gewesen, dass man jetzt nichts weiter dazu sagen muss.

Warweg
Die extremen wirtschaftlichen Maßnahmen von Milei führen mittlerweile, schon nach nur wenigen Monaten, zu massivsten sozialen Verwerfungen in der argentinischen Gesellschaft. Wird das in irgendeiner Form thematisch angesprochen werden?

Hebestreit
Ohne den Gesprächen vorgreifen zu wollen, glaube ich, dass man an diesem Thema sicherlich nicht vorbeireden kann. Aber solche Gespräche haben erst einmal auch informatorischen Charakter. Man fragt das jeweilige Gegenüber, wie es die Lage einschätzt, und erfragt eine Situationsschilderung. Gleichzeitig ist für den Bundeskanzler nicht nur der argentinische Präsident eine Informationsquelle, sondern auch die Medien, aus denen wir uns informieren, und auch die Botschaft vor Ort. Insofern hat er und haben wir ein relativ präzises Bild. Dann unterhält man sich in solchen Gesprächen darüber, wie der jeweilige Counterpart das beurteilt und glaubt, fortsetzen zu wollen.

Frage Jung
Habe ich es richtig verstanden, dass es ein Vieraugengespräch zwischen Milei und Scholz sein wird, oder kann es sein, dass Herr Scholz zum Beispiel einen der berühmten Klimawissenschaftler Deutschlands dazu holt, weil Milei als einer der prominentesten globalen Leugner des menschengemachten Klimawandels gilt?

Hebestreit
Auch diesbezüglich würde ich davon ausgehen, dass der Bundeskanzler das Selbstbewusstsein hat, sich zu trauen, diese Information auch ohne wissenschaftlichen Beistand zu vermitteln. Ich kann nicht fest sagen, ob es ein Vieraugengespräch gibt. Normalerweise gibt es Delegationsgespräche. Bei solchen sind in der Regel auf jeder Seite drei bis fünf Beraterinnen und Berater dabei. Aber das kann ich Ihnen erst nach dem Treffen genau sagen.

Zusatzfrage Jung
Eine Pressekonferenz gibt es nicht?

Hebestreit
Ich meine, wir hatten vergangene Woche eine Pressekonferenz angekündigt. Aber ich muss mich noch einmal kundig machen. Auch da wieder: Arbeitsbesuch, relativ viel im Limbo. – Aber ich verstehe das Interesse.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 17.06.2024


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