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Titel: Hokuspokus Klimaschutz! 4,5 Milliarden Euro für kein Gramm weniger Treibhausgas
Datum: 18. Juni 2024 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundesregierung, PR, Umweltpolitik
Verantwortlich: Redaktion
Um ihre Ökobilanz aufzumöbeln, fördern Ölmultis chinesische „Vorzeigeprojekte“ der Sorte Hühnerstall, die sich nicht vorzeigen lassen, weil es sie gar nicht gibt. Auch deutsche Prüfer und Kontrolleure haben sie nicht auf dem Schirm, aber als Phantome der Energiewende erfüllten sie sechs Jahre lang trotzdem ihren Zweck. Jetzt, da die Sache aufgeflogen ist, fühlen sich Behörden und Regierende maximal überrumpelt, aber minimal zur Aufklärung bemüßigt. Den Schaden haben Verbraucher und Autofahrer. Für sie gilt: Tankt weiter teuer euer Gewissen rein. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Falls Sie ein Auto fahren: Haben Sie gewusst, dass Sie beim Tanken Klimaschutzprojekte im fernen Asien fördern? Vom Preis für jeden Liter Benzin oder Diesel, den man in Deutschland verbraucht, gehen ein paar Cent dafür ab, dass weit, weit weg schädliche Klimagase eingespart werden. Das erleichtert nicht nur das Girokonto, sondern auch das Gewissen. Man wäscht sich quasi über die deutsche Grenze hinweg von der täglichen Umweltsünde rein. Wobei: Streng genommen geschieht das nur stellvertretend für die großen Mineralölkonzerne. Denn eigentlich sind die es, die über die sogenannte Treibhausgasminderungsquote (THG-Quote) zu einem ökologisch weniger verheerenden Wirtschaften bewegt werden sollen. Und die Fossilindustriellen sind es auch, die besagte grüne Unternehmungen im Anderswo bezahlen. Nur sind BP, Exxon Mobil oder TotalEnergies so frei, die Kosten an der Zapfsäule direkt an Sie weiterzugeben.
Das mag schon ein wenig ärgerlich erscheinen. So richtig ärgerlich wird es aber erst im Wissen darum, dass es viele, vielleicht sogar so gut wie alle dieser schönen Saubermannprojekte gar nicht gibt. Dass also mit Ihrem Geld alles Mögliche passiert, was sich nur erahnen lässt, nur nicht die verhießene Senkung der CO2-Emissionen. Der schöne Klimaschutz wird also bloß vorgetäuscht, das Kassemachen damit aber nicht. Wie kann das angehen? Antwort: mit reichlich krimineller Energie, einem gut geschmierten Netzwerk an Profiteuren und, wie so oft, mit Aufsehern und Kontrolleuren, die auf beiden Augen blind sind.
Google Maps? Nie gehört!
In diesem Fall gilt das buchstäblich. Um die fraglichen Anlagen mit vermeintlichem Green-Label, von denen sich die allermeisten in China (nicht) befinden, auf ihre Existenz zu checken, genügt es, Google Maps mit den von den Projektträgern bei Beantragung vorzulegenden Geodaten zu füttern. Tatsächlich war dies Medienberichten zufolge überhaupt so ziemlich das Einzige, was es zur Bewilligung durch das Umweltbundesamt (UBA) brauchte. Hätte die Behörde wenigstens diese dürren Infos auf Plausibilität geprüft, gäbe es jetzt keinen Skandal. Den hatte Ende Mai das ZDF-Magazin Frontal ins Rollen gebracht. Vorortrecherchen ergaben, dass mehrere der Projekte frei erfunden, also schlicht nicht dort sind, wo sie sein sollten. Zum Beispiel findet sich an einem „Standort“, für den Deutschlands Autofahrer rund 80 Millionen Euro „Aufbauhilfe“ geleistet haben, ein verlassener Hühnerstall.
Die andere Masche: Vorhandene Anlagen wurden als neu ausgewiesen. Sie standen zum Teil schon sehr lange dort, wo sie planmäßig erst Jahre später aus dem Boden hätten erwachsen sollen. Im April wandte sich ein chinesischer Öl- und Gaskonzern an das von Steffi Lemke (Grünen-Partei) geführte Bundesumweltministerium (BMUV) mit der Ansage, unverschuldet in ein Komplott verstrickt zu sein. Das Unternehmen betreibt nicht weniger als fünf Industrieanlagen, die auf dem Papier als Klimaschutzprojekt firmieren, allerdings wohl ohne Kenntnis des Betreibers. Offenbar haben deutsche Prüfstellen Daten hinter dessen Rücken frisiert, um den Ölförderstellen ein grünes Mäntelchen zu verpassen. Der Appell des Geschäftsmanns: „Wir vermuten, dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass Dokumente gefälscht wurden und wir bitten dringend, dass Ihre Behörde dazu ermittelt.“
Auf Sand gebaut
Was wäre das Neue und Grüne an den Unternehmungen mit der Bezeichnung „Upstream Emission Reductions“, kurz UER, so es sie denn gäbe? Zumeist sollen diese darauf abzielen, den Klimagasausstoß bei der Ölförderung zu reduzieren, indem anfallende Begleitgase nicht mehr abgefackelt, sondern anderweitig genutzt werden. Die Öl- und Gasmultis sind verpflichtet, die von Benzin, Diesel und Heizöl verursachten Treibhausgasemissionen sukzessive zu senken. Die THG-Minderungsquoten legt die Bundesregierung fest. Anfangs waren die Vorgaben noch allein durch Beimischung sogenannter Biokraftstoffe (E5 und E10) zu schaffen, heute nicht mehr. 2024 beträgt der Wert 9,25 Prozent, 2030 werden es 25 Prozent sein.
Dabei gibt es zwei Wege: Entweder zieht ein Unternehmen selbst ein nagelneues UER hoch oder es erwirbt Zertifikate von ausländischen Projektträgern, die eine Klimaschutzinvestition in eine moderne Raffinerie oder Förderanlage belegen. Vom Umweltbundesamt und der Deutschen Emissionshandelsstelle (DEHST) wurden ganze 75 dieser Projekte genehmigt – nahezu alle im Reich der Mitte, obwohl es bloß für fünf Prozent der globalen Ölproduktion steht. Dabei liegen etliche der fraglichen Objekte ausgerechnet in der uigurischen Wüste in der Provinz Xinjiang, die Beijing wegen der prekären Menschenrechtslage maximal nach außen abschottet. Warum hat sich Deutschland für seine Grenzen sprengende Klimaschutzoffensive nicht die Ölhotspots dieser Erde ausgesucht, sondern das schwer überschaubare sowie polit-ökonomisch und kulturell nicht gerade partnerschaftlich verbundene China?
Betrügen und betrügen lassen
Nun ja: Weil sich so offenbar besser betrügen lässt. Laut ZDF-Frontal sind mächtige Fossilkonzerne wie „Shell, Rosneft und OMV“ dabei nicht etwa selbst Opfer, sondern Teil des Komplotts. Stimmte das, hätten die sich nicht arglos falsche Zertifikate andrehen lassen, sondern wären die treibende Kraft hinter den Machenschaften. Das wäre in jeder Hinsicht lohnend. „Manipulierte Reduzierungen durch gefälschte Projekte wie in China sorgen dafür, dass THG-Quoten finanziell günstiger erreicht werden könnten, als durch legal erreichte THG-Quoten“, befand dazu der Autoclub ADAC. Zu fragen wäre in dem Fall auch, wie viel, wie wenig oder ob überhaupt Geld für irgendwelche Zertifikate geflossen ist und nicht stattdessen für die Unterhaltung eines umfassenden „Betrugsgeflechts“, das inzwischen auch UBA-Präsident Dirk Messner ausgemacht hat. Bei einer Anhörung im Umweltausschuss des Bundestags auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion am Mittwoch der Vorwoche nannte er es auffällig, „dass es immer dieselben zwei deutschen Gutachterbüros waren, die sich die fragwürdigen Zertifizierungen stets gegenseitig bestätigten“, gab ihn die Welt (hinter Bezahlschranke) wieder.
Auffällig auch: Messners Behörde hatte schon mindestens seit 2023 durch diverse Hinweise Kenntnis von den Vorgängen. So steht es in einem Behördenbericht, wie am vergangenen Freitag die Berliner Zeitung (hinter Bezahlschranke) schrieb. Die Opposition und Verbände aus dem Bereich Alternativenergien werfen ihm deswegen Tatenlosigkeit vor. Erst vor Kurzem, als die Sache medial Kreise zu ziehen begann, hat die UBA reagiert und Anzeige gegen unbekannt bei der Berliner Staatsanwaltschaft eingereicht. Und die UBA ist nach eigener Darstellung seit Monaten damit befasst, unter Einbeziehung der zuständigen chinesischen Stellen die Verdachtsfälle zu prüfen, wovon es Messner zufolge allein 36 geben soll.
„Da stimmt die Chemie“
Die Mühlen mahlen extrem langsam. Seit Beginn der Untersuchungen im September habe man von 60 UER-Projekten zwei rückabgewickelt und zwei, die sich noch in der Antragsphase befanden, gestoppt, teilte der UBA-Chef mit. In zehn Fällen gäbe es nach Prüfung von Satellitenbildern große Zweifel an deren Existenz, bei anderen seien fehlerhafte Angaben wahrscheinlich. Die Option, auf einen Schlag alle Projekte zu annullieren, kommt für ihn trotzdem nicht in Frage – weil dies ein „erhebliches wirtschaftliches Prozessrisiko“ für das UBA bedeute und mögliche „Schadenersatzforderungen“ durch Projektträger provozieren könnte, heißt es.
Das klingt absurd. Nach allem, was bisher zum Thema publik geworden ist, muss man für die Projekte in China annehmen, dass sie allesamt ein Fake sind, weil sie eindeutige Züge einer konzertierten Aktion tragen und sämtlich in die Verantwortung zweier Prüfinstitute fallen. Das sind die Verico SCE mit Sitz im bayerischen Langenbach und die Müller BBM Cert GmbH im nordrhein-westfälischen Kerpen. Verico hat 41 UER in China geprüft mit einem Marktwert von über einer Milliarde Euro, Müller BBM 38 Stück, wobei sich beide Unternehmen quasi die Bälle immer wieder zuspielten. Frontal ließ einen Insider zu Wort kommen. „Es gibt ein Monopol. Etwa 70 Prozent der chinesischen Projekte kommen aus einer Quelle. Auf der anderen Seite validieren und verifizieren zwei Auditoren von Müller BBM Cert und Verico SCE abwechselnd fast alle diese Projekte. Da stimmt die Chemie.“
Keiner wusste von nix!?
Zu fragen ist bei dieser Ausgangssituation: Wer muss hier ein „Prozessrisiko“ und „Schadensersatzforderungen“ fürchten? Doch kaum die Bundesbehörde und das ihr überstellte Bundesumweltministerium, die diese gemäß Beweislage offensichtlich kriminellen Geschäfte aufklären und eindämmen wollen. Aber wollen sie das überhaupt, und wie tief stecken sie womöglich selbst im Schlamassel? Noch einmal: Jeder Hans und Franz hätte schon 2018, als die UER-Zertifikate auf den Markt kamen, den Bluff per Internetrecherche aufdecken können. Und dann hatte erst im zurückliegenden Jahr eine Affäre um falsch etikettierte Biodieselimporte aus China für Schlagzeilen gesorgt. Hätten die Aufseher und die Bundesregierung nicht spätestens dann Augen und Ohren aufsperren müssen, damit sich so etwas nicht wiederholt?
Aber man blieb lieber naiv und dumm und ließ die fällige Arbeit andere machen. Deutsche Bioenergiefirmen gehen nach Einschaltung von Detekteien in China davon aus, dass dringender Betrugsverdacht in 62 von 75 Fällen gegeben ist. In zwölf weiteren Fällen sei die Datenlage noch unklar. Man habe unter allen genehmigten Projekten, die auf die deutsche THG-Quote angerechnet worden seien, „nur ein einziges gefunden, das unverdächtig ist“ und das sich nicht in China, sondern im Oman befinde, äußerte Sandra Rostek, Leiterin des Hauptstadtbüros Bioenergie, eines Bündnisses aus vier Verbänden. Sie sieht an erster Stelle das BMUV unter der Grünen-Führung in der Pflicht, „rasch zu handeln und den Spuk zu beenden“. Dafür müssten gefälschte Projekte, die bereits im Umlauf sind, kurzfristig gestoppt werden, sagte sie der Berliner Zeitung. Aber sie sagte auch: „Hinweisgeber aus der Branche wurden von den Behörden abgewimmelt – noch vor wenigen Wochen wurden offenkundig gefälschte Projekte durchgewunken.“
Verschmutzen wieder en vogue
Der Eklat kommt für die Ampel zur Unzeit. Deren ohnehin stark umstrittene Klimapolitik – Wärmegesetz, Frackinggas, LNG-Terminals, Bahn-Debakel – könnte mit dem neuerlichen Aussetzer vollends in Verruf geraten. Man muss sich die Dimensionen klarmachen: Im Raum steht eine Schadenssumme von 4,5 Milliarden Euro, die hiesige Verbraucher für womöglich nichts und wieder nichts, also nicht ein Gramm weniger CO2, den Ölmultis in den Rachen geworfen haben. „Um den Beitrag zum Klimaschutz anderweitig zu erreichen, müsste man 3,8 Millionen Pkw aus dem Verkehr ziehen“, glaubt Rostek.
Der Bundesverband THG-Quote machte auf einen weiteren Punkt aufmerksam. Demnach ist es aufgrund der Fakeprojekte in Fernost zu einem „immensen Preissturz“ bei den alternativen Kompensationsinstrumenten gekommen, etwa der Produktion von Biokraftstoffen. Überdies würden Halter von Elektroautos mit geringeren CO2-Prämien abgestraft, moniert der Verband. Tatsächlich dürfen die das von ihnen eingesparte CO2 „weiterverkaufen“, wie der Autoclub ADAC hier erläutert. Anfangs ließen sich damit pro Jahr 400 Euro gutmachen, heute sind es unter 100 Euro. Ursache sind die China-Mauscheleien, sprich falsch deklarierte Biodieselimporte und die falschen UER-Projekte. Diese „heiße Luft“ habe den Kurs für die THG-Quote um 75 Prozent abstürzen lassen. Das hemmt den Ausbau der Elektromobilität, der Klimaschutz leidet, weil Umweltfreundlichkeit noch teurer wird, und Experten warnen deshalb: „Verschmutzen lohnt sich wieder.“
Nächstes Thema, bitte …
Im grünen Umwelt- und Wirtschaftsministerium dürfte man bei der Nachrichtenlage nichts zu lachen haben. Wollte man „rückhaltlose Aufklärung“, müsste man sich letztlich wohl auch mit den mächtigen Ölmultis anlegen und Milliardensummen vor Gericht zurückklagen. Lieber zeigt man mit dem Finger auf andere Buhmänner. Bei der Bewilligung verlasse sich das UBA auf Zertifizierer vor Ort, bemerkte Messner im Bundestag. Damit das System funktioniere, müssten diese „zuverlässig und seriös“ arbeiten – ganz so wie deutsche Behördenbürohengste und Ministeriumsvorsteherinnen. BMUV-Frontfrau Lemke hat jedenfalls, Simsalabim, eine Lösung aus dem Hut gezaubert. Die Möglichkeit, UER-Zertifikate auf die THG-Quote anzurechnen, solle Ende des Jahres auslaufen. Damit wäre zwei Jahre früher Schluss als geplant. Und jetzt bitteschön zum nächsten Thema …
Titelbild: Romolo Tavani/shutterstock.com
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