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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Jürgen Habermas sieht die EU in einer Lähmungsstarre.
Datum: 29. März 2006 um 15:24 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Europäische Union, Globalisierung
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
In einer wenig beachteten Rede anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch 2005 äußerte sich der Philosoph und Sozialwissenschaftler äußerst besorgt über den Zustand und die Entwicklung der Europäischen Union: „Wenn es nicht gelingt, bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009 die polarisierende Frage nach der Finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung zum Gegenstand eines europaweiten Referendums zu machen, ist die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden.“ Es ist schon denkwürdig, dass das Scheitern des EU-Verfassungsvertrages bei uns keine intensive Debatte um den weiteren politischen Einigungsprozess ausgelöst hat. Das dürfte auch daran liegen, dass eine mächtige Wirtschaftslobby an einem politisch gestaltenden Europa gar nicht interessiert ist, weil sie mit der wirtschaftsliberalen Lissabon-Strategie ihre Interessen im Sinne der neoliberalen Orthodoxie gegenüber den einzelnen Nationalstaaten viel reibungsloser politisch durchzusetzen vermag. Da der Alarmruf von Jürgen Habermas weitgehend ungehört blieb, wollen wir diese Passage aus seiner Rede dokumentieren.
Die Zukunft Europas
Von Jürgen Habermas
Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft Europas nämlich, finden andere abstrakt und langweilig. Warum sollen wir uns über ein so blasses Thema aufregen? Meine Antwort ist einfach: Wenn es nicht gelingt, bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009 die polarisierende Frage nach der Finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung zum Gegenstand eines europaweiten Referendums zu machen, ist die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden. Wenn wir um eines faulen Friedens willen das heikle Thema vermeiden und uns auf dem üblichen Kompromisswege weiter durchwursteln, lassen wir der Dynamik der entfesselten Märkte freien Lauf und sehen zu, wie sogar die bestehende politische Gestaltungsmacht der Europäischen Union zugunsten einer diffus erweiterten europäischen Freihandelszone abgewickelt wird. Im europäischen Einigungsprozess stehen wir zum ersten Mal vor der Gefahr eines Rückfalls hinter den erreichten Stand der Integration. Was mich aufregt, ist die Lähmungsstarre nach dem Scheitern der beiden Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden. Eine Nicht-Entscheidung in dieser Situation ist eine Entscheidung von großer Tragweite. Über dieses Thema hätte ich in dem Land, das heute den Vorsitzenden des Europäischen Rates stellt, gerne gesprochen, wenn ich nicht die Einladung zur Reflexion auf die Rolle des Intellektuellen erhalten hätte. Zu guter letzt führt mich aber, wie Sie sehen, das eine doch noch zum anderen.
Drei Probleme, die uns auf den Nägeln brennen, verknoten sich in dem einzigen Problem der fehlenden Handlungsfähigkeit der Europäischen Union:
Mit diesen Stichworten weiß ich mich in Übereinstimmung mit dem belgischen Ministerpräsident Guy Verhofstadt, der soeben ein Manifest zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ veröffentlicht hat. An diesem Beispiel sehen Sie, meine Damen und Herren, dass Politiker, die die Nase vorn haben, Intellektuelle ins Schlepptau nehmen können.
Quelle: Renner Institut [PDF – 44 KB]
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