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Titel: Blutbad im Flüchtlingslager Nuseirat

Datum: 13. Juni 2024 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Für die Freiheit von vier israelischen Geiseln tötet die israelische Armee 274 Palästinenser. Mit einer Kommandooperation im palästinensischen Flüchtlingslager Nuseirat im Gazastreifen haben israelische Spezialkräfte am vergangenen Samstag (8. Juni 2024) vier israelische Geiseln befreit. US-amerikanische und britische Geheimdienste haben die israelischen Spezialkräfte unterstützt. Der Einsatz fand am Vormittag unweit eines belebten Marktes statt. Palästinensischen Angaben zufolge wurden 274 Menschen getötet. 800 Menschen wurden verletzt. Von Karin Leukefeld (Aleppo).

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Um den Vormarsch der Spezialkräfte zu unterstützen, bombardierte die israelische Armee zeitgleich aus der Luft, vom Meer und mit Artillerie in die Menschenmenge auf dem Markt und in umliegenden Straßen. Israelischen Angaben zufolge waren neben einer unklaren Zahl von Spezialkräften auch Kampfjets, Drohnen, Quadcopter, Panzer der 7. Brigade und Fallschirmjäger beteiligt. Die Spezialkräfte nutzten das durch den massiven Angriff ausgelöste Chaos unter den Menschen, um mit den vier Befreiten in einem zivilen Fahrzeug, mit dem sie auch gekommen waren, zu entkommen. Dabei mussten sie sich israelischen Angaben zufolge den Weg freischießen. Bewaffnete palästinensische Kräfte hatten die befreiten Geiseln in dem Fahrzeug erkannt und versuchten, es zu stoppen. Die Befreiten wurden zu einem am Mittelmeerstrand wartenden Militärhubschrauber gebracht und ausgeflogen. Videoaufnahmen darüber wurden von dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera veröffentlicht.

Operation „Zamora“

Bei den israelischen Spezialkräften handelte es sich um Angehörige der Antiterroreinheit Yamam, die Operation wurde israelischen Angaben zufolge vom Inlandsgeheimdienst Shin Bet geleitet. Der Einsatzleiter der Operation, Arnon Zamora, wurde bei dem Einsatz schwer verletzt und starb später im Krankenhaus. Die Operation soll nach Zamora benannt werden.

Die israelischen Nationalen Nachrichten berichteten ausführlich über die „heldenhafte Rettungsoperation“. Demnach seien die Spezialkräfte mit zivilen Lieferwagen in das Flüchtlingslager gefahren und hätten die zuvor identifizierten Aufenthaltsorte der Geiseln „innerhalb weniger Minuten“ erreicht. Es sei „am helllichten Tage“ gewesen, als das Feuer eröffnet und die Geiseln befreit worden seien. Diese seien in unmittelbarer Nähe in zwei Wohnhäusern untergebracht gewesen und schwer bewacht worden.

Das Internetportal Axios berichtete unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten Vertreter der US-Administration, dass eine besondere US-Einheit zur Geiselbefreiung, eine sogenannte „Geisel-Zelle“, eine zentrale Rolle bei der Befreiungsaktion gespielt habe. Das Internetportal Politico schrieb, dass neben den USA auch der britische Geheimdienst an der Planung und Durchführung beteiligt gewesen sei.

Augenzeugenberichten zufolge sollen die Spezialkommandos zivile Lastwagen zum Transport von humanitären Hilfsgütern benutzt haben. Über soziale Medien wurden zahlreiche Aufnahmen verbreitet, die den Einsatz von zivilen Fahrzeugen bestätigten. Augenzeugen berichteten von einem Lieferwagen, der Möbel geladen hatte, aus dem die vermummten, schwarz gekleideten Spezialkräfte gesprungen seien. Der Sprecher der israelischen Streitkräfte wies die Aussagen zurück: „Die Spezialkräfte sind weder mit Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern nach Gaza gekommen, noch haben sie den von den USA gebauten „humanitären Pier“ benutzt, sagte IDF-Sprecher Daniel Hagari. Der Vorsitzende der US-Organisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, forderte im Nachrichtensender Al Jazeera eine Untersuchung, ob humanitäre Lieferfahrzeuge benutzt worden seien. Humanitäre Embleme, Einrichtungen und Fahrzeuge unterliegen dem Schutz des humanitären Völkerrechts.

Israel ignoriert dieses Recht nachweislich. Ende Januar 2024 war ein israelisches Spezialkommando, verkleidet als eine Frau und Krankenpfleger, in ein Krankenhaus im Westjordanland eingedrungen und hatte vier Palästinenser, die dort behandelt wurden, getötet. Der hinterhältige Vorgang blieb ohne Folgen für Israel.

Tod und Verwüstung

Der Markt im Nuseirat Flüchtlingslager war Augenzeugenberichten zufolge von Leichen und schwer Verletzten übersät. Zahlreiche Fotos von Nachrichtenagenturen zeigen eine Spur der Verwüstung. Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörden zufolge stieg die Zahl der Toten bis Montag auf 274 Menschen, unter den Toten wurden 64 Kinder gezählt, 57 Frauen und 37 ältere Menschen. Die Hamas teilte mit, dass auch drei Geiseln getötet wurden, darunter ein US-Bürger. Die Zahl der Verletzten stieg auf 798.

Das Al-Aqsa-Krankenhaus im benachbarten Deir al-Baleh, zu dem die Verletzten und Toten gebracht wurden, sei völlig überfordert gewesen, hieß es in palästinensischen Medienberichten. Ärzte beschrieben, die Klinik sei wie eine einzige Notfallstation. Samuel Johann von Ärzte ohne Grenzen, die die Klinik leiten, sprach von einem „Albtraum“. Es habe Massen von Opfern gegeben, die selbst ein funktionierendes Krankenhaus nicht hätte versorgen können. In Filmaufnahmen sind Mediziner zu sehen, die zwischen den dicht an dicht am Boden liegenden Verletzten stehen und versuchen zu helfen.

Hind Khoudary, Journalistin von Al Jazeera, berichtete aus dem Krankenhaus, dass die Menschen nicht wüssten, wo sie Sicherheit fänden. Die israelischen Luftangriffe hielten weiter an und behinderten die Rettungssanitäter, die Opfer zu bergen. „Menschen weinen, Kinder weinen, Mütter suchen ihre Kinder.“

Reaktionen

Israels Armee-Sprecher Daniel Hagari sprach am Samstagabend von weniger als 100 Todesopfern. Er wisse nicht, „wie viele davon Terroristen sind“. In Israel feierten Menschen die Befreiung der Geiseln. Gleichzeitig gingen in Tel Aviv erneut Zehntausende auf die Straßen und forderten einen Waffenstillstand und Verhandlungen zur Freilassung der restlichen Geiseln.

Während US-Präsident Joe Biden und der französische Präsident Emmanuel Macron die Befreiungsaktion im Rahmen eines Treffens zur Erinnerung an die Landung der US-Armee in der Normandie (6. Juni 1944), dem „D-Day“, in Paris begrüßten, wurde das blutige Vorgehen der israelischen Armee international verurteilt.

Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, sagte, die Freilassung der Geiseln dürfe nicht mit dem Leben von mehr als 200 Palästinensern bezahlt werden. Die ausländischen Soldaten hätten sich „hinterhältig in einem Lastwagen mit Hilfsgütern versteckt“. Alle israelischen Geiseln hätten „schon vor acht Monaten durch einen Waffenstillstand und Gefangenenaustausch“ freigelassen werden können, so Albanese. Die Tatsache, dass Israel weiter Palästinenser töte und sich weigere, einer Verhandlungslösung zuzustimmen, mache deutlich, dass Israel seine „genozidale Absicht in die Tat umsetze“.

Israelische Regierung in Unordnung

Benny Gantz, Minister im Kriegskabinett von Netanyahu, hat am Sonntag vor Journalisten seinen Rücktritt und den Rücktritt seiner Partei aus dem Kriegskabinett erklärt. Als Grund nannte Gantz die Weigerung von Netanyahu, einen Plan für den Gazastreifen nach Ende des Krieges vorzulegen. Gantz forderte Neuwahlen und warf Netanyahu vor, Israel daran zu hindern, „einen wirklichen Sieg“ zu erreichen.

Mitte Mai hatte Gantz einen Sechs-Punkte-Plan vorgelegt, mit dem die Nachkriegszeit in Gaza organisiert werden solle. Dem Plan zufolge sollten die israelischen Gefangenen in Gaza freigelassen werden, der Küstenstreifen sollte entmilitarisiert werden, und eine internationale Koalition, bestehend aus „Amerikanern, Europäern, Arabern und palästinensischen Elementen“, sollte den Gazastreifen verwalten. Weder die Hamas noch die palästinensische Autonomiebehörde sollten dabei eine Rolle spielen. Der militärische Flügel der Hamas – die Kassam-Brigaden – müsste komplett zerstört werden. Wie Netanyahu forderte auch Gantz einen „totalen Sieg“.

Der Rücktritt des ehemaligen Generals und Vorsitzenden der israelischen Partei der Nationalen Einheit wird sich nicht auf die Arbeit der Netanyahu-Regierung auswirken, die weiterhin von rechten und rechtsextremen Kräften dominiert wird. Deren Ziel ist die vollständige Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen ebenso wie aus dem Westjordanland und die erneute Besiedlung des Gazastreifens durch Israel.

Blinken auf Tour

US-Außenminister Antony Blinken traf am Montag (10. Juni 2024) zum achten Mal seit Beginn des Gaza-Krieges vor acht Monaten im Mittleren Osten ein. Er führte Gespräche in Ägypten, Israel, Jordanien und Katar. Auf den jeweiligen Flughäfen nutzte Blinken die Gelegenheit, „begleitende“ Journalisten mit Informationshappen zu füttern und sich mit Angehörigen von Geiseln fotografieren zu lassen.

Blinken will Unterstützung für den von US-Präsident Biden vorgelegten Waffenstillstandsplan, den die USA am Montag (10. Juni 2024, New Yorker Ortszeit) im UN-Sicherheitsrat zur Abstimmung vorlegte. Die Resolution wurde von 14 der 15 Sicherheitsratsmitglieder angenommen, Russland enthielt sich. In den Reihen der UN-Sicherheitsratsmitglieder nimmt Kritik an den USA zu, die den Verhandlungsprozess dominieren wollten.

Israel soll nach US-Darstellung den Waffenstillstandsplan selbst entworfen und ihm zugestimmt haben, so die Darstellung des Weißen Hauses. Die Hamas solle sich noch nicht geäußert haben. Allerdings gibt es um die US-Darstellung widersprüchliche Informationen. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu soll Teile des Plans dementiert haben. Die Hamas erklärte, ihr lägen lediglich Medienberichte vor, nicht aber der Text eines Vereinbarungsentwurfs. Man sei zu jeder Lösung bereit, die einen Waffenstillstand, Hilfe für die Bevölkerung und den Abzug der israelischen Truppen aus Gaza beinhalte, hieß es. Die Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution am Montag wurde von dem Vorsitzenden des Politbüros der Hamas, Ismail Haniye, begrüßt.

Bisher hat Israel drei UN-Sicherheitsratsresolutionen mit der Aufforderung zu einem sofortigen Waffenstillstand ignoriert. Acht weitere Resolutionsentwürfe wurden von den USA blockiert. Auch Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (Den Haag), den Krieg zu stoppen, werden von Israel missachtet. Die Vereinten Nationen haben Israel auf die Liste der Länder gesetzt, die die Rechte von Kindern verletzen.

Den UN-Organisationen, die im Gazastreifen versuchen, den Menschen zu helfen, bleibt wenig mehr, als die Liste der Verwüstung fortzuschreiben, mit denen die israelische Armee den Gazastreifen terrorisiert. Im UNRWA-Situationsbericht 113 (6. bis 9. Juni 2024) heißt es:

„Die Angriffe der israelischen Streitkräfte gehen weiter, es gibt Luftangriffe, Bodenangriffe und Bombardierung vom Meer entlang des gesamten Gazastreifens. Es gibt zivile Opfer und Vertreibung. Wohnhäuser sowie zivile Infrastruktur werden zerstört.

1,7 Millionen Menschen sind derzeit vertrieben, mehr als sieben von zehn Bewohner des Gazastreifens. Familien, die bereits mehrfach vertrieben wurden, sind wieder unterwegs wegen israelischer Militäroperationen und Anordnungen, Gebiete zu verlassen.

Am 9. Juli haben fast alle intern vertriebenen Personen (IDP) Rafah verlassen, nur ca. 100.000 sind geblieben. Die UNWRA wurde gezwungen, die Unterkünfte in Rafah zu leeren.

Am 6. Juni wurde eine UNRWA-Schule im Nuseirat Flüchtlingslager, in der rund 6.000 Menschen Zuflucht gesucht hatten, bombardiert. 40 Menschen wurden getötet, darunter 14 Kinder und neun Frauen. 74 weitere Personen wurden verletzt. Man geht davon aus, dass sich unter den Trümmern weitere Opfer befinden. […]

Von 17 koordinierten humanitären Unterstützungsmissionen im nördlichen Gazastreifen wurden zwischen dem 1. und 6. Juni acht von israelischen Behörden durchgeführt (47 Prozent), drei Missionen wurde der Zugang verweigert (18 Prozent), vier wurden verhindert (23 Prozent) und zwei wurden aus Sicherheitsgründen abgesagt (12 Prozent).“

Die Zahl der getöteten UNRWA-Mitarbeiter lag am 9. Juni bei 193. Die Zahl der getöteten Palästinenser liegt (am 9. Juni) bei 37.084, die Zahl der Verletzten wird mit 84.494 angegeben. (Quelle: Reliefweb)

Titelbild: UNRWA


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